„Im Abschied ist die Geburt der Erinnerung.“ (Salvador Dalí)
Februar 2023
Mit alles andere als einladendem Wetter empfängt das ansonsten durchaus malerische Weserbergland an diesem Abend seine Gäste – nass, kalt und windig. Angesichts der früh einsetzenden Dunkelheit führt uns unser Weg schnurstracks zum Ziel: das außerhalb von Aerzen liegende Schloss Schwöbber, welches an der Deutschen Märchenstraße liegt und neben dem Luxushotel Münchhausen ein Gourmetrestaurant offeriert, welches im äußersten Südwesten von Niedersachsen praktisch konkurrenzlos ist. Anlass unseres Besuches ist der Abschied von Chefkoch Achim Schwekendiek, der nach fast zwanzig Jahren an derselben Wirkungsstätte ein neues (inzwischen geöffnetes) Lokal namens Speisekammer Anno 1583 im gut 30 Minuten entfernten Ratskeller in Rinteln etablieren wollte. Ursprünglich war offenbar mal angedacht, beide Tätigkeiten unter einen Hut zu bringen, aber dem schob die Geschäftsleitung des Schlosshotels offenbar einen Riegel vor und kündigte ihrem Küchenchef. In der Zwischenzeit wurde für das Gourmetrestaurant des Schlosses Oliver Barda (von Heiligendamm gekommen) als neuer Küchendirektor verpflichtet – dass dies einem Neuanfang gleichkommt, verdeutlichte auch der Guide Michelin, der in seiner jüngst vorgestellten Ausgabe dem Haus vorerst den Stern entzog. Der vorliegende Bericht ist somit eher eine Referenz an eine zu Ende gegangene Ära, darf aber dennoch als Fingerzeig verstanden werden: einerseits, welches Niveau den geneigten Gast in Rinteln möglicherweise erwartet, und andererseits, an welchen Maßstäben sich die neue Leitung des Gourmetrestaurants in Aerzen messen lassen muss. Laut Ankündigung des Chefs wird es an neuer Wirkungsstätte in Rinteln etwas schlichter zugehen, aber nach zwanzig Jahren Hochküche darf ein derart verständlicher Wunsch gerne artikuliert werden.
Schon der Gang vom Portal des Schlosses in den illuminierten Hof ist trotz des abweisenden Wetters ein kleines Ereignis, doch der Weg von der Rezeption zum Restaurant toppt das Ganze nochmals locker. Man passiert dabei unweigerlich das atemberaubende Kaminzimmer und damit eines der absoluten Prunkstücke des Hotels, das kaum typischer für den hier vorherrschenden Baustil der Weserrenaissance sein könnte. Schnell wird auch dem letzten Gast hier klar, dass in diesem altehrwürdigen Ambiente wohl eine eher klassisch fundiere Küche zu erwarten ist: der Speisesaal in crèmefarbenen Tönen ist so elegant und feudal eingerichtet, dass er dem häufig kolportierten Klischee der ach so steifen und biederen Hochküche durchaus entspricht. Und dennoch: old school wird immer rarer, und so kann allein schon deshalb ein solches Ambiente zur Abwechslung mal sehr wohltuend geraten. Silberbesteck, Stoffservietten und Kristalllüster stellen eine folgerichtige Ergänzung dar und lassen keinen Zweifel daran, dass hier noch einer selten gewordenen Tafelkultur gefrönt wird.
Zum Auftakt schickt die Küche zu einem alkoholfreien Sekt folgende vier Petitessen: ein Topinambur-Chip mit einer Crème desselben Produkts und etwas geröstetem Sesam (hinten rechts), dann Wachtel und Eigelb ummantelt von frittiertem Sellerie (hinten links), ein ovaler Taler mit Pilzcrème und Blauschimmelkäse (außen auf dem kreisförmigen Sockel) und ein Beef Tatar mit etwas Tomate in einem Knusperröllchen (innen). Alles in allem lässt das ein solides Niveau erkennen, bei dem das letzte Maß an Präzision allerdings fehlt: so ist der Geschmack wegen verwaschener Texturen teils nicht so trennscharf wie gewünscht oder nicht so tief wie erstrebenswert.
Zur Auswahl steht ein fünfgängiges Menü (€ 145), das um bis zu drei weitere Optionen erweitert werden kann. Meine Begleitung entscheidet sich für die Basisversion, während ich noch einen Gang separat wähle und letztlich bei € 170 enden werde. Zwischenzeitlich trägt man jedoch schon mal die Brotauswahl auf, die aus einem Sauerteigbrot und einem Laugenbrötchen besteht. Neben der klassischen Salzbutter gibt es noch einen weiteren cremigen Aufstrich, der mit mehreren Käsesorten veredelt wurde und überzeugend gelingt.
Vor dem Auftakt ins Menü schickt die Küche allerdings gleich zwei weitere Amuses ins Rennen, die erheblich besser als die Apéros zu Beginn geraten: marinierten Saibling aus der Region paart die Küche mit Ceta-Kaviar und einer erfrischenden Schnittlauchcrème. Für etwas Biss sorgt noch ein mit Jakobsmuschel aromatisierter Chip, so dass unterm Strich ein sehr ausgewogenes Gericht mit dezenter Salinität und reizenden Texturen steht, mit welchem das Niveau deutlich anzieht.
Auf etwas weniger Begeisterung trifft das Foie-gras-Parfait im zweiten Amuse, das von Feigensenf und Hagebuttengelée umspielt wird. In dieser sicheren, wenn auch risikoarmen Umsetzung einer klassischen Kombination gibt es vor allem die leicht körnige und damit suboptimale Konsistenz der Leber zu bemängeln.
Für eine gewisse Erheiterung sorgt bei uns das „kompetente“ Gespräch der vier anderen Gäste dieses Abends über die Tische hinweg: demzufolge kocht jetzt Eckart Witzigmann in Aschau (das war mir neu …), das Bareiss ist gemäß ihrem Urteil ganz hervorragend, obwohl sie dort bislang „nur einen Kaffee getrunken haben“ und leider wollte ihnen der Name des „bekannten Orts in Baden-Württemberg“, in welchem sich das Restaurant von Alexander Herrmann befindet, partout nicht einfallen: er heißt übrigens Wirsberg und liegt in Oberfranken …
Solche und weitere Anekdoten dieser Art gab es zuhauf an diesem Abend, aber zwischendurch wollten wir unsere Aufmerksamkeit doch mal wieder den Speisen widmen: in durchaus farbenfroher Optik inszeniert die Küche hier für meine Begriffe eine Art Neuinterpretation eines Caesar Salad: als Hauptprodukt kommt gegarte und geflämmte Gronauer Garnele aus der Region zum Einsatz. Der geschwungene Krustentierchip obenauf mit Speisestärke (als eine Art Parmesan-Ersatz) und der knackige Romana stellen für mich eindeutige Referenzen dar, während Fenchelmousse und -sud eigenwillige Komponenten darstellen. Die herbe und eingelegte Moltebeere (ein seltener Gast auf Speisekarten) spendet noch etwas belebende Säure in einem Gericht, das geschmacklich eher etwas plakativ gerät und an der Grenze zur Überfrachtung wandelt. Dennoch kann und will ich nicht verhehlen, dass die launige, ja hinreißende Optik und die an den Tag gelegte Kreativität die fehlende Feinjustierung durchaus kompensieren.
Weiter geht es mit auf der Haut gegrillter Forelle in einer Fischvelouté von beachtlicher Intensität. Umspielt wird der Hauptdarsteller mit Crème und Brunoise von Rettich, wobei Espuma und Blätter von Portulak ebenfalls zu ihrem Recht kommen wollen und die aromatische Ausrichtung des Tellers nicht unbedingt auf vorteilhafte Weise ergänzen. Ein subtiler und selten gelungener Einfall ist hingegen die Beigabe von grüner Erdbeere mit wohltuender Säure. Trotz handwerklich stimmiger Einzelkomponenten passiert wieder recht vieles auf diesem Teller, das die Harmonie eher zu beeinträchtigen als zu bereichern droht.
Der an dieser Stelle eingeschobene Zusatzgang besteht aus Tatar von der Schwertmuschel mit Kaviar, doch die größere Aufmerksamkeit beansprucht nicht nur in puncto Optik, sondern auch Intensität die Kerbelwurzel in Form von Espuma und mit Thymianöl gefüllten Gnocchi. Ob die Beigabe von Johannisbeere notwendig war, will ich hier nicht weiter erörtern, sondern eher betonen, dass der delikate Geschmack der Muschel wegen der dominanten Begleiter nicht sonderlich gut zur Geltung kam – was umso bedauerlicher ist, da die Idee mit den Gnocchi reizend ist und das gezeigte Handwerk an sich untadelig ist. Einmal mehr ist die geschmackliche Balance jedoch das Kriterium, das zur nicht vollständigen Zufriedenheit beiträgt.
In gleich zwei Varianten dekliniert die Küche das Lamm im nächsten Gang durch: im Teller labt sich der Hauptdarsteller an einem Sauerkraut-Espuma und ist in einen Mantel aus roter Bete gekleidet. Zur aromatischen, durchaus kühnen Verfeinerung setzt man hier noch etwas Senfsaat und Tropfen von Sanddorngel ein. Auf dem Satelliten mit der gläsernen Kugel und der recht wuchtigen, nicht essbaren Deko thront noch herzhafte Lammsülze auf einem Rote-Bete-Baiser. Überaus klassisch gerät dieser Gang nicht, doch alles in allem besticht er mit kompaktem Geschmack und größerer Harmonie als zuvor. Die wohltuende Intensität vor dem Hauptgang und die sublime geschmackliche Abrundung machten daraus den bisher besten Gang des Abends.
Ein Sorbet aus Feldsalat mit einem Pulver von dehydrierter schwarzer Zitrone (Loomi) und etwas Pilzöl bildet die animierende, durchaus originelle und überraschend gut funktionierende Überleitung zum Hauptgericht.
Vom Reh gelangt zum Hauptgericht confierte Keule und gebratener Rücken auf den Teller. Crème und Chip von Süßkartoffel einerseits sowie geschmorter Rotkohl (auch als Sud und Gel auf dem Teller zu finden) sorgen für spannungsgeladene vegetabile Kontraste, wobei Wacholder eine pointierte Abrundung darstellt. Trotz durchaus nicht zurückhaltender Optik und einer geradezu überbordenden Vielfalt an Texturen ist diese Kreation in stärkerem Maße als erwartet auf die Produktqualität des Hauptdarstellers fokussiert, dessen Vorzüge hier in beachtlichem Lichte erscheinen – definitiv einer der stärkeren Beiträge des Abends.
Vor dem Dessert erscheint der Chef Achim Schwekendiek im Speisesaal und erteilt bereitwillig Auskunft über seine Zukunft: sein bisheriges Team werde im Schloss Schwöbber verweilen, so dass eine neu zusammengestellte Truppe in Rinteln ab April an den Start gehen wird. Das Signieren meines Buches aus der Gourmetreihe der SZ-Edition ist für ihn dabei genauso selbstverständlich wie ein Foto zur Erinnerung an die alte Wirkungsstätte. Mal sehen, ob ich es in Rinteln irgendwann einrichten kann …
Als wirklich charmantes Pré-Dessert von reduzierter Süße erweist sich ein Shisosorbet auf einem Shisoblatt, das mit einer Orangencrème und einem Crumble von weißer Schokolade ansprechend und harmonisch begleitet ist – einmal mehr zeigt sich, dass des Chefs Arsenal an Ideen durchaus beachtlich ist, nur nicht immer in demselben Maße funktioniert. Diese Eingebung gehört jedenfalls zu den besten und inspiriertesten.
Der Verzicht auf allzu plakative Süße kennzeichnet auch das echte Dessert: die rechtwinklig übereinander aufgeschichteten Blätter aus Opalys (weißer Schokolade) und dunkler Schokolade stützen ein Sorbet von Petersilie. Ein Gelée von Essigbaumfrucht sowie die Ummantelung der beiden Baiserstifte aus demselben Produkt verleiht dem Gang dabei ein genauso ungewöhnliches Gepräge wie die Crème von Kaffee. Vielleicht hätte dem Gang eine etwas bissfestere und weniger weiche Komponente noch gutgetan, aber an der grundsoliden Idee eines komplexen grünen Desserts mit ausgeprägt herben Noten ändert dies nichts. Zusammenfassend lässt sich außerdem behaupten, dass die Küche doch nicht so klassisch wie vermutet auftritt.
Kürbistörtchen, Kokospraline, Ruby-Praline mit Orange und das klassische Cannelé runden diesen ungewöhnlichen Abend eher konservativ, aber gelungen ab.
Positiv am Küchenstil von Achim Schwekendiek fiel uns insbesondere das Streben nach individuell gestalteten Tellern auf, die sich einfachen Vergleichen entziehen wollen und sowohl mit seltenen Produkten als auch mit kühnen Kombinationen auf sich aufmerksam machen. Die Bewertung dieser Stilistik schwankt allerdings von Teller zu Teller, denn nicht immer gelang die Umsetzung der kreativen Einfälle im selben Maße. Als kritisch erwies sich meist die geschmackliche Balance, die gelegentlich angesichts zu vieler Komponenten oder zu wenig trennscharfer Texturen gefährdet war. Ein weiterer Knackpunkt war die geschmackliche Tiefe, die angesichts knallig umspielter Hauptprodukte bisweilen in den Hintergrund zu treten drohte. Andererseits kann man nicht abstreiten, dass es diesem Chef immer wieder gelingt, fast schon bizarr anmutende Kombinationen zu rechtfertigen und seinen Kreationen damit eine eigene, herausfordernde Note zu verleihen, so dass es mir gerade noch für 17 Punkte ausreichte. Angesichts der bisherigen Ankündigungen darf man wohl eher davon ausgehen, dass die neue Wirkungsstätte in Rinteln eine etwas einfachere Küche und mehr Klarheit im Stil erfordern wird und damit eine gewisse Modifikation des Credos notwendig wird. Ob hingegen der Nachfolger im Schloss Schwöbber eine andere Ästhetik einschlagen oder dieser Linie weitgehend treu bleiben wird, hängt vielleicht auch davon ab, in welchem Maße der bisherige Souschef seinen Einfluss wird geltend machen können.
Da sich an diesem regnerischen Abend nur sechs Gäste ins Restaurant „verirren“, reichen zwei Servicekräfte für den Abend völlig aus. Insbesondere der vom Landhaus Biewald (im November 2021 bereits von mir besucht) gekommene Mathis Ahlers liefert eine tadellose und eine sich nah am Gast orientierende Leistung ab, die sich uns noch einige Zeit einprägt. So runden die fairen Nebenkosten und ein längeres Gespräch mit sowohl dem Serviceleiter als auch dem Souschef, der sich am Ende des Abends auch noch zu uns gesellt (die anderen Gäste waren längst gegangen), diesen Abend der etwas unsteten, aber meist ungewöhnlichen Eindrücke würdig ab.
Wie eingangs erwähnt erkannte der Guide Michelin dem Lokal nun den Stern ab, da man wohl erst die weitere Entwicklung abwarten wollte. Ein kompletter Neuanfang muss hier wohl nicht her, aber ein potentieller Nachfolger tritt schon in die recht großen Fußstapfen seines Vorgängers Achim Schwekendiek. Dass dieser nach knapp zwanzig Jahren eine Veränderung anstrebte, sei ihm absolut gegönnt. Ein weiterer Besuch im Schloss ist im Falle eines Urlaubs in der Region mit Sicherheit wieder eine Option, da das Gourmetrestaurant wohl auch weiterhin seinen Ruf als das kulinarische Flaggschiff der Region behalten will und aller Voraussicht nach auch tun wird.
Mein Gesamturteil: 17 von 20 Punkten
Gourmetrestaurant Münchhausen
Schwöbber 9
31855 Aerzen
Tel.: 05154/70600
www.schlosshotel-muenchhausen.com/restaurants/gourmet-restaurant/
Guide Michelin 2022: *
Gault&Millau 2022: 2 Toques
GUSTO 2023: 8 Pfannen
FEINSCHMECKER 2023: —
6-gängiges Menü: € 170