„Vegetarismus gilt als Kriterium, an welchem wir erkennen können, ob das Streben des Menschen nach moralischer Vollkommenheit echt und ernst gemeint ist.“ (Leo Tolstoi)
UPDATE (Juli 2023)
Seit mehr als drei Jahrzehnten ist das Nürnberger Essigbrätlein geradezu ein Wallfahrtsort unter den Gourmets, die Wert legen auf eine inspirierte und herausragende vegetarische Küche. Das bedeutet nicht, dass auf Fisch und Fleisch vollständig verzichtet würde (eine komplette vegetarische Variante des Menüs ist allerdings stets verfügbar, und selbst eine komplett vegane Menüfolge ist auf Vorbestellung ebenfalls machbar), aber sie spielen hier seit jeher eine untergeordnete Rolle. Die beiden Chefs Andrée Köthe und Yves Ollech, die seit 2008 zwei Michelin-Sterne ihr Eigen nennen, bilden dabei seit vielen Jahren die kulinarische Speerspitze der Region Mittelfranken, die sich selbst ganz gerne als Genussregion vermarktet. Erst in jüngerer Vergangenheit kam mit dem etz ein weiterer Zweisterner hinzu, und auch das Tisane in der Altstadt darf als Anwärter auf diese Auszeichnung verstanden werden. Im Essigbrätlein selbst, das für seine große Konstanz bekannt ist, hat sich mit Ausnahme eines Faceliftings für das Lokal vor einigen Jahren nicht wirklich viel verändert. Die Küche dagegen ersinnt ungebrochen neue Gerichte und hat auch nach drei Jahrzehnten die Lust am Experimentieren und Verfeinern nicht verloren. Bei alldem bleiben Nachhaltigkeit und schonender Umgang mit Ressourcen im Fokus.
Trotz der teils etwas eigentümlich anmutenden Gepflogenheiten in diesem Lokal (die in meiner allerersten Rezension ganz unten ausführlich erläutert wurden) ist meine Begleitung aufgeschlossen genug, gleich das Essigbrätlein als zweites Sternelokal im Leben – nach dem Saarbrücker Esplanade – zu besuchen. Nach entsprechender Instruktion sollte einem gelungenen Nachmittag nicht viel im Wege stehen, zumal auch das Wetter wunderbar mitspielt. Wir kehren hier an einem Samstagmittag ein und bestellen das komplette fünfgängige Menü (€ 120), das wie immer einen ganz guten Eindruck von der hier praktizierten Stilistik vermittelt. Außerdem signieren Andrée Köthe und Yves Ollech gleich zu Beginn mein Exemplar des ihnen gewidmeten Kochbuch der Süddeutschen Zietung von 2008, so dass meine Hochstimmung gleich zu Beginn auch auf meine Begleitung überspringt.
Eingeläutet wird der Besuch wie immer mit drei Kleinigkeiten: los geht es mit dem Bohnensaft und Öl von fermentierter Kamille. Das Konzentrat aus morgens geernteten, sodann gegrillten, blanchierten und entsafteten Bohnen ist ein gewohnt runder Einstieg mit einem leicht herben Abgang – Genuss für Fortgeschrittene. Es folgt ein mit Minze veredelter Strunk von Kopfsalat, der in einem tiefen Schälchen mit Vinaigrette von fermentiertem Blumenkohl ruht, deren grandiose Intensität und leichte Cremigkeit sofort verrät, dass für die Herstellung nicht nur ein entsprechender Aufwand, sondern auch ein hohes Maß an geistiger Durchdringung notwendig war. Den Abschluss der Trilogie bildet ein schon zum Klassiker avancierter, aber deswegen nicht schwächerer Beitrag: die Zwischenschale (!) von glasig gekochter, getrockneter und mit Ingwer eingekochter Wassermelone wird mit ein paar Schnittlauchblüten drapiert und verströmt einen wunderbar filigranen Geschmack. Das leicht süßliche, fast schon asiatisch anmutende Aroma wird durch einen filigranen Touch von Safran perfekt abgerundet und gelingt ganz ausgezeichnet. Klein, aber fein – selten war eine Beschreibung passender als hier. Das wie immer recht herzhafte Dinkel-Sauerteigbrot mit Butter von grünen Bohnen ist ein gewohnt souveräner Begleiter durch das Menü, welches uns nun erwartet.
Alle paar Besuche gibt es hier mal einen Gang, der etwas experimentell wirkt und den Eindruck einweckt, als würden seine Komponenten vielleicht in getrennter Form später mal Eingang in andere Gerichte finden – als solchen empfinde ich jedenfalls den ersten Beitrag des Tages. Er besteht aus Crème von getrocknetem und gekochtem Spargel, blanchiertem Zweitschnitt von Brokkoli (auf dem Strunk nachgewaschenen Rosetten) und Erbsen von zweierlei Bissfestigkeit, da sie sowohl in roher als auch gekochter Form Eingang in das Gericht finden. Die Crème ist fraglos ein meisterhafter, mit Liebstöckel und Fenchelsamen vollendet abgeschmeckter Clou mit langem und intensivem Nachhall, aber die übrigen Bestandteile vermögen keine große Begeisterung in mir zu erwecken: es wirkt recht verkopft und theoretisch, zumal sich der Reiz von zweierlei Erbsen schnell abnutzt und geschmacklich keine großen Varianten ins Spiel bringt. So wird mir von diesem Teller allenfalls die Crème länger im Gedächtnis bleiben.
Geriet der erste Gang noch einigermaßen kontrovers, so ist die Küche spätestens beim zweiten Beitrag wieder ganz bei sich: leicht gebeizten Saibling bettet man auf einem Rhabarberessig und drapiert das Ganze mit kurz gekochter Kartoffel, Scheinquitte und Wacholderbutter. Das erweist sich als ein herausragender Teller, denn neben der bestechenden Frische des recht festfleischigen Fischs besticht er vor allem durch den Fokus auf die Begleiter, die zu einem reizenden Spiel um Säure einerseits und Erdigkeit andererseits bitten. Durch den für dieses Haus so typischen Verzicht auf jeden Zierrat kommt nicht nur diese Facette, sondern auch die feine Würze durch den Wacholder besonders zur Geltung – zweckdienliche Reduktion at its best. Großartig!
Kurz gegrillte Pfifferlinge platziert das Team um die beiden Chefs auf einer mit Anisöl verfeinerten Pilzessenz und versteckt den Hauptdarsteller sodann unter gehobeltem Rettich in zweierlei Auslegung, nämlich in marinierter und fermentierter Form. Die Bitterstoffe der Rübe stellen eine gewagte Kombination für die erdigen Aromen der frisch gesammelten Pilze dar: gefällig ist dieser Gang durchaus nicht, obwohl durch die Beigabe von Geranie noch eine komplexe Facette hinzukommt, die dem kantigen Charakter etwas entgegenzusetzen hat. Unsereins ist es gewohnt, im Essigbrätlein durchaus sperrige und bisweilen rustikale Gerichte vorgesetzt zu bekommen – dies ist mit Sicherheit ein gutes Beispiel dafür, dessen Einordnung mir auch lange danach nicht leicht fällt. Letztlich komme ich zu dem Ergebnis, dass das Kalkül der Küche nur bedingt aufgeht und mich das geschmackliche Endergebnis nur bedingt überzeugt.
Fiel mir die Einschätzung des vorangegangenen Beitrags nicht leicht, so lässt sich vom Hauptgericht das genaue Gegenteil behaupten: es ist schon überraschend an sich, hier Reh vorgesetzt zu bekommen, denn trotz inzwischen fast zwanzig Besuchen kann ich mich nicht entsinnen, diesem Produkt hier schon einmal begegnet zu sein. Ich erlaube mir daher, gleich bei Sommelier Ivan Jakir nachzufragen, ob etwa durch persönliche Kontakte der Chefs zu einem passionierten Jäger der glückliche Umstand eintrat, dass ganz frisches Wildfleisch, das den qualitativen Ansprüchen der beiden Chefs genügt, geschossen werden konnte. Das wird mir in der Tat genau so bestätigt – und das Ergebnis ist hinreißend! Das ganz gleichmäßig, tiefrot gebratene Fleisch ist von superber Konsistenz und betört den Gast regelrecht mit seinem mineralischen und nussigen Aroma. Zu einem solch stimmigen Stück Fleisch gehört auch eine entsprechende Entourage – und auch hier trifft die Küche voll ins Schwarze. Saftige und schön mürbe eingelegte Aprikosen, Crème von Bohnenkraut, gedämpfter Rucola und erstaunlich präsente Dillblüten bilden ein formvollendetes und würdiges Ensemble, welches das Wild ins beste Licht rückt: ausgeprägte Herbheit und etwas Säure sind die denkbar besten Elemente, um das Reh perfekt in Szene zu setzen. Fleisch ist wahrlich nicht die Paradedisziplin dieses Hauses, aber ich komme nicht umhin, von einem echten Meisterwerk zu sprechen, das mir fast die Sinne raubt, zumal ich gerade hier nie mit einem solchen Teller gerechnet hätte. Meine Begleitung stößt übrigens ins gleiche Horn – wir sind hin und weg! Wirklich fabelhaft!
Ein duftiges, sommerliches Dessert bildet den angemessenen Ausklang, wenngleich im Essigbrätlein gerade auf diesem Gebiet immer wieder mit besonders abgefahrenen Überraschungen gerechnet werden muss. So auch hier: unter dem federleichten Schaum von Apfel und Minze versteckt sich ein Erbseneis! Die unnachahmliche Fähigkeit dieser beiden Chefs, auch aus vegetabilen Produkten durch entsprechende Verfeinerung und Begleitung süßliche Kreationen zu schaffen, die absolut unverwechselbar geraten, kommt ihnen auch hier zugute: Thaibasilikum, Zitronenverbene, Eisbegonie und Tagetes stellen ein hochkomplexes und höchst subtil ersonnenes Geflecht aus Kräutern und Gewürzen dar, während marinierte Stachelbeere für einen präsenten Säurekick sorgt. Dieses geradezu seidig leichte, erfrischende und in keinster Weise vorhersehbare Dessert muss zu den stärksten Beiträgen des Hauses in dieser Disziplin gezählt werden, deren Zeuge ich bislang geworden bin. Ungewohnt komplex, aber durch und durch überzeugend! Einfach wunderbar!
Der Ausklang hier hat Ritualcharakter: er besteht seit jeher aus den hausgemachten Schokoladen, deren Reiz sich auch nach vielen Jahren nicht abzunutzen scheint – sei es etwa die Variante mit Himbeeren, Sonnenblumenkernen oder Schnittlauchfüllung.
Andrée Köthe und Yves Ollech bleiben ihren Prinzipien unbestechlich treu: Gewürze und Gemüse stellen das unerschütterliche Fundament dieser Küche dar, die weiterhin auf einen scheinbar unerschöpflichen Quell an Ideen zurückgreifen kann und selbst langjährige Stammgäste stets aufs Neue zu überraschen vermag. Wenn Fisch und Fleisch doch zum Einsatz kommen, werden sie schnörkellos und kraftvoll in ihrer Aromatik in Szene gesetzt – und dennoch schien mir mit dem Hauptgang ein Level erreicht worden zu sein, das mir bislang vielleicht ein bis zwei weitere Male hier vergönnt war. Dem gegenüber standen mit dem ersten und dritten Gang zwei Teller, die mich nicht vollständig überzeugten, aber Neues entsteht nun mal durch Experimente, die naturgemäß auch den Kern des Scheiterns in sich tragen können – insofern ist das einfach der Preis, der für all die gelungenen Darbietungen auch mal entrichtet werden muss. Meine Begleitung sah es übrigens ganz ähnlich, wenngleich klar gesagt werden muss, dass kein Teller wirklich enttäuschte, sondern bisweilen einfach nicht das Maß an Beglückung in mir geweckt wurde, das man von dieser Küche erwartet.
Preistechnisch sind die diversen Krisen der vergangenen Monaten auch am Essigbrätlein nicht spurlos vorbeigegangen, und doch ist das Preis-Leistungs-Verhältnis (gerade mittags) weiterhin als sehr ordentlich zu bezeichnen: Wasser gibt es nach wie vor gratis in unbegrenzter Menge, und auch der geforderte Menüpreis hält sich weiterhin in Grenzen. Bei den Weinen sieht es etwas anders aus, da vor allem auf diesem Gebiet die Gewinnmargen erzielt werden – insofern ist ein maßvoller Konsum auf diesem Gebiet bei schlankem Geldbeutel durchaus anzuraten, aber andererseits ist der Fundus, auf den der überaus kompetente Sommelier Ivan Jakir zugreifen kann, sowohl in puncto Größe als auch Qualität und Breite absolut bemerkenswert.
Alles in allem bietet das Essigbrätlein die Dinge, die es über drei Jahrzehnte ausgezeichnet hat, weiterhin in überzeugender Qualität, die bestenfalls marginalen Schwankungen unterworfen ist. Den kreativen Avantgardisten in dieser Küche gehen die Ideen einfach nicht aus – und gerade das macht selbst eine regelmäßige Einkehr immer noch zu einer spannenden, ja bisweilen fordernden Angelegenheit. Ein gewisses Maß an Aufgeschlossenheit schadet sicher nicht, aber wer das mitbringt, darf auf reiche Belohnung hoffen!
Mein Gesamturteil: 18 von 20 Punkten
Essigbrätlein
Weinmarkt 3
90403 Nürnberg
Tel.: 0911/225131
www.essigbraetlein.de
Guide Michelin 2023: **
Gault&Millau 2023: 3+ Toques
GUSTO 2023: 9 Pfannen
FEINSCHMECKER 2023: 4 F
5-gängiges Mittagsmenü: € 120
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„Der Winter ist ein rechter Mann, kernfest und auf die Dauer.“ (Matthias Claudius)
UPDATE (Februar 2022)
Zu den unauffälligsten Konstanten unter den deutschen Zweisternern zählt das Essigbrätlein in Nürnberg schon lange. Unbeeindruckt von Moden oder dem PR-Getöse so manch anderer Kollegen ziehen Andrée Köthe und sein kongenialer Kompagnon Yves Ollech ihre Linie seit mehr als zwei Jahrzehnten gemeinsam durch. Allen Widrigkeiten zum Trotz, die die Corona-Pandemie mit sich bringt, konnte sich das Lokal am Weinmarkt im Herzen der Altstadt offenbar problemlos halten. Besuche in der kalten Jahreszeit waren hier meinerseits bislang eher die Ausnahme gewesen, so dass ich gespannt erwarte, was die Ausnahmekönner auch in der kargen Jahreszeit auf die Teller bringen werden.
Schon bei meinem Besuch vor zwei Monaten im nur fünf Gehminuten entfernten etz wurde mir der Winter in blumigen Worten als Zeit des Rückzugs erklärt – eine entbehrungsreiche Phase, in der nur hartnäckigste Gewächse den widrigen Bedingungen trotzen können und in der man deswegen vor allem auf eingemachte Lebensmittel zurückgreift. Mag sein, dass dies in unseren globalisierten Zeiten im Gegensatz zu früher angesichts voller Obstregale mit exotischen Früchten nicht mehr als so drängend wahrgenommen wird, doch wer so konsequent den Weg der saisonalen Regionalität einschlägt wie das Essigbrätlein und das etz gleichermaßen, der sieht sich in dieser Jahreszeit tatsächlich vor große Herausforderungen gestellt, da die ohnehin schon fordernde selbst auferlegte Beschränkung in dieser Jahreszeit noch schwerer als sonst erfolgreich zu meistern ist.
Los geht es mit einem fast schon zum Markenzeichen avancierten Apéro, dem Endivienstrunk mit Minze in einer Grillvinaigrette. Neulingen wird hier gleich mal aufgezeigt, was man selbst aus vermeintlich langweiligem Gemüse so alles machen kann, doch auch der Stammgast staunt durchaus immer wieder aufs Neue.
Es folgt geschmorte und gebackene Apfelhaut mit ligurischem Salbei. Neben der angenehmen Konsistenz und der filigranen Aromatik fällt vor allem der leicht an Zimt erinnernde Abgang auf. Sehr schön!
Dann folgt erneut ein Klassiker: das gedämpfte Sauerteigbrot mit Butter von fermentierten Radieschen. Gerade in Verbindung mit dem lauwarmen Brot macht der bestens abgeschmeckte Dip regelrecht süchtig. Dieses Schälchen wandert blitzblank in die Küche zurück! Auch das Dinkel-Sauerteigbrot mit Grüner-Bohnen-Butter (ohne Foto) überzeugt wieder einmal.
Den Auftakt ins Menü macht diesmal Kohl in einer ungewohnter Form: ähnlich wie ein paar Monate zuvor im etz werden hier die unterschiedlich knackigen Blätter von innen (weich) nach außen angeordnet. Unter dem Türmchen von geschmorten Kohl findet sich eine Crème von Holunderblüten und Zesten von Grapefruit, während Estragon, Apfelessig und Quittenblüten weiter zur geschmacklichen Abrundung beitragen. Insgesamt fruchtig-säuerlich abgeschmeckt, macht dieser Gang intellektuell einiges her – der Genuss steht allerdings ein wenig hinten an, so dass der experimentelle Eindruck letztlich überwiegt. Solide, aber kein Highlight.
Der nur ganz kurz gebeizte Saibling im nächsten Gang gerät da schon um einiges beeindruckender: er thront auf einer Waldmeister-Vinaigrette und ist mit Duftreis unter dem gegarten Wirsingblatt getoppt. Durch die Reduktion auf ein klares Hauptprodukt kommt auch die dezente Fenchelnote bestens zur Geltung, die im Verbund mit der Cremigkeit des Reis den Gang enorm aufwertet. Insgesamt entpuppt sich dieser Teller als faszinierender Einfall mit ungewohnter, aber reizender Aromatik. Stark!
Was harmlos als Kartoffel angekündigt wird, ist in Wahrheit eine sorgsam ausgelotete Kombination aus mehreren Komponenten, die bestens harmonieren und doch in einem Spannungsfeld zueinander stehen. Selbst gepickelte Karotte, Tropea-Zwiebel, Ingwer, Zitrone, Duftreis, Tagetes und gegrillte Paprikabutter mit ausgesprochen subtiler Würzung ergeben eine Kombination von verblüffender Wirkung. Mit viel Liebe zum Detail ausgedacht und vielfältig ohne jede Gedrängtheit – wirklich ausgezeichnet!
Gedämpfte Würfel und kurz gegrillte Tranche von Ente werden zum Hauptgang in überraschend erdigen und süßlichen Noten begleitet: die Sauce von Johannisbeerenholz dominiert zwar einigermaßen über Fenchel, Zwiebel, Lavendel und Johannisbeeren, doch kommen die Begleiter trotz eines präsenten Hauptprodukts zu ihrem Recht. Als kleiner, vollendender Bonus erweist sich die mehr als zwei Stunden lang gegarte Haut, die leichten Biss und aromatische Power beisteuert. Zwar besucht man das Essigbrätlein wohl kaum wegen der Fleischgerichte, doch dieser Gang konnte sich wirklich sehen – und schmecken – lassen.
Das Dessert rund um den Endivienstrunk krankt vor allem daran, dass der grüne Beitrag nichts Essentielles zum Nachtisch beiträgt – weder in textureller noch in geschmacklicher Hinsicht. Jedenfalls hätte dieser Gang rund um Wacholderzucker, grünen Apfel, Quitteneis, Maronen und Olivenöl (ein neuer Trend zur geschmacklichen Abrundung) gut ohne das Gemüse auskommen können, zumal das elegante Spiel zwischen süßen und sauren Aromen davon noch mehr profitiert hätte. Ansonsten ein erneut gelungener Gang, nur eben mit einer fragwürdigen Komponente.
Den Abschluss bilden wie immer die hausgemachten Schokoladen um roten Pfeffer, Sonnenblumenkerne, Sauerampfer, Haselnüsse und schwarze Johannisbeeren.
Durch das relativ knappe Intervall zwischen den beiden Stippvisiten im Essigbrätlein und im etz lassen sich durchaus ein paar erhellende Schlüsse ziehen. Während die Stilistik im ältesten Buntsandsteinhaus der Nürnberger Altstadt trotz ihrer Radikalität letztlich eher auf subtile Würzung und Harmonie setzt, kann man im etz die weitaus forschere Umsetzung dieser Ideen erleben. Andrée Köthe bevorzugt auf seinen Tellern sozusagen die Lässigkeit des Cool Jazz, während Felix Schneider in seiner ungeschönten Direktheit eher an einen Anhänger von Heavy Metal erinnert. Beide Ansätze haben sicherlich ihre Daseinsberechtigung, doch trotz ihrer grundverschiedenen Interpretation bleibt letztlich festzuhalten, dass enttäuschten Besuchern des einen Lokals (ja, diese soll es immer noch geben!) das andere genauso wenig zusagen dürfte. Dennoch finde ich es interessant, dass sich die Frankenmetropole gerade zu einer Art hippen Destination für grüne Küche entwickelt, die man sonst so nur von Berlin her kennt. Auf derart engem Raum zwei Lokale anzutreffen, welche die Diskussion um nachhaltige Ernährung in der Zukunft annehmen, scheint mir eine außerordentliche Fügung darzustellen. Wenn das so weiter geht, dann werden Öko-Hipster aus der Hauptstadt, die en vogue bleiben wollen, bald nicht mehr umhin kommen, Nürnberg einen kulinarischen Besuch abstatten zu müssen!
Das Essigbrätlein, der Vorreiter all dieser Strömungen, ist sich selbst auch nach mehr als dreißig Jahren immer noch treu geblieben. Der konsequente Verzicht auf Luxusprodukte und die puristischen Inszenierungen auf den Tellern zeichneten das putzige Lokal schon immer aus, und die ewige Suche nach der optimalen Verfeinerung der Gerichte durch Kräuter und Gewürze scheint noch immer nicht an ihrem Ende angekommen zu sein. Andrée Köthe und Yves Ollech holen aus ihren Möglichkeiten nahezu das Optimum heraus, auch wenn hin und wieder mal das eine oder andere Gericht leicht verkopft gerät und der Genuss zweitrangig erscheint. Dennoch erfährt der geneigte Gast hier nach wie vor, was derzeit auf diesem Gebiet alles möglich ist. Sofern man ein gewisses Maß an Aufgeschlossenheit mitbringt und sich darüber im Klaren ist, dass eine Einkehr hier praktisch nichts mit einem klassischen Gourmetmahl zu tun hat, hat sich noch jeder Besuch angesichts nur minimaler Schwankungen in der Qualität (nach inzwischen fast zwanzig Besuchen sei diese Anmerkung als Lob gestattet!) als ausgesprochen erhellend erwiesen. Gerade ein Besuch mittags entpuppt sich weiterhin als eine recht günstige Angelegenheit, zumal das Wasser weiterhin kostenlos ist und der Rechnungsbetrag nur dann signifikant ansteigt, wenn man dem Traubensaft ausgiebig zuspricht.
Noch eine amüsante Anekdote zum Abschluss: natürlich gibt es die Besucher, die sich an gewisse Konventionen im Sternerestaurant nicht halten wollen, noch immer. Zu ihren häufigsten Vertretern zählt der offenbar nicht auszurottende Typus von Gast, der Saucen vom Teller mit dem Brot aufsupft. Eine neue Dimension von Fremdscham erreichte allerdings der Vertreter dieser Gattung am Nebentisch, als er allen Ernstes – und das auch noch mehrfach im Laufe des Menüs! – über den Tisch hinweg die übrige Sauce vom Teller seiner Partnerin ungeniert mit dem Brot aufsupfte …
Für das Verhalten der Gäste kann das Lokal nichts – für die stets aufs Neue ansprechende Küchenleistung dagegen schon, weshalb weitere Stippvisiten auch zukünftig eingeplant sind. Nürnbergs Gemüsetempel ist es definitiv wert!
Mein Gesamturteil: 18 von 20 Punkten
Essigbrätlein
Weinmarkt 3
90403 Nürnberg
Tel.: 0911/225131
www.essigbraetlein.de
Guide Michelin 2021: **
Gault&Millau 2021: 18 Punkte
GUSTO 2022: 9 Pfannen
FEINSCHMECKER 2021: 4 F
5-gängiges Mittagsmenü: € 110
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„Wenn man montags grüne Blätter zu sich nimmt, dienstags Essig und mittwochs Öl – kann man dann donnerstags sagen, man habe Salat gegessen?“ (Christian Friedrich Hebbel)
UPDATE (Juli 2021)
Wer nach der temporären Schließung des Sosein in Heroldsberg in Frankens einzigem verbliebenen Zwei-Sterne-Restaurant Essigbrätlein einkehrt, der kann sich praktisch sicher sein, dass er frei von Qualitätsschwankungen ein degustatorisches Erlebnis vor sich hat, das mit Konventionen aufräumt und bei gleichzeitigem Genuss dem Gast so einige interessante Fragen zu stellen hat. Sieht so die Zukunft unserer Ernährung aus? Kann man sich ausschließlich regional ohne jede Langeweile ernähren? Können einfache Produkte denselben Reiz wie Luxusviktualien entfalten? Kann das auch weniger versierten Köchen gelingen? Mag sein, dass die Antworten auf diese Fragen aus Sicht der Gäste unterschiedlich ausfallen, aber dass ein Gast dieses Lokal ohne jede Art von Inspiration verlässt, wäre mir neu. Unsere Vierergruppe besteht aus zwei Neulingen, die ihren Besuch letztlich – soviel vorweg – nicht bereuen werden. Da sich ansonsten nicht wirklich viel seit dem letzten Besuch verändert hat und zu den Äußerlichkeiten bereits in Vorgängerberichten alles gesagt wurde, fokussiere ich mich gleich auf das Wesentliche.
Wie immer bietet man hier nachmittags ein einziges fünfgängiges Mittagsmenü (€ 105) an, das mit kleinen Einstimmungen veredelt wird. Zu dem mit Sauerampfer versetzten Apfelsaft als Apéritif serviert man den mir bereits bekannten Endiviensalat und -strunk mit Minze und einer Grillvinaigrette als eine Art Dip – für die Neulinge gleich eine Art Fingerzeig, wohin die Reise geht, für die Kenner ein Einstieg wie er nicht typischer sein könnte für diese Adresse.
Die ungeheure Konzentration auf das Wesentliche wird beim nächsten Gruß, der mir in dieser Form noch überhaupt nicht bekannt vorkommt, noch deutlicher: auf einer Schale (!) von Wassermelonen platziert man eingelegte Algen und Tropfen eines Schnittlauchsuds. Zusammen mit Kornblumenblüten und deutlichen Raucharomen ergibt dies ein ungemein komprimiertes Konzentrat an Geschmack und Aromen, das nachhaltig beeindruckt und dabei auch wieder einmal aufzeigt, welche vermeintlich wertlosen Teile einer Pflanze mit etwas Phantasie und dem notwendigen Know-how aufgewertet werden können.
Die Rückkehr eines längere Zeit vermissten Klassikers hat dann der dritte Gruß schließlich zu bieten: hocharomatisches gedämpftes Brot mit einer Radieschenbutter vom Feinsten – fehlt nur noch das gebeizte Eigelb, welches früher das Brot hin und wieder noch toppte.
Auch beim Brot ist im Laufe der zahlreichen Besuche keine Routine eingekehrt. Diesmal gibt es ein exzellentes Dinkel-Sauerteigbrot mit Butter von grünen Bohnen.
Der erste Gang, schlicht deklariert mit geschossener Lauch, stellt dem Hauptprodukt noch Spargel, Sahne, Zuckerschoten und eine mit Majoran aromatisierte Molke zur Seite. Wie immer würde die Beschreibung der Herstellung gut eine Minute in Anspruch nehmen, weshalb es hier genügen muss, dass die Aromatik beim Verzehr ausgesprochen fein und delikat wirkt: dezente Säure und leichte Süße changieren geschickt zwischen den vegetabilen Produkten, doch für ein echtes Highlight reicht es mir dennoch nicht, da mir insgesamt etwas zu wenig passiert und das Gericht eher zu den etwas verkopften gehört.
Einen nachhaltigeren Eindruck hinterlässt der zweite, als Saibling mit Kartoffel bezeichnete Gang: der subtil marinierte und sanft gegarte Fisch ist so trefflich, dass man ihn für einen Lachs halten könnte – so buttrig und fest ist seine Konsistenz, und außerdem ist die Haut essbar. Obenauf drapiert die Küche Karottenscheiben, die mit Ingwer und Korianderblüten aufgewertet werden sowie unter dem Saibling eine Molke von Kartoffeln mit Spuren von Chili. Präzise Würzung und punktgenaue Garung tragen das Ihrige noch zum Gesamteindruck bei. All dies mag exotisch klingen, doch dieser apart inszenierte Gang lässt höchste Handwerkskunst und geistige Durchdringung gleichermaßen nicht nur erahnen, sondern auch schmeckbar werden. Dieser Saibling hat sein Leben jedenfalls nicht umsonst gelassen!
Bohnen mit Blatt ist wieder gelebter Purismus in seiner radikalsten Form: geschmorte und gekochte grüne Bohnen toppt man mit etwas Trester und platziert das Ganze in einem mit Estragon und Butter verfeinerten Bohnensud. Dass diese kurze Beschreibung den Arbeitsaufwand hinter diesem Gang nur annähernd erahnen lässt, wird beim Verzehr deutlich: die aromatische Vielfalt grüner Produkte im Verbund mit der nachhaltigen Würze durch den Estragon lässt sich nur schwer in Worte fassen, gerät aber wahrhaftig faszinierend – vorausgesetzt, man bringt die Muße und den Willen auf, sich beim Verzehr die notwendige Zeit dafür zuzugestehen.
Der Hauptgang, obschon diesmal als Ente mit Blüten bezeichnet, ist derselbe wie im letzten Jahr, als das Gericht noch „Ente mit Kräutern“ getauft wurde – ein rein akademischer Unterschied, denn Modifikationen an diesem Gericht sind rein saisonal bedingt. Für einen Vergleich mit dem Vorjahr siehe den untenstehenden Bericht. Diesmal begleiteten Blutampfer, Rucola und Nachtkerzenblüten die knusprige Haut und die Tranche auf einer Rotkohl-Karamell-Sauce, die süchtig machen konnte. Das trotz der komplexen Garnitur filigrane Spektrum an deutlich herauszuschmeckenden Aromen beeindruckt dabei wieder.
Beim Dessert hatte die Küche allerdings noch ein As im Ärmel: Stachelbeeren mit Kräutern sollte sich nochmals als Highlight entpuppen. Das fluffig-leichte Dessert gerät zu einem echten Plädoyer für den viel zu selten eingesetzten Gast beim süßen Finale: die Stachelbeere entfaltet ihre Qualitäten als Eis im Verbund mit Erbsenschote, Begonie, Gurke, Tagetes und Sauerklee auf vollendete Weise. Selbstverständlich ist für die Herstellung dieses Desserts ein großer Aufwand vonnöten, aber der Geschmack zahlt es mit Dividenden zurück: Cremigkeit, große Vielfalt bei den Temperaturen der Komponenten und ein enorm breites Spektrum an süßen und säuerlichen Aromen machen aus diesem Abschluss einen Beitrag, der noch längere Zeit im Gedächtnis haften bleibt. Ein starkes Finale!
Die hausgemachten Schokoladen zum Abschluss runden den Besuch hier wie immer würdig und abgemessen ab.
Dass dieser Besuch diesmal vielleicht nicht die ganz große Begeisterung in mir weckte, soll nicht bedeuten, dass es mir nicht gefallen habe. Vielmehr kann nach gut fünfzehn Besuchen schlicht und ergreifend nicht jeder erneute Besuch immer wieder aufs Neue zu den besten drei gezählt werden. Der etwas bedauerliche Umstand, dass der eine oder andere Beitrag mir schon von früheren Stippvisiten her bekannt war, mag zu dem Eindruck beigetragen haben, doch war all das, was diese Küche seit jeher ausgezeichnet hat, auch heuer wieder vorhanden: Purismus, radikale Reduktion auf das Wesentliche, asketischer Verzicht auf jeglichen Luxus und äußerste geistige Durchdringung der sorgsam komponierten Gerichte. Dass Ivan Jakir heute mal wieder im Hause war (bei meinen letzten Besuchen war dies recht selten der Fall), garantierte ebenfalls herausragende Weinempfehlungen für meine drei Begleitpersonen. Dass die Nebenkosten hier (mit Ausnahme des nach wie vor kostenlosen Wassers) als äußerst spürbar zu bezeichnen sind, ist einfach dem Umstand geschuldet, dass dieses Lokal auch nach über 30 Jahren immer noch ohne jedweden Sponsor im Hintergrund auskommt. Außerdem haben die Kosten für das fünfgängige Mittagsmenü kaum angezogen, so dass eben eine anderweitige Kompensation dafür herhalten muss. Für Leute mit schlankem Portemonnaie seien einfache, aber erheblich preiswertere Getränke wie Tonic Water oder Bitter Lemon empfohlen, die übrigens erstaunlich gut zu so manchem Gericht passen.
EXKURS:
Nicht unerwähnt bleiben soll an dieser Stelle auch, dass die Gerichte während des Lockdowns zum selbständigen Anrichten und Veredeln zuhause nicht schwächer ausfielen. Mitte April ergab sich eine günstige Gelegenheit, bei einem Abstecher ins Fränkische eine solche Box zum Preis von € 70 zu ergattern und zuhause auszuprobieren. Die Ergebnisse seien hier grob vorgestellt.
Zum Einstieg drei Kleinigkeiten, von denen speziell die erste einen enormen Arbeitsaufwand erkennen ließ: Kopfsalat mit Spargelrahm und Grillvinaigrette kam einer Geschmacksexplosion gleich – so wunderbar austariert war alles, zumal die Spargelstücke auf dem Blatt genau die richtige Konsistenz hatten. Der zweite Gruß, leicht angetrocknete Bauerngurke mit Wacholderdip, hätte als erfrischender Snack auch so manche Wanderung auf den kargen Hochflächen der Schwäbischen Alb begleiten können, die an manchen Stellen geradezu mit Wacholdersträuchern übersät sind. Zum Schluss noch eingelegte Radieschen mit Meerrettich – ein Gruß, der fast schon den Status eines Klassikers genießt.
Der erste Gang bestand aus Kohlrabi, Vinaigrette von strahlenloser Kamille und Pistaziencrème. Das fast monothematische Gericht präsentierte den Kohlrabi in großer textureller Vielfalt, zumal auch die Temperaturen sehr unterschiedlich interpretiert wurden. Roh marinierter und geschlagener Kohlrabi wurde dabei auf der Pistaziencrème gegeben, danach von dem gegarten „Deckel“ aus Kohlrabi bedeckt und mit Kräutern sowie der Vinaigrette dekoriert. So vielfältig kann grüne Küche sein! Das geschmackliche Ergebnis war so beeindruckend, dass auch ein so mittelmäßiger Koch wie ich das Gericht nicht mehr zu ruinieren vermochte …
Lamm mit Zitronengras, Ingwer und Olivenöl geschmort zum Hauptgang erforderte lediglich das Erwärmen im Wasserbad und das Anrichten auf dem Teller. Wenn das eigentliche Kochen nur auch so einfach wäre, denn die wunderbar herben Fleischaromen des Lamms blieben mir noch lange im Gedächtnis haften!
Eis aus fermentierten Himbeeren mit Rhabarber erforderte ebenfalls außer dem Anrichten mit Quittenblüten keinen eigenen Aufwand mehr, so dass der Vorfreude an dem reinen Genuss des alles andere als zu süßen Desserts nichts mehr im Wege stand. Außerdem gab es als Extra ja noch die Schokoladen, falls wider Erwarten der Hunger nicht gestillt werden konnte.
In Summe eine höchst befriedigende Erfahrung, die primär nicht auf Sättigung, sondern auf Beglückung abzielte. Natürlich wird sich niemand diese Zeiten nochmals zurückwünschen, aber bestens gewappnet scheint man für einen solchen Fall definitiv!
Jedenfalls liefert das Essigbrätlein – ob nun während des Lockdowns oder danach – so zuverlässig und konstant wie eh und je. Dies war mit Sicherheit noch nie eine Adresse, die es ihren Gästen einfach macht, doch genau deshalb suchen ja so viele dieses putzige Lokal in dem unscheinbaren Buntsandsteinhaus am Nürnberger Weinmarkt regelmäßig auf. Wahrnehmungen können sich ja bekanntlich ändern – vielleicht finden gerade Sie ja sogar eine passende Antwort auf Hebbels amüsante Frage im Eingangszitat!?
Mein Gesamturteil: 18 von 20 Punkten
Essigbrätlein
Weinmarkt 3
90403 Nürnberg
Tel.: 0911/225131
www.essigbraetlein.de
Guide Michelin 2021: **
Gault&Millau 2021: 18 Punkte
GUSTO 2021: 9 Pfannen
FEINSCHMECKER 2021: 4 F
5-gängiges Mittagsmenü: € 105
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„Wer den Acker pflegt, den pflegt der Acker.“ (volkstümliches Sprichwort)
UPDATE (März 2020)
In Nürnbergs Gemüsetempel zeigt man seit nunmehr drei Jahrzehnten auf, was sich aus grüner Ernährung alles machen lässt, ohne dabei im Geringsten langweilig oder unbefriedigend zu geraten. Das einstmals belächelte Konzept des Gemüsepapsts Andrée Köthe und seines genialen Kompanions Yves Ollech weist selbst hartgesottenen Karnivoren den Weg und beweist in schöner Regelmäßigkeit, dass das Potential von Gemüse immer noch stark unterschätzt wird. Für Details zum Lokal verweise ich auf frühere, untenstehende Berichte, deren Lektüre sich meiner Auffassung nach immer noch lohnen sollte.
Diesmal habe ich mir zwei Begleiter ausgesucht, von denen eine Person ein überzeugter Fleischliebhaber und die andere eine bekennende Veganerin ist – größer könnte der Unterschied kaum sein, doch sie sind sogar eng miteinander verwandt. Noch erstaunlicher an dieser Konstellation gerät jedoch die Tatsache, dass beide nach ihrem Premierenbesuch hier absolut beglückt das Lokal wieder verlassen und eine Erfahrung machten, die sie so schnell nicht vergessen dürften! Dazu sei ergänzt, dass ich von der Möglichkeit, vorab ein veganes Menü für die junge Dame zu bestellen, Gebrauch gemacht habe, doch bis auf zwei oder drei Komponenten sind die Menüs deckungsgleich.
Wir steigen ins Menü mit dem hausgemachten und mit Sauerampfer versetzten Apfelsaft ein, dessen Bestellung trotz seines hohen Preises keiner bereut und der den Neulingen bereits gekonnt eine erste Vorstellung von den außergewöhnlichen Fähigkeiten dieser Küche vermittelt. Der Eindruck verstärkt sich noch nach drei Einstimmungen, die ebenfalls ständig variieren: zu Beginn reicht man die mir schon vom letzten Besuch bekannte Essenz von gerösteten Pilzen und Anis-Öl, die auch beim zweiten Mal immer noch tiefgründig und konzentriert schmeckt.
Der Reigen wird fortgesetzt mit einer Essenz von zuvor gefrorener roter Bete (mit einem Spritzer Milch versetzt), etwas Schnittlauch und Zitronencrème, bevor als letzter Gruß in leichter Abwandlung vom letzten Besuch eine geröstete Meerrettichcrème mit Grünkohlsprossen und hauchdünnen Streifen von dezent scharfem Meerrettich folgt.
Wie immer sind dies alles aromatisch dichte und durchdachte Eingebungen, die volle Konzentration beim Verzehr erfordern, wenn man höchsten Genuss aus ihnen ziehen will. Ein Roggenbrot und Butter von grünen Bohnen rundet den gelungenen Eindruck ab.
Vieles hier gerät seit vielen Jahren absolut verlässlich und konstant. Großer Vielfalt unterworfen ist dagegen immer die kryptische und im Grunde genommen entbehrliche Speisekarte, die maßgeblich vom Marktangebot diktiert wird. Da der Fundus an Gerichten, auf die die Küche zurückgreifen kann, schier grenzenlos zu sein scheint, habe ich auch nach zirka fünfzehn Besuchen hier noch keine Menüfolge mit ausschließlich bekannten Gerichten erlebt. Selbst Gerichte, die gleich heißen, werden immer wieder modifiziert, so dass keine Langeweile aufkommt. Gerade das fünfgängige Mittagsmenü zu € 95 erweist sich als fair bepreistes Angebot, das Neulingen empfohlen sei.
Es begann dieses Ma(h)l mit Saibling mit Kohlrabifond. Stammgäste wissen natürlich, dass immer wesentlich mehr hinter den Gerichten steckt als die karge Ankündigung: hier platziert man den puristisch interpretierten kalten Fisch auf Tupfen von fermentierter Kamillecrème und mit Streifen von Blumenkohl obenauf. Das ist ein eher verhaltener Einstieg, doch umgekehrt lässt sich eben auch behaupten, dass nichts Wesentliches von der bestechenden Frische des Hauptdarstellers ablenken soll, selbst wenn der Fokus hier normalerweise eher auf Gemüse liegt.
Ganz bei sich ist die Küche hingegen bei Kohl (kann man ein Gericht eigentlich mit noch weniger als einem Wort ankündigen?!). Als Basis dient eine Crème von grünen Bohnen, worauf in einer unfassbaren Vielfalt an Konsistenzen Grünkohl, Schwarzkohl, Rosenkohl, Wirsing und Waldmeister apart auf den Teller gezaubert werden: hier wird fermentiert, frittiert, extrahiert und eingelegt was das Zeug hält. Das Ganze gerät jedoch kein bisschen verkopft, sondern schmeckt unglaublich diffizil, fast schon verboten schmelzig und ist von dem sperrigen sowie oft plumpen Geschmack von Kohlsorten so weit entfernt wie nur irgend denkbar – das muss selbst der Karnivore anerkennen. Meine Wenigkeit erkennt den Ausnahmewert dieser Kreation ebenfalls bedingungslos an, und die junge Veganerin schwebt sowieso schon seit längerer Zeit im siebten Himmel …
Eine fast schon farbenfrohe und ungewohnt ausladende Kreation ist Zwiebel mit Schwarzwurzel. Eine unfassbare cremige, mit etwas Reis und reduzierter Sahne versetzte Kartoffelmousseline trägt glasige Zwiebelsegmente, die mit etwas Wacholderzucker mutig veredelt sind. Rhabarber und Schnittlauch sorgen nicht nur für texturelle Abwechslung, sondern für ein ungemein diffiziles Aromengeflecht, das in seiner Dichte einfach sprachlos macht. Abgerundet wird diese Eingebung von ein paar Tropfen Crème aus Kaffee und Kardamom – es klingt exotisch, geht aber wunderbar am Gaumen auf. Ein phänomenales Gericht in einer an Highlights weiß Gott nicht armen Menüfolge!
Ente mit Kräutern im Hauptgang lenkt den Fokus wie immer weg vom Fleisch, doch dem Karnivoren bleibt dessen Saftigkeit und Zartheit natürlich nicht verborgen. Ich hätte mir die Ente gut etwas kräftiger gebraten vorstellen können, doch auch so überzeugt die Entourage wieder voll und ganz: etwas knusprig frittierte Haut sorgt für Biss, während Senfblüten, Blutampfer, Ackerretich und Blätter von roter Bete kunstvoll auf dem Fleisch drapiert sind. Die komplexe Aromatik macht mich einfach sprachlos, zumal auch die Crème von roter Bete, auf der die Ente ruht, sich vollendet an die Ente anschmiegt. Grandios!
Zum Dessert reicht man diesmal Rhabarber mit Quittenblüten. Eine besonders frühe Sorte (deren Namen ich mir leider nicht gemerkt habe) bildet die straffe Säurebasis in filetierter und eingelegter Form. Darauf verteilt befindet sich eine federleichte Crème, die mit Quittenblüten getoppt ist. Weiter mehr als ein exzellentes Himbeersorbet braucht diese charmante und zauberhaft leichte Kreation nicht, um voll als Frühlingsbote zu überzeugen.
Die wie immer zum Schluss gereichten hausgemachten Schokoladen (eine neue, mit Topinambur-Pulver bestäubte Sorte war diesmal mit dabei) sorgen dann noch für einen Nachschub an Kalorien für all diejenigen, die mehr als angenehm gesättigt sein wollen. Fazit: mein begleitendes Duo ist am Ende des Nachmittags nahezu fassungslos!
Man muss ganz nüchtern festhalten, dass bei jedem Besuch im Essigbrätlein die Weltklasse in Sachen Gemüse immer wieder aufblitzt und dem Team auch nach dreißig Jahren die Lust am Experimentieren und die Freude am Beruf überhaupt nicht abhanden gekommen zu sein scheinen. Leicht macht es einem dieses Lokal mit seinen Gepflogenheiten zwar nicht immer, aber wenn selbst das ungleiche Gespann, das mich an diesem Tag begleitete, übereinstimmend schon beim ersten Besuch zum Urteil eines in jeglicher Hinsicht außergewöhnlichen Nachmittags kommt, dann will das schon etwas heißen! Mit einer Portion Aufgeschlossenheit ist ein Besuch im Essigbrätlein nicht umsonst ein immer wieder erhebendes Gefühl, das ich nicht missen möchte, zumal ich hier noch nie enttäuscht gegangen bin. Fazit: nicht versäumen!
Mein Gesamturteil: 18 von 20 Punkten
Essigbrätlein
Weinmarkt 3
90403 Nürnberg
Tel.: 0911/225131
www.essigbraetlein.de
Guide Michelin 2020: **
Gault&Millau 2020: 18 Punkte
GUSTO 2020: 9 Pfannen
FEINSCHMECKER 2020: 4 F
5-gängiges Mittagsmenü: € 95
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UPDATE (September 2019)
Kaum zu glauben, dass Andrée Köthe und sein kongenialer Partner Yves Ollech, der 1999 dazu stieß, nun schon ins vierte Jahrzehnt mit ihrem außergewöhnlichen Genuss-Refugium gehen. Das seit 1989 bestehende Lokal (das ursprünglich nie als Spitzenrestaurant gedacht war) punktet mit einem Konzept, das seinerzeit viel belächelt und als exotisch abgetan wurde. Drei Jahrzehnte später wissen wir es besser: in Zeiten, in denen Nachhaltigkeit und fleischlose Ernährung angesichts des Klimawandels immer stärker diskutiert werden, zeigt diese Küche Wege auf, wie das sehr wohl funktionieren kann und ganz nebenbei auch einfach phantastisch schmeckt. Die Gepflogenheiten in diesem Lokal sind etwas gewöhnungsbedürftig, doch die Zahl der Kontroversen rund um das Lokal hat inzwischen deutlich abgenommen. Hier wird überragender Genuss für Fortgeschrittene geboten, den es in dieser Form so einfach kein zweites Mal in Deutschland gibt – ein viel größeres Kompliment kann es in der Gastro-Szene, die immer uniformer zu werden droht, kaum geben. Zwar wurde an dem Konzept schon seit Jahren nichts Wesentliches verändert, doch die ständige Vertiefung mit der Materie und die immer noch fortschreitende Präzision der Gerichte hat inzwischen dazu geführt, dass dieses Kochduo auf dem Gebiet des Gemüses inzwischen eine Expertise erlangt hat, der man einfach das Prädikat „Weltklasse“ attestieren muss. Hier werden selbst Teile der Produkte (wie z.B. Strünke) verwendet, die anderso einfach achtlos weggeworfen werden. Außerdem werden die Produkte vom Markt oder von befreundeten Bauern bezogen – regionaler geht es kaum. Schon allein deshalb ist dieses Lokal, das ohne jeden Sponsor auskommt, unterstützungswürdig. Zur besseren Einordnung dieses Restaurants sei die Lektüre meiner bisherigen untenstehenden Rezensionen empfohlen (sofern nicht schon geschehen).
Der Einstieg ins fünfgängige Mittagsmenü zu € 95, das ich hier sehr empfehlen möchte, erfolgt diesmal mit einem alkoholfreien Heidelbeer-Verbene-Saft, der mit € 12 nicht gerade billig gerät, aber als Kompensation ist ja das Wasser hier immer noch komplett kostenlos – eine noble Geste, die es in dieser Form in Zwei-Sterne-Restaurants auch kein zweites Mal in der Republik gibt. Dazu kommt als erster Gruß eine leichte geeiste Pilzessenz, die mit etwas Anis-Öl verfeinert wurde – große Klasse, denn die erdigen Aromen werden durch den typischen Lakritz-Geschmack nur ganz dezent im Hintergrund, aber höchst stimmig bereichert. Gerade durch die niedrige Temperatur kommen die diffizilen Aromen besonders gut zur Geltung. Der zweite Gruß ist ein Blatt Romana-Salat in einem Gläschen, das mit einer Grill-Vinaigrette gefüllt ist. Diese aufwendig auf der Basis von Lauch hergestellte und ungemein tiefgründige Komponente verblüfft mit ihren leicht rauchigen Noten, während noch etwas Minze den Salat animierend aufpeppt. Der dritte Gruß ist von so ungeheuer komplexem Geschmack, dass man kaum glauben mag, dass all dies auf einem gewöhnlichen Esslöffel Platz findet: Rettich wird sowohl eingelegt als auch fermentiert und kommt zusammen mit einer Rettichcrème, etwas Preiselbeere und einer Blüte vom Ackerrettich auf den Löffel. Dieses Amuse ist von derart großer Expertise, dass man den Aufwand dahinter nur erahnen kann (was aber im Prinzip für sämtliche Gerichte hier zutrifft!), denn das filigrane Aromengeflecht deckt ein Spektrum von Aromen ab, das im Nachhall sogar an Pilze erinnert, obwohl keine einzige Komponente auch nur im Entferntesten damit zu tun hat! Das Brot aus Roggenmehl mit der grünen Bohnenbutter schließlich ist wie immer Spitzenqualität.
Die stets kryptische und im Grunde genommen entbehrliche Speisekarte ist so wandelbar wie sonst kaum irgendwo, denn sie ist den Marktbedingungen und der Saison höchst flexibel angepasst. Schon deshalb tendiert selbst nach bestimmt einem Dutzend Besuchen seit 2012 die Wahrscheinlichkeit, eine Menüfolge mit ausschließlich bekannten Kreationen zu essen, gegen Null. Auch diesmal bot die Menüfolge jede Menge neue Einsichten, die auf stetiger Weiterentwicklung der Küchenphilosophie beruhen.
Der erste Gang, schlicht grünes Gemüse genannt, präsentiert unterschiedlichstes Gemüse auf einer fermentierten Kamillencrème: lauwarmer Kopfsalat, Erbsen, Kohlrabi, Spinat, Sauerampfer und Portulak. Dabei werden nur ausgesuchte Teile der verwendeten Gemüsesorten so aufwendig bearbeitet und in Szene gesetzt, dass der Genuss dieses – bis auf die weißliche Crème – rein grünen Tellers trotzdem zu einem Essvergnügen ersten Ranges gerät. Die verschiedene Texturen und Temperaturen sorgen für unterschiedliche Bissfestigkeit und eine aromatische Vielfalt, die nur ein Vollprofi erreichen kann. Die leicht rauchig wirkende Crème schließlich verbindet alles stimmig – ein wunderbares Gericht mit einer Mundfülle, dem man kaum anmerkt, dass es rein vegetarisch ist.
Weniger komplex, aber keinen Deut schlechter gerät Saibling mit Bohnen. Der roh marinierte und ziemlich bissfeste Fisch wird hier von lange geschmorten grünen Bohnen begleitet, die so eine schier ungeahnte aromatische Intensität entwickeln; dazu kommen noch weniger intensive gelbe Bohnen und Kamillenblüten. Der Clou ist der mit Bohnen aromatisierte Fond, der mit sehr viel Butter veredelt wurde – dadurch bekommt diese leichte Kreation eine Süffigkeit, die regelrecht süchtig macht!
Nach den eindrucksvollen beiden ersten Gängen folgt ein wirklicher Höhepunkt, schlicht Blumenkohl genannt. Wer die Küche kennt, weiß natürlich, dass eine derartige Beschreibung pures Understatement bedeutet – so auch diesmal, denn allein schon der optisch ungewohnt mutige Teller überrascht. In mindestens einem halben Dutzend Varianten kommt der Hauptdarsteller hier auf den Teller (sogar ganz dünn gehobelt und dann geräuchert). Es erfordert zweifellos höchste Expertise und Akkuratesse, dieses rustikale und etwas sperrige Produkt so elegant und vielfältig wie hier zu inszenieren. Das ist aber kein Experimentieren um des Versuchs willen, sondern schmeckt so großartig und facettenreich, dass lediglich etwas Knoblauch, Kerbel und Kirschblütencrème den Hauptdarsteller dezent begleiten dürfen. Ein phänomenales Gericht!
Zum Hauptgang, Lamm mit Gurke, gitb es insofern eine Überraschung, da die Kreation auf zwei Teller verteilt wird – etwas, das ich hier bestenfalls vom Dessert kenne. Es macht aber durchaus Sinn, das saftig gegrillte und unwahrscheinlich diffizil gewürzte Lamm von den Gurken zu trennen, da das Fleisch auf einer Crème von Einkorn und Thai-Basilikum ruht und mit etwas Kapuzinerkresse gewürzt wird. Das à part gereichte Schälchen präsentiert unwahrscheinlich aufwendige Texturen von Gurken auf einem fermentierten Lauch-Öl sowie Blüten von Taubenkropf-Leimkraut (Sachen gibt’s …!). Ich sage es nur ungern, aber ich bezweifle, dass ich jemals besseres Lammfleisch gegessen habe – und das, obwohl doch Gemüse und Gewürze die Spezialdisziplin des Hauses sind! Das ist höchster Genuss für Fortgeschrittene!
Gerade bei den Desserts wird der Avantgarde-Charakter dieser Küche meist besonders offenkundig: auch diesmal gehört der Nachtisch, Kartoffeleis mit Kräutern, zu den gewagteren Einfällen. Das Eis wurde aromatisiert mit Schalen von gerösteten Süßkartoffeln (bitte nachmachen …) und mit einem Sud aus Kräutern wie Thymian, Kerbel und Estragon (die auch das Eis toppen) verfeinert. Auf einem eingedickten Streifen aus zerlassener Süßrahmbutter befinden sich auch noch vier hauchdünne Kartoffelscheiben, deren Veredelung ich nicht beschreiben kann. Ich mache mir da aber keine Vorwürfe, denn ähnlich einem Zauberer besteht die Kochkunst in diesem Haus ja genau darin, dass der Gast eben nicht immer versteht, wie man zu so einem Endergebnis kommen kann. Davor ziehe ich den Hut! Das Dessert schneidet viel besser als erwartet ab: die zurückhaltende, aber dennoch deutlich auszumachende Süße harmoniert mit den Kräutern erstaunlich gut. Ein Dessert, das den Horizont weitet. Das Konstanteste an diesem Haus sind zum Ausklang die hausgemachten Schokoladen, die wie immer jeden Grund zur Freude darstellen.
Zwei vollauf verdiente Michelin-Sterne und 18 Punkte im G&M – noch Fragen? Dieser Solitär in der deutschen Gastro-Landschaft genießt bei mir (und vielen anderen auch) praktisch uneingeschränkte Wertschätzung. Austauschbare Gerichte und vorhersehbare Langeweile sucht man hier vergebens – alle Gerichte sind äußerst durchdacht und handwerklich derart überzeugend, dass man sie kaum angemessen würdigen kann.
Zwei Neuerungen gab es dann doch: zum einen waren die Butzenscheiben durch normale Glasscheiben ersetzt worden (offenbar nur eine Maßnahme für den Sommer, die das Öffnen der Fenster erleichtern soll). Zum anderen gab es ein Novum, das mich fassungslos macht: bei diesem Besuch war ich tatsächlich der einzige Gast! Trotz (oder wegen?) strahlenden Sonnenscheins an diesem spätsommerlichen Nachmittag hatte sonst niemand den Weg hierher gefunden, doch bemerkenswert darin finde ich, dass mir dies nicht etwa seitens des Restaurants etwa eine Absage eingebracht hätte. Im Gegenteil: wenn es nur einen Gast gibt, dann ist es für Herrn Köthe auch weniger stressig und damit einfacher möglich, öfters an den Tisch zu kommen und die Gerichte höchstselbst zu erläutern – ein Service der etwas anderen Art! Ansonsten macht die Kellnerin einen soliden und guten Job, was gerade bei einem einzigen Gast gar nicht so selbstverständlich ist.
Fazit: die hier gebotene Qualität ist auch nach dem x-ten Besuch so was von beständig und stellt in Sachen Gemüse nichts weniger als „State of the Art“ dar. Wer sich das entgehen lässt, ist entweder ein reiner Karnivore oder hoffnungslos engstirnig!
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UPDATE (OKTOBER 2017)
Frei nach dem Motto „Was die Schwarzwaldstube kann, können wir schon lange!“ hat sich das Essigbrätlein ein Facelifting verpasst und das Interieur modernisiert. So sind beispielsweise einige der Holzvertäfelungen neuen Spiegeln gewichen, und überhaupt findet sich neuerdings Glas als Werkstoff im Gastraum. Das Sitzmobiliar wurde ebenfalls ausgetauscht, und die Spirituosen haben über der Kasse nun eine neue Bleibe gefunden. Der ganze Raum wirkt jetzt erheblich leichter und nicht zuletzt dank neu ausgeklügelter Beleuchtung auch heller – lediglich die Butzenscheiben sind geblieben und sorgen dafür, dass sich nach außen hingegen gar nichs geändert hat. Auch der Flurbereich und die Toiletten wurden erneuert, so dass einiges von der mutmaßlich originalen Bausubstanz inzwischen abgetragen und ausgetauscht wurde.
Da ich bei meinem letzten Besuch lange Zeit der einzige Gast war, tauchte Herr Köthe öfters als ohnehin schon an meinem Tisch auf, um auf profunde Weise die Gerichte zu erklären. Normalerweise wird jeder Gang der Menüfolge jedes Mal an einem anderen der Tische vom Chef selbst erklärt, aber wenn nur ein Gast da ist …
Doch damit nicht genug: nach gut einem Dutzend Besuchen in den vergangenen Jahren ließ sich zum ersten Mal sogar der andere Küchenchef Yves Ollech kurz blicken – er existiert also tatsächlich! Und noch eine Neuerung: erstmals gab es zwischen zwei Gängen noch eine Kleinigkeit zum Probieren – Sinn der Aktion sei, die Reaktion der Gäste bei Komponenten, die noch nicht den Weg in ein neues Gericht gefunden hätten, auszuloten. Bei mir war es ein Strunk von Endivien im Saft (!) derselben Pflanze. Na denn – bin gespannt, was daraus wird. Mir hat es jedenfalls zugesagt.
Und die Küche selbst? Es hat sich nichts geändert: auch nach fast 30 Jahren scheinen Herrn Köthe die Ideen nicht auszugehen und die Experimentierfreude nicht abhanden zu kommen. Wir können uns also weiterhin auf puristische, minimalistische und extrem durchdachte Gemüse-Hochküche freuen, die von der Süddeutschen Zeitung neulich sogar das Prädikat „Weltklasse“ verliehen bekam.
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Dezember 2016
Speziell an sonnigen Nachmittagen lässt sich vor diesem Lokal im Abstand von etwa fünf Minuten ein immer wiederkehrendes, skurriles Ritual beobachten: ahnungslose Touristen werfen einen Blick in den Schaukasten des Lokals, schütteln dann ob der Speisen und der Preise ungläubig mit dem Kopf und trollen sich leicht verstört ihres Weges. Was sie nicht wissen ist, dass sich hinter den Mauern aus Buntsandstein Nürnbergs bestes Lokal, das mit zwei Michelin-Sternen dekoriert ist, befindet. Rein optisch unterscheidet sich das schlanke Haus am Weinmarkt im Herzen der Nürnberger Altstadt kein bisschen von all den anderen Bratwurstlokalen, die es zu Hunderten in der Altstadt der Frankenmetropole gibt. Butzenscheiben und ein altmodischer Schriftzug beim Namen des Restaurants tarnen dieses außergewöhnliche Genuss-Refugium, das allerdings immer noch – man glaubt es kaum – zu den umstrittensten Lokalen Deutschlands gehört. (Kurioserweise ist das „August“ in Augsburg, ein anderes der – wenn auch aus ganz anderen Gründen – am kontrovers diskutiertesten Lokale in Deutschland, ebenfalls in Bayern angesiedelt.)
Hier seien zwecks besseren Verständnisses einfach mal zehn Eigenheiten dieses Lokals aufgelistet:
1) Wer in einem Sternerestaurant automatisch Kristalllüster und dergleichen erwartet, wird eine herbe Enttäuschung erleiden. Die Holzvertäfelungen innen sowie die mutmaßlich engste Toilette in einem deutschen Sternerestaurant sorgen für rustikale Atmosphäre.
2) Die Küche arbeitet mit zwei gleichberechtigten Chefkochs, Yves Ollech und Andree Köthe. Die kulinarischen Querdenker bilden eine Doppelspitze – ein Phänomen, das in der deutschen Spitzengastronomie ungefähr so häufig ist wie Wasser in der Sahara.
3) Eine noble und einzigartige Geste in diesem Preissegment stellt die Tatsache dar, dass es Wasser bei jedem Besuch umsonst gibt. Wo andernorts ohne weiteres 10 Euro für die Flasche fällig werden, erzielt man hier keinen Gewinn damit. Dafür ist die Weinkalkulation für meine Begriffe ziemlich aggressiv. Es sei aber angemerkt, dass das Essigbrätlein ohne Sponsor auskommen muss und ganz auf sich selbst angewiesen ist.
4) Das Servicepersonal besteht in der Regel aus nicht mehr als drei Kellnern, wobei einer davon in der Regel der charmante und sehr kompetente Sommelier Ivan Jakir ist.
5) Es gibt nur eine einzige Menüfolge pro Tag. Kürzungen sind möglich, Änderungen dagegen nicht unbedingt empfehlenswert oder gewünscht. Die aphoristische Kürze der Beschreibungen auf der Menüfolge verhüllt letztlich mehr als sie preisgibt.
6) Die Küche ist sehr gemüselastig und arbeitet gerne mit schon fast vergessenen Produkten wie Topinambur, Steckrüben oder Sauerampfer. Wer das Genießen verlernt hat oder es neu lernen möchte, ist hier goldrichtig. Die anspruchsvollen Menüs verlangen dem Gaumen einiges ab – umso beglückender ist meist aber das hinterher eintretende Gefühl. Für den allerersten Besuch in einem Sternelokal würde ich vom Essigbrätlein allerdings abraten wollen.
7) Showeffekte sind in diesem Lokal völlig fremd: was auf den Teller kommt, ist äußerst reduziert und wird ohne jegliche Effekte präsentiert. Minimalismus und Purismus sind die angesagten Schlagwörter.
8) Wer Genuss nur mit High-End-Produkten wie Kaviar, Trüffel, Hummer und Austern in Verbindung bringt, sollte dem Essigbrätlein am besten gleich fernbleiben. Das bodenständige Arbeiten mit einfachen, aber hochwertigsten Produkten steht hier absolut im Vordergrund. Zu manchen Bauern der Region haben die beiden Köche bereits ein so großes Vertrauensverhältnis aufgebaut, dass sogar bei der Suche nach hochwertigen Viktualien deren Äcker von ihnen betreten werden dürfen!
9) Sehr erfreulich ist, dass Herr Köthe sich mehrmals persönlich blicken ließ und die Speisen zudem manchmal selbst erläuterte. Sein Alter Ego, Yves Ollech, bekommt man dagegen praktisch nie zu Gesicht.
10) Frühzeitige Reservierung ist abends selbst unter der Woche empfehlenswert. Mittags sind die Chancen größer – und zum Kennenlernen ist der Besuch mittags ohnehin empfehlenswerter und preiswerter.
Als Andree Köthe das Lokal im Jahre 1989 eröffnete, war es ursprünglich nie als Spitzenrestaurant gedacht. Erst aufgrund der räumlichen Gegebenheiten für maximal zwei Dutzend Gäste reifte das Lokal nach und nach zu dem, was es heute ist. Als Yves Ollech Ende des letzten Jahrtausends dazu stieß, wurde die Küche immer raffinierter und konzentrierter. Was einst belächelt wurde, ist heute ein voll tragfähiges Konzept mit enorm viel Potential für die Zukunft. Speziell in Zeiten von Hypes um vegane Menüs und Gemüse ist diese Küche so modern wie nur denkbar.
Den Auftakt machte beim letzten Ma(h)l Saft von gegrillter gelber Paprika, verfeinert mit Holunder-Honig-Öl. Es folgte ein scharf gebratenes Blatt von Rosenkohl mit einem Schuss Sahne, und zu guter Letzt servierte man eingelegten Rettich mit Preiselbeeren. Alle drei Amuses waren exzellent und vereinten großen, wenngleich für Neulinge sicherlich ungewohnten Geschmack auf engstem Raum – hohe und doch ganz anders geartete Kunst, die in keine Schublade passen will.
Den Auftakt des fünfgängigen Menüs bildete Bohne mit Birnen und Zwiebeln. Das von der Farbe Grün in nur allen denkbaren Varianten dominierte Gericht vereinte grüne Bohnen mit einer delikaten Erbsencreme und winzigen Würfeln von Birnen und Zwiebeln – ein komplexes Gericht, das sogleich die volle Aufmerksamkeit des Essers forderte. Groß waren allerdings auch die geschmacklichen Dividenden, wenn man nur willens war, sich auf diese kleinteilige Komposition einzulassen.
Übersichtlicher, aber keineswegs eindimensionaler im Geschmack präsentierte sich das nächste Gericht mit dem Namen Saibling mit Hirse. Der marinierte und fast kalte Fisch bekam mit Hirse in diversen Texturen und ein paar Zitronenzesten nur wenige, aber dafür effektive Begleiter zur Seite gestellt. Spezielle die säuerlich-spritzige Note verlieh diesem Gericht eine besondere Note, das zum Highlight dieser exzellenten Menüfolge werden sollte.
Das vertrackteste und gewissermaßen am schwersten zugängliche Gericht war Grünkohl mit Meerrettich. Hier wurde in einer Art Millefeuille ein Türmchen errichtet, das hauptsächlich aus leicht gegrilltem Grünkohl bestand und eine fast schon fleisch-artige Konsistenz hatte. Obenauf war das Türmchen bedeckt mit Crème von Grünkohl sowie fein gehobeltem Meerrettich, Topinambur, Rote Bete und Maronen. Man kann nur erahnen, welch intensive Arbeitsvorgänge nötig sind, um ein derart subtiles Gericht zu schaffen, das seine Wirkung indes nur voll entfaltete, wenn man sich ganz dem Gericht hingab.
Das Hauptgericht Hirsch mit Lauch punktete neben ansprechender Optik mit einer ungewöhnlichen, aber erstaunlich zwingenden Begleitung: Rote Bete und Lauch verliehen dem mutig gebratenen Stück Fleisch spannende Kontraste. Ein komplexes Spiel zwischen Säure und dezenter Süße geriet so zu einem Essvergnügen allererster Güte. Ohnehin ist die sorgsam ausgelotete Mengenbalance zwischen den eingesetzten Komponenten ein Markenzeichen dieser Köche. In optischer Hinsicht scheinen sich derzeit die beiden Chefs dem überall grassierenden Trend der grauen Petrischalen-Optik anzuschließen; solche Spielereien hat diese Küche meines Erachtens gar nicht nötig, da das monotone Grau des Tellers eher verstört und den Fokus vom Wesentlichen ablenkt.
Das Dessert hat in diesem Haus immer wieder das größte Potential, um verstörend zu wirken. Dieses Mal jedenfalls überzeugte das Finale in Form von Petersilieneis mit Getreide auf ganzer Linie. Begleitet wurden die annoncierten Komponenten von einer mit Apfel aromatisierten Sahne und Saft von Sauerampfer. Die außerdem verwendeten Chia-Samen waren wohl der Mode geschuldet, da dieses Produkt momentan in jeder nur denkbaren Form (z.B. in Smoothies) als Wundermittel angepriesen wird. Wie dem auch sei: das ansonsten sehr weiche Gericht bekam dadurch mehr Biss und war vor allem dank seiner nur dezenten Süße eine Erfrischung allererster Güte. Warum diese farbenfrohe Komposition allerdings in einer tiefen grauen Schüssel serviert werden musste, bleibt ein wenig schleierhaft.
Den Abschluss bildete wie immer die Auswahl an hausgemachten Schokoladen. Die in den letzten Monaten als kleiner Bonus gereichte Kugel aus Luftschokolade wurde diesmal ersetzt durch getrocknete Quitte mit Zucker von Wacholder – einfach großartig!
Das Konzept des Essigbrätleins ließe sich allenfalls noch mit dem „Kai3“ auf Sylt vergleichen. Eine echte Konkurrenzsituation dürfte hieraus schon angesichts der räumlichen Entfernung nicht wirklich entstehen!
Nur wer hier mit einer falschen Erwartungshaltung herangeht, kann enttäuscht werden. Die stets rasch vergriffenen Plätze beweisen jedoch eindrücklich, dass die aufgeschlossenen Anhänger dieses ungewöhnlichen Lokals ganz klar in der Mehrheit sind und schon mal von Kroatien oder gar Japan anreisen! Ich möchte es jedenfalls auch nicht missen wollen.