Frédéric Chopin (1810 – 1849): Nocturnes (Standardrepertoire)

Chopins Nachtstücke sind zugleich die beispielhaftesten und persönlichsten Bekenntnisse des polnischen Komponisten. Die ungewöhnlich kühne Harmonik und die besonders langen Melodiebögen von hinreißender Schönheit hieven diese Werke in den erlauchten Kreis der besten Kompositionen, die die romantische Klaviermusik zu bieten hat. Irrtümlicherweise wird oft angenommen, Chopin hätte die Gattung der Nocturnes erfunden, aber dieser Verdienst gebührt dem irischen Komponisten John Field. Vielmehr hat Chopin die klanglichen und expressiven Möglichkeiten dieser Gattung subtil ausgelotet und auf ein ganz anderes Niveau als noch bei Field angehoben. Als Ergebnis dessen sind die Schöpfungen Fields heute praktisch vergessen, während Chopins Beiträge zum absoluten Standardrepertoire gezählt werden dürfen. Dennoch ist es erstaunlich, wie viele Pianisten die Nocturnes im Repertoire haben, da sie technisch durchaus anspruchsvoll sind, aber keinerlei Schauwerte besitzen, mit denen man das Publikum beeindrucken könnte. Vielmehr gilt es, das fragile Stimmgeflecht perfekt auszuloten und Seelenbekenntnisse der intimsten Art plastisch zu gestalten und vor dem Hörer auszubreiten.

Trotz einer in den letzten Jahren durchaus stattlich angewachsenen Zahl von Gesamteinspielungen gibt es nach wie vor eine, die der Perfektion so nahe wie möglich zu kommen scheint: diejenige von Ivan Moravec. Der im Jahre 2015 verstorbene tschechische Pianist zählt nach wie vor zu den echten Geheimtipps unter den großen Pianisten. Dieser gänzlich unprätentiöse Interpret hatte nur ein schlankes Repertoire, das er indes zur Perfektion ausfeilte. Seine spärlichen Auftritte waren umjubelte Ereignisse, obwohl Moravec stets werkdienlich und nicht zugunsten der eigenen Persönlichkeit spielte. Außerdem hatte Moravec in praktisch allen Werken, die er in sein Repertoire aufnahm, etwas Wichtiges, Besonderes oder Außergewöhnliches mitzuteilen.

Seine Einspielung der Nocturnes von 1965 wurde nochmals klanglich restauriert. Die unanfechtbare künstlerische Qualität dieser Einspielung ist heute geschätzter denn je und durch die Verbesserung des Klangs noch wertvoller geworden. Moravec kreiert die perfekte Balance von Intellekt, Emotion und Polyphonie zwischen den Stimmen. Wie schwerelos schweben die Melodien unter seinen Händen dahin – eine Einspielung für die Ewigkeit.

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Zwei weitere Einspielungen seien hier trotzdem noch erwähnt. Der umstrittene bulgarische Pianist Alexis Weissenberg galt als hochintelligent, aber auch als streitbar. Seinen Interpretationen haftete häufig etwas hochgradig Individuelles oder Verstörendes an. Auch seine Deutung der Nocturnes ist unter Kennern umstritten – insbesondere die zwei Nocturnes op. 27 sind aber meines Erachtens noch nie eindringlicher gespielt worden. Weissenbergs Tempi sind durchaus zügig und sein Anschlag (wie immer) vergleichsweise hart, aber allzu konturloses Spiel hat diesen Werken schon häufig den Todesstoß in Form von unsäglicher Langeweile versetzt. Diese Aufnahme wird auf jeden Fall starke Emotionen hervorrufen – entweder in die eine oder die andere Richtung. Außerdem ist diese Doppel-CD seit Jahren vergriffen und wird auch im gebrauchten Zustand (oder als Import aus Japan, wo sie zur Zeit lieferbar ist) eine Stange Geld kosten.

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Vollständig wäre diese Abhandlung über die Nocturnes jedoch nicht, wenn ich hier die Einspielung des Es-Dur-Nocturnes op. 55,2 von 1936 mit Ignaz Friedman übergehen würde. Warum? Nun, nicht wenige Enthusiasten halten es für möglich, dass dies die beste Einspielung eines Werkes von Chopin aller Zeiten sein könnte. Wie plastisch Friedman das polyphone Geflecht der zwei Gegenstimmen gestaltet, ist nicht von dieser Welt – außerdem ist die Modernität seines interpretatorischen Ansatzes seiner Zeit weit voraus. Puristen mögen sich an der fast schon jazz-artigen Auslegung des Rhythmus mokieren, aber alle anderen können ob dieser Sternstunde nur demütig staunen. Mein Klavierprofessor war jedenfalls fassungslos, als er mit dieser Aufnahme konfrontiert wurde – kein Superlativ sei ihr angemessen genug.

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