Chopins Wiegenlied ist ebenfalls ein hochgradig stilisiertes Salonstück, das wie kein zweites Werk im Schaffen des Polen derart lange Melodiebögen von schwerelosem Charakter und makelloser Schönheit anbieten kann. Über einem nahezu im gesamten Stück ostinaten Bass entspinnt Chopin die kühnsten Variationen über eine einfache Melodie auf engstem Raum. Die ungeheure Dichte an Eingebungen binnen kürzester Zeit ist vielleicht das Kriterium, welches das Werk so leicht zugänglich und charmant macht. Auch hier ist es praktisch unmöglich, Rubinsteins Version außer Acht zu lassen, aber zwei andere seien hier dennoch erwähnt.
Unter den älteren Einspielungen empfinde ich diejenige von Arturo Benedetti Michelangeli bemerkenswert. Mit untrüglichem Gespür für subtilste Nuancen entlockt er der Berceuse klangliche Aspekte, von deren Entdeckung andere Pianisten nur träumen können. Der zurückgezogen lebende Italiener spielte bekanntlich nicht vieles ein, aber wenn er es tat, dann hatte er praktisch immer etwas Wichtiges zu sagen – selbst wenn er dabei nur ein (zugegebenermaßen außergewöhnliches) Salonstück einspielte.
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Bei den Interpreten heutiger Tage hat die Portugiesin Maria Joao Pires die Nase weit vorn. Ihre ganze Art, Klavier zu spielen, findet in Chopins Berceuse eine kongeniale Entsprechung: federleichte Poesie ganz ohne Affekt, aber mit gedankliche Tiefe und zartesten Nuancen im Anschlag. Es lässt sich kaum ein Werk vorstellen, das Pires noch mehr wie auf den Leib geschneidert zu sein scheint.
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