„In Wahrheit heißt ‚etwas wollen‘ ein Experiment machen, um zu erfahren, was wir können.“
(Friedrich Nietzsche)
September 2020
Das derzeit einzige Bundesland der Republik ohne jeden Michelin-Stern ist Bremen: wer hier also gehoben speisen möchte, sollte auch einen Blick in die anderen gängigen Gastro-Guides werfen, wenn er auf eine ansprechende Adresse hofft. Nach kurzer Recherche sollte es dann das uns bis dato völlig unbekannte „Das Kleine Lokal“ sein, das in der Vorstadt liegt und wegen der vielen Wohnbauten so gut wie keine Parkmöglichkeiten vor der Haustür bietet. Auch das Lokal selbst ist völlig unscheinbar im Eck eines ganz normal anmutenden Hauses untergebracht und von außen praktisch nicht als Lokal der gehobenen Art zu identifizieren. Umso erstaunter nehmen wir zur Kenntnis, dass hier angeblich auch noch sehr experimentierfreudig zu Werke gegangen wird.
Chefkoch Stefan Ladenberger unterhält hier mit einer kleinen Küchencrew und Servicetruppe ein Etablissement, das vom Michelin mit „Assiette“ ausgezeichnet ist und damit quasi auf der Vorstufe zum Michelin-Stern steht. Der Gault&Millau vergibt 2020 immerhin auch 15 Punkte – im Vorjahr war es sogar noch einer mehr. Kein Wunder, dass wir auf unsere eigenen Eindrücke recht gespannt waren – und die Ruhe genießen wollten, nachdem eine kurze Stippvisite in der Altstadt zuvor in einem Wolkenbruch sondersgleichen endete und wir noch etwas durchnässt eintrafen.
Drei Stufen führen leicht nach unten in ein mehr oder weniger austauschbares Ambiente, bei dem zumindest der kleine Barbereich innen ein wenig an ein gehobenes Pub erinnert. Mit der Ruhe, die wir uns erhofft hatten, sollte es auch recht schnell vorbei sein – dazu später gleich noch mehr. In Corona-Zeiten bietet man hier jedenfalls zwei Menüs zu je fünf Gängen an – wir gehen davon aus, dass es normalerweise mehr sind, denn in diesen merkwürdigen Zeiten werden die Tische an einem Abend zweimal eingedeckt: um 18 Uhr und 20.30 Uhr. Wir hoffen, dass diese sonderbare Praxis die gebotenen Leistungen nicht einschränkt und legen uns fest auf jeweils eines der beiden Menüs, wobei meine Begleitung von meiner Wahl abweicht. Was ich hier beschreibe, sind also in erster Linie meine Impressionen, doch unser Schlussfazit fiel trotz unterschiedlicher Menüfolgen sehr ähnlich aus. Ach ja: die ersten leisen Vorahnungen beschleichen uns schon, als der Tisch mit zwei Papierdecken eingedeckt wurde – wegen Corona?!
Zu einem mit Tonic Water aufgegossenen Himbeerextrakt serviert man auf einem Löffel Krabben, Gurke und Rettich, während sich dahinter Polenta und Apfel verstecken. Das schmeckt in etwa so aufregend wie es aussieht – ein pflichtgemäßer Einstieg ohne Esprit oder Überraschungen, der uns in keinster Weise vom Hocker reißt: die Zusammenstellung auf dem Löffel wirkt recht beliebig, auch nicht sonderlich kunstvoll veredelt und damit folglich ohne Ausdruckskraft.
Zu einem ähnlichen Urteil gelangen wir auch bei dem Amuse, das Burrata, Pfifferlingsmousse, Erbsen und Hagebutte miteinander kombiniert – oder sollte ich besser „lose anordnet“ sagen? Wir erkennen keinen sinnstiftenden Zusammenhang in diesem befremdlichen und erschreckend zusammenhangslosen Sammelsurium von Beliebigkeiten. Eine besondere Harmonie, ansprechende Optik oder überraschende Texturen, Techniken und Konsistenzen können wir beim besten Willen nicht ausmachen, zumal auch die Produktqualität nicht wirklich einer separaten Erwähnung bedarf. Die Brotauswahl mit drei Scheiben Baguette und einem Kräuteraufstrich ist banal, nicht mal ein Foto wert und ebenfalls schnell vergessen.
Nach diesem doch äußerst verhaltenen Einstieg kann es eigentlich nur besser werden. Darauf hoffe ich jedenfalls und bekomme im ersten Gang Kabeljau mit grünem Spargel, Sommertrüffel und Blumenkohl vorgesetzt. Zumindest stimmt mich dieser Gang dank soliden Handwerks kurzzeitig etwas versöhnlich, doch mehr als ein recht gewöhnliches und nicht gerade komplexes Gericht ist dabei nicht herausgesprungen. Die leicht überdurchschnittlichen, aber keinesfalls überragenden Produkte sind so belassen, dass die Beschreibung durch den Service entsprechend spartanisch ausfällt. In Summe ist dies jedenfalls besser als die Einstiege, aber durch die absolut grenzwertige Präsentation wird auch dieser Eindruck leider schon wieder deutlich relativiert. (Anmerkung: das Bild zeigt das Gericht vor dem Verzehr, nicht währenddessen …)
Das Pärchen am Nebentisch, das einige Zeit vor uns eingetroffen zu sein scheint, nervt auch immer mehr, weil der Mann ständig in unüberhörbarer Lautstärke praktisch jeden Gang und Wein ständig mit der kreativen Formulierung „sehr, sehr lecker“ oder auch wahlweise „richtig lecker“ dem Service gegenüber kommentiert – im Laufe des Abends läppert es sich zu etwa einem Dutzend Mal zusammen. Neben der Armut an Eloquenz fehlt es diesem Gast vermutlich auch an Erfahrung in besser bewerteten Lokalen, denn ich frage mich schon, was dieser Mann wohl vorgesetzt bekommen haben mag, das ihn zu derartigen Elogen veranlasst. Es waren weitgehend dieselben Gerichte wie meine auf dem Teller, doch einen Anlass für solche Lobhudelei gab es angesichts der höchst mittelmäßigen Eindrücke bisher wahrlich keinen.
Ich ergreife kurzzeitig die Flucht in die drangvoll enge Toilette und genieße die wohltuende Stille. Bei meiner Rückkehr sehe ich den nächsten Gang schon an meinem Platz (auch nicht gerade souverän vom Service …) und finde gerösteten Pulpo mit Spinatcoulis, Bohnenkernen und eingelegtem Fenchel vor. Die Qualität des Pulpos überzeugt, seine übermäßige Schärfe dagegen eher weniger. Die Begleiter erweisen sich ebenfalls als recht dominant, doch aufgrund eines gewissen Mangels an Einfallsreichtum gerät das Ganze doch recht plakativ. Dennoch hätte das ein weitaus besseres Gericht werden können, wenn nicht die ausgesprochen grobe Schnitte des Fenchels alles mit ihrer Penetranz erschlagen hätte. Das viel zu primitiv und massig eingesetzte Gemüse bedurfte für meine Begriffe definitiv einer subtileren Verarbeitung als der hier vorliegenden, um eine gewinnbringende Wirkung zu erzielen. So hingegen kleistert der Fenchel weite Teile des Gerichts unvorteilhaft zu und wirft den Gang fast aus der Bahn – durchdacht wirkt das auf mich jedenfalls nicht.
Süßkartoffeln mit Schafskäse und Pak Choi als vegetarischer Einschub erweist sich als ein recht simpel konstruierter Teller, bei dem die Proportionen etwas vorteilhafter hätten ausgelotet werden können. DIe Eindrücke wiederholen sich allmählich: uns fehlt (auch im anderen Menü) bislang eine zündende Idee, eine überragende Produktqualität oder ein Maß an Leidenschaft, das sich auf den Gast überträgt. Der Funke will jedoch nicht überspringen, denn außer dem abermals soliden Handwerk fehlt es diesem Teller erheblich an Klasse, Geschmackstiefe oder ganz einfach an Inspiration, um uns zu begeistern.
Noch besteht allerdings Hoffnung, denn zu unserem Hauptgericht hat die Nervensäge vom Nebentisch endlich die Heimreise angetreten – der Geräuschpegel nimmt sogleich signifikant ab. Tatsächlich erweist sich Marensin-Huhn mit marinierten Karotten und Schmorzwiebel-Caramelle als der Höhepunkt des Abends – eine Aussage, die allerdings in einen relativierenden Kontext gestellt gehört. Die insgesamt stimmigste Kombination an Begleitern, der bislang intensivste Geschmack und eine halbwegs originelle Präsentation lassen mich zu diesem Urteil gelangen, das allerdings in einem Sterne-Restaurant eine Erwartungshaltung an grundsätzlich jeden Teller darstellen würde. Zumindest sind die verschiedenen Karottensorten aromatisch gut in Szene gesetzt und die Stücke vom Hühnerfleisch teils in Teigtaschen versteckt. Weit weg von denkwürdig, aber im Laufe des Abends habe ich mich mit der neuen Bescheidenheit bei der Erwartungshaltung längst angefreundet – anders könnte ich dies auch kaum als echten „Höhepunkt“ bezeichnen.
Machen wir es kurz: die insgesamt vorherrschende Enttäuschung an diesem Abend lässt mich das Dessert, bestehend aus Clafoutis mit Zwetschgen und Haselnusseis, nahezu gedankenlos verzehren. Eher aus Pflichtgefühl denn aus Begeisterung nehme ich eher beiläufig zur Kenntnis, dass dieser Gang zum zweitbesten des Abends nach dem Hauptgericht gerät, aber insgesamt das vorherrschende Niveau an diesem Abend bestätigt. Petits fours gibt es keine, doch am Ende dieses drei Stunden langen Abends voller Enttäuschungen und Mittelmaß empfinden wir dies fast sogar schon als Belohnung.
Die restlichen Begleitumstände sind ebenfalls schnell erzählt: der Service spult ein unpersönliches und routiniertes Pensum ohne jeden Erinnerungswert ab und erweist sich bei Nachfragen zu den Gerichten auch nicht immer als sattelfest. Die Nebenkosten bewegen sich auf durchschnittlichem Niveau, doch der Menüpreis von € 83 für fünf Gänge scheint uns für diese matte Darbietung als absolut überhöht.
Der Bericht sollte bereits in genügendem Maße verdeutlicht haben, dass uns die Küchenleistung nachhaltig enttäuschte und unsere (keineswegs übertriebenen) Erwartungen – 15 Punkte im G&M sind nun mal kein überragendes Urteil – praktisch zu keinem Zeitpunkt erfüllt wurden. Recht vielsagend gerät auch der Umstand, dass ein Mitarbeiter noch bei Anwesenheit der letzten Gäste das Lokal durch den Haupteingang verlässt und nach Hause geht – das haben wir in dieser Form so auch noch nicht erlebt. Allerdings zementiert dies unser Gefühl abermals, dass hier zumindest in Corona-Zeiten ein mehr oder weniger liebloses Pflichtprogramm mit zwei Tischbelegungen pro Abend das Lokal irgendwie vor dem Aus bewahren soll. Gemessen an dem Pärchen am Nebentisch hat die Küche ja offensichtlich auch alles richtig gemacht – ein Eindruck, den wir unter keinen Umständen teilen würden. Ergo war dies unser erster und letzter Besuch hier, denn dass Bremen zu diesen Preisen nichts Besseres als diese unterdurchschnittliche Performance zu bieten haben soll, fällt uns schwer zu glauben. Gerne wären wir auch zu einem anderen Urteil gelangt, denn die Fotos der Gerichte auf der Homepage des Lokals lassen uns im Prinzip daran glauben, dass es hier auch besser geht. An diesem Abend fehlte es jedoch schlicht zu häufig an Substanz, um all das mit vermeintlicher Experimentierfreude rechtfertigen zu können.
Fazit: der Michelin-Stern ist gemessen an dieser Darbietung noch in weiter Ferne. Es mangelt derzeit an zu vielem hier als dass sich hier ein erneuter Besuch lohnen würde. Da hat uns in gewisser Weise sogar noch der vielbesuchte Ratskeller im Herzen der Altstadt in Summe besser zugesagt, da unsere (zugegebenermaßen niedrigeren) Erwartungen dort deutlich übertroffen wurden. Ein Gutes hatte der ganze Abend im „Kleinen Lokal“ dann doch noch: wann immer wir seither auf ein mittelmäßiges Essen getroffen sind, kommen wir reflexartig nicht umhin, es neuerdings mit „sehr, sehr lecker“ oder „richtig lecker“ spöttisch zu kommentieren. Diese Episode hat sich dann doch noch in unser Gedächtnis gebrannt …
Mein Gesamturteil: 13 von 20 Punkten
Das Kleine Lokal
Besselstraße 40
28203 Bremen
Tel.: 0421/7949084
www.das-kleine-lokal.de
Guide Michelin 2020: –
Gault&Millau 2020: 15 Punkte
GUSTO 2020: 6 Pfannen mit Bonuspfeil
FEINSCHMECKER 2020: –
5-gängiges Menü: € 83