Das fundamental Neue an Chopins Übungen ist ihr weit überdurchschnittlich musikalischer Gehalt: den Stücken haftet nichts Biederes, Langweiliges oder rein Mechanisches an – wie es beispielsweise bei den Etüden von Carl Czerny der Fall ist. Stattdessen kreiert Chopin hochmusikalische Stücke, die dem romantischen Ideal des „Dichters in Tönen“ sehr nahe kommen – dies um so mehr, wenn man bedenkt, dass es sich eigentlich um Fingerübungen handelt. Längst sind Werke wie die Revolutionsetüde, die Schwarze-Tasten-Etüde oder die Harfenetüde prominente Vertreter dieser Werkgruppe geworden.
Maurizio Pollini konnte als 18-Jähriger den renommierten Chopin-Wettbewerb 1960 nicht zuletzt aufgrund seiner bereits in derart jungen Jahren makellosen Technik gewinnen. Über diese sagte der Präsident der Jury, Artur Rubinstein persönlich, dass sie bereits wäre als diejenige aller Mitglieder in der Jury – einschließlich seiner eigenen. Einen schöneren Beweis für die Korrektheit dieser Aussage als seine Aufnahme der Etüden Chopins aus dem Jahre 1972 könnte es kaum geben. Mit stählernen Handgelenken, forschem Zugriff und unbändiger Kraft meistert er die Etüden – hier gibt es kein Verschleiern minderwertiger Technik mit dem Pedal oder ein Entschleunigen von heiklen Passagen. Jeder Ton sitzt perfekt und ist genau so wie er klingt auch gewollt. In technischer Hinsicht ist diese Aufnahme bis zum heutigen Tage nicht übertroffen worden, zumal die Werke zu Pollinis strukturalistischem und leicht akademischen Stil besonders gut passen.
Die einzige Aufnahme, die ihr leichte Konkurrenz macht, ist laut Kritikermeinung diejenige von Murray Perahia. Dies mag ein wenig warmherziger sein, aber in puncto Technik zieht Perahia klar den Kürzeren. Daher lautet meine Empfehlung, uneingeschränkt auf Pollini zu setzen.
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Unter den historischen Aufnahmen findet sich ein echtes Juwel der Terzen-Etüde op. 25,6. Sie zählt zu den gefürchtetsten Stücken in der Sammlung und ist oft ein echter Maßstab dafür, ob man diese Fingerübungen bewältigen kann. Die Einspielung von Josef Lhévinne ist in ihrer atemberaubenden Präzision und vor allem halsbrecherischen Tempo bis heute unerreicht geblieben. Eine echte Kostbarkeit vergangener Tage!
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Die Etüden Chopins haben auch die Fantasie nachfolgender Pianisten und Komponisten beflügelt. Von den ohnehin schon recht schweren Etüden gibt es von Leopold Godowsky weitere Studien, die auf den Etüden Chopins basieren. Diese Kompositionen des einmaligen Pianisten zählen zu den schwierigsten Werken der gesamten Klavierliteratur – und sind damit eine ideale Visitenkarte für den kanadischen Pianisten Marc-André Hamelin. Diese als nahezu unspielbar geltenden Stücke meistert der Virtuose mit einer nicht für möglich gehaltenen Souveränität und Präzision, die einem die Sprache verschlägt. Einlegen, anschnallen und staunen!
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