„Schmucklos ist ja noch nicht geschmacklos.“ (Georg Christoph Lichtenberg)
November 2021
Zugegeben: man würde in einer derart ländlichen Gegend nicht unbedingt ein Sternerestaurant erwarten. Das im Dreiländereck von Niedersachsen, Hessen und Thüringen gelegene Friedland dürfte den meisten Lesern daher auch nur wenig sagen – es sei denn, sie sind sattelfest in deutscher Geschichte und erinnern sich an das Durchgangslager, welches sowohl bei der sogenannten Heimkehr der Zehntausend 1955 (die Rückkehr der letzten deutschen Soldaten aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft) als auch beim Zusammenbruch der DDR eine große Rolle spielte. Dem heute noch existierenden Lager ist im Bahnhof der Stadt ein ansprechendes und überraschend informatives Museum gewidmet worden, doch ansonsten dürfte es nur wenige Gründe geben, sich hierher zu verirren.
Wie ich später erfahre, sind die meisten Gäste der Genießer Stube Stammkunden aus Kassel oder Göttingen bzw. Touristen auf der Durchreise nach Dänemark oder in südliche Gefilde. Gerade für diese bietet sich eine Stippvisite durchaus an, da die Betreiber des unweit von der A7 entfernten Landhaus Biewald, in welchem sich das Lokal befindet, eben auch ein Hotel zur Übernachtung offerieren. Ansonsten wirkt der Ort gerade an diesem trüben Nachmittag im November wie verwaist: neben ein paar Spaziergängern auf dem kleinen Kirchplatz, der von ein paar putzigen Fachwerkhäusern gesäumt wird, gibt es weit und breit keine Spur von Geschäftigkeit – wie zur Bestätigung werde ich der einzige Gast an diesem Nachmittag bleiben. Es verwundert mich praktisch schon bei meiner Ankunft, dass so ein Lokal nachmittags überhaupt geöffnet hat. Zwar ist es wahr, dass die Betreiber hier auch noch Catering anbieten, doch um diese Jahreszeit und angesichts der aktuellen Situation dürfte die Nachfrage derzeit eher gering sein. Na gut, mir soll’s recht sein, wenn trotzdem geöffnet ist …
Man geleitet mich nach der Ankunft an meinem Tisch in einer Art angebauten Wintergarten. Eher klassisch eingedeckt, dürfte auch dem letzten Gast schnell klar werden, dass hier eine solide Hochküche ohne Schnickschnack offeriert wiird. Chefkoch Daniel Raub stellt sich mir sogleich persönlich vor und erzählt ein wenig von der Geschichte des Lokals und seinen Gepflogenheiten. Mittags bietet man hier neben einer Auswahl à la carte auch ein sogenanntes Tassenmenü an (fünf Tassen zu € 55), das praktisch die Quintessenz der Küche auf engen Raum in Tassen drängt. Ich verzichte auf diese Option, doch weshalb ich dies später noch bereuen sollte, wird später deutlich werden.
Zu einem alkoholfreien Traubensecco vom Weingut Schwaner aus dem unterfränkischen Volkach trägt man eine nette Brotauswahl mit aufgeschlagenem Ziegenkäse und Salzbutter auf. Der Höhepunkt ist natürlich die mit Lardo gratinierte Sylter-Royal-Auster, die zu überzeugen weiß.
Als Gruß aus der Küche tischt man Tatar vom Dakota-Rind auf. Darauf drapiert die Küche Wachtelei und etwas geriebene Belper Knolle. Das halbflüssige Ei auf diese Weise zu begleiten entpuppt sich als reizende Variante, die dabei den klassischen Grundcharakter bewahrt und mit sicherer Inszenierung zu punkten vermag. Ganz nett, mehr aber auch nicht.
Zu wie immer hervorragendem Scheurebensaft aus dem Hause Van Nahmen tischt man als ersten Gang Terrine von Seezunge und Ora King Lachs auf. Die fruchtbetonte Begleitung aus verschiedenen Texturen von Mango sowie der knusprige Charakter von Topinambur-Crunch und Salat erweist sich dabei als weitaus gelungener als das Hauptprodukt. Leider kann ich mich nicht entsinnen, wann ich zuletzt ein derart mattes und ausdrucksloses Produkt wie diese Terrine verkostet habe: sowohl die beiden Fische als auch die mit Safran veredelte Fischfarce machen geschmacklich derart wenig her, dass zwischen den beiden Hauptdarstellern praktisch kein Unterschied zu schmecken ist. Entweder war bereits die Produktqualität drittklassig oder die Zubereitung vermochte nicht, auch nur annähernd das geschackliche Optimum herauszuholen. Wie dem auch sei: ein schwacher Einstieg wie lange nicht.
Beim nächsten Gang zieht das Niveau zum Glück an: Junghennenei, welches von einem Hofgut im nahe gelegenen Klein Schneen stammt, weist in der Tat eine beachtliche Qualität auf. Die Kombination mit Räucheraal und Kaviar lässt dabei den jodigen, salzigen und fettlastigen Aromen genug Raum, um auf stimmige Weise miteinander zu korrespondieren. Da das Ganze auf Kartoffelmousseline und Blattspinat gebettet wird, federt Daniel Raub die Intensität der Aromen auf diese Weise etwas ab und sorgt so für ein an sich schlüssiges Gericht, das sehr viel besser als der Vorgänger gelingt. Alkoholfreier Riesling von Van Nahmen rundet diesen Eindruck ab.
Ein von der Küche eingestreutes Beispiel für das Tassenmenü verdeutlicht, dass die Gerichte, die à la carte auf dem Menü stehen, hier mittags auch zu wesentlich günstigeren Preisen in komprimierter Form angeboten werden. Allerdings ist es schwer vorstellbar, dass diese ungewöhnliche Anrichte bei jedem Gang gleichermaßen gut funktionieren kann. Bei Spinatrisotto „Florentiner“, gebratener Jakobsmuschel und Alba-Trüffel bleiben die Komponenten trotz allem trennscharf und solide umgesetzt. Dabei ist jede Zutat per se untadelig: das Risotto weist eine schöne Cremigkeit auf (mit dem Exemplar vom Le Cerf kann es jedoch nicht annähernd mithalten), die Jakobsmuschel ist schön glasig, und auch der Alba-Trüffel wird nicht zugedeckt. Dennoch empfinde ich eine Kombination von Jakobsmuschel und Risotto an sich als gekünstelt, woran dieses Gericht jedenfalls nichts zu ändern vermag.
Vorweihnachtlich wird es bei einem Granité von Granatapfel, welches mit Zimt, Rotwein und Koriander aromatisiert wurde. Trotz des säuerlichen Granatapfels gerät dieser als Erfrischung gedachte Einschub ziemlich mächtig und hätte auf keinen Fall süßer interpretiert werden dürfen.
Beim Hauptgang steht Rehrücken im Mittelpunkt des Geschehens: der mit klein gestoßenen und frittierten Pinienkernen getoppte Hauptdarsteller ist vermutlich mit Absicht nicht gleichmäßig rosa gebraten, doch die Rechtfertigung dafür bleibt eher aus. Dafür bietet die Entourage trotz einer fast schon optischen Überbeanspruchung Grund zur Freude: speziell die ungewöhnliche Tonkabohnenjus lässt eine individuelle Handschrift erkennen, während Romanesco, geschmortes Rotkraut und Dauphin-Kartoffeln ein bewährtes, aber schlüssiges Ensemble bilden. Der flüssige Kompagnon verdient eine besondere Erwähnung, denn Morellenfeuer von Van Nahmen ist ein optimaler Begleiter, der mit seinem leicht herben Abgang die typischen Bitterstoffe von Wildgerichten bestens auffängt.
Dagegen erweist sich das ausgesprochen brave und einfallslose Dessert wieder als ein kreatives Armutszeugnis, welches den aufgerufenen Preis von € 19 in keinster Weise zu rechtfertigen vermag: das Dreierlei von belgischer Schokolade kommt in absolut erwartbaren sowie langweiligen Texturen auf den Teller (Kuchen, Mus und Vanille-Parfait im mit Schokolade ummantelten Kegel) und schafft es nicht, das Mittelmaß in irgendeiner Form zu durchbrechen. Die filetierten Scheiben von marinierter Ananas können ebenfalls schwerlich als state-of-the-art erachtet werden, so dass unterm Strich der winzige, als Pré-Dessert eingestreute und auf Loriot zurückgehende „Kosakenzipfel“ (ohne Foto) aus Brandteig, Mokkacrème und Zitronenbällchen sogar einen stärkeren Eindruck als dieser fade und uninspirierte Ausklang hinterlässt. Auf demselben Niveau bewegt sich der Schlussakkord in Form von Mini-Madeleine auf Passionsfrucht und Sahne – auch hier die reine Biederkeit, die selbst anspruchslose Gäste kaum vom Hocker reißen dürfte.
Fassen wir den Nachmittag so zusammen: zu selten konnte mich die Küche hier begeistern, dass ein weiterer Besuch hier nochmals unbedingt sein müsste. Neben einer angesichts der gezeigten Darbietung relativ forschen Kalkulation war es vor allem ein immer wieder bemerkbarer Mangel an echtem Esprit, der sich bei der Vorspeise und insbesondere dem Dessert am deutlichsten manifestierte. Sicherlich geriet so mancher Gang besser als andere, aber die Gerichte waren allesamt recht brav und praktisch risikofrei inszeniert, wobei die Küchenleistung bei den hochpreisigen Viktualien nicht so sehr kaschiert wurde wie bei den profaneren Produkten. Dennoch gab es hier praktisch keinen Teller, dessen Inhalt mir in ähnlicher Form nicht schon mehrfach in erheblich besserer Qualität und mit mehr Inspiration untergekommen wäre. Für einen Einsteiger in die Szene mag das für einen gewissen Grad an Beeindruckung ausreichen, doch erfahrenere Gourmets werden hier schnell ein gewisses Maß an Langeweile nicht abstreiten können. Serviceleiterin Anne Raub, die Ehefrau des Chefs, kann einerseits mit sicheren (alkoholfreien) Getränkeempfehlungen überzeugen, aber andererseits fällt es ihr doch recht schwer, so etwas wie echte Herzlichkeit auszustrahlen. So gerät der Nachmittag eher akademisch und wenig persönlich, denn mein Versuch, sie in ein Gespräch zu verwickeln, erreicht letztlich nicht allzu viel. Gerade bei einem Landgasthof wundert mich diese Attitüde dann doch ein wenig.
Das weitgehende Bemühen der Küche, die Produkte ohne großartige Verfälschung und mit einer gewissen Natürlichkeit zu präsentieren, ist an sich fraglos löblich. Leider gelang es jedoch längst nicht immer, den Eigengeschmack der Produkte ins beste Licht zu rücken, was vor allem bei der matten Vorspeise besonders augenfällig wurde. Insofern bot dieser Mittag in den besten Momenten ein solides Handwerk, aber kaum mehr. Die Qualität der kompilierten Menüfolge entsprach durchaus den Noten der einschlägigen Guides und bestätigte letztlich meine Vermutung, dass der Besuch zu einer mittelprächtigen (und recht teuren) Angelegenheit werden würde. In Niedersachsen reicht das amüsanterweise immer noch für eine Platzierung unter den besten zehn des Bundeslands, während in Baden-Württemberg nicht mal Rang 25 drin wäre.
Sollte ich nochmals hier aufkreuzen, dann würde ich dies auf jeden Fall wieder mittags tun und mich dann für das erheblich günstigere Tassenmenü entscheiden. Weitere echte Gründe für einen erneuten Besuch drängen sich mir ansonsten nicht wirklich auf.
Mein Gesamturteil: 15 von 20 Punkten
Genießer Stube
Weghausstraße 20
37133 Friedland
Tel.: 05504/93500
www.geniesserstube.de
Guide Michelin 2021: *
Gault&Millau 2021: 16 Punkte
GUSTO 2022: 7 Pfannen
FEINSCHMECKER 2021: 3 F
4 Gänge à la carte: ca. € 130