Gutshaus Stolpe*, Stolpe

„Das sogenannte Romantische einer Gegend ist ein stilles Gefühl des Erhabenen unter der Form der Vergangenheit oder, was gleich lautet, der Einsamkeit, Abwesenheit, Abgeschiedenheit.“
(Johann Wolfgang von Goethe)

Juni 2020

Viel abgeschiedener kann ein Sternerestaurant kaum liegen: bei der Anfahrt fragen wir uns noch wirklich bis 25 Meter vorm Ziel, ob wir hier (trotz Navigationsgeräts) richtig sind. Der Weg führt auf Kopfsteinpflaster vorbei an verfallenen Gebäuden aus DDR-Zeiten und Bauernhöfen. Als wir einer Angestellten, die gerade draußen kehrt, unser Anliegen erklären, schmunzelt sie und gibt uns zu erkennen, dass sie diese Frage offenbar nicht zum ersten Mal gestellt bekommt. Das schicke weiße, ziemlich gut versteckte Landhaus mit Hotel und Sternerestaurant steht mitten in der Einsamkeit Vorpommerns, gut 20 Kilometer westlich von Anklam. Wem auch das nicht weiterhilft: die 12.000 Einwohner zählende Hansestadt ist die Heimat des Flugpioniers Otto Lilienthal und wird gerne als das südliche Tor zur Insel Usedom bezeichnet (das noch weniger bekannte Städtchen Wolgast ist das nördliche Tor). Die diskrete und ungestörte Einsamkeit, die viele Stammgäste hierher lockt, scheint auf die Chefköche der vergangenen Jahre dagegen weitaus weniger inspirierend gewirkt zu haben, denn deren Verweildauer hier betrug im Schnitt etwa so lange wie die eines durchschnittlichen Fussballtrainers in der Bundesliga bei einem Verein. Als nicht ganz unerwartete Konsequenz widmete der Gault&Millau dem Etablissement in seiner 2020er-Ausgabe zwar einen Bericht, setzte aber die Note vorerst aus, weil man „warten wolle, bis wieder eine gewisse Konstanz hier eingekehrt sei“. Aktuell steht hier seit einigen Monaten mit Stephan Krogmann ein überraschend großes Kaliber am Herd, denn der in Bremen geborene, 37-jährige Koch stand schon etlichen Koryphäen als Souschef zur Seite: Heinz Winkler, Jan Hartwig und Klaus Erfort sind schließlich Giganten der Szene. Dass deren Einfluss nicht ohne Auswirkung auf das bleiben sollte, was in den folgenden Stunden aufgetischt wurde, überrascht daher nicht sonderlich. Wir erwarteten somit eine grundsätzlich klassisch fundierte Küche, deren Qualität uns angesichts der für den Chef noch recht neuen Umgebung uns besonders interessierte.

Da es das Wetter zulässt, nehmen wir die Amuses und den Apéritif auf der Terrasse zum rückseitig gelegenen Garten ein. Hier kann man in der scheinbaren Entrücktheit vom Rest der Welt die Seele wirklich baumeln lassen: Vogelgezwitscher, plätscherndes Wasser und kein Lärm, der die Ruhe stören würde – Hotelgäste genießen auch den Spabereich und die bereitgestellten Liegen im feudalen Anwesen. Wir widmen unsere Aufmerksamkeit dagegen den drei Petitessen vor unseren Augen: zum einen ungestopfte Tamarinde-Soja-Gänseleber auf einem Brioche, dann eine Yuzu-Kalamansi-Räuchercrème auf einem Baiser-Chip und schließlich Rindertatar im Teigröllchen mit Anchovis und Crème fraiche. Das klingt nicht nur nach einem exquisiten Happen zu Beginn, sondern erweist sich auch als handwerklich stark und aromatisch überaus sicher in Szene gesetzte Einleitung. Dieses Präludium hängt die Messlatte bereits sehr hoch und hat uns beeindruckt wie schon länger keines mehr. Ein alkoholfreier Apfelsecco rundet den sommerlichen Eindruck adäquat ab.

Nach dem Verzehr dieses erstaunlich opulenten Einstiegs geleitet man uns zum Tisch: das Lokal selbst ist in puncto Interieur einigermaßen austauschbar gehalten, da die blassgrauen Wände nicht gerade ein unverwechselbares Ambiente schaffen. Die Trumpfkarte des Restaurants ist die verglaste Terrassenfront zum ausladenden Garten hin, durch die das Sonnenlicht bis weit in die Abendstunden hinein eindringt. Ansonsten ist vieles klassisch gehalten: weißes Leintuch, edles Besteck und ausreichender Abstand zwischen den Tischen, was dieser Tage ja immer wieder betont werden muss. Vor dem Einstieg ins einzige Menü mit bis zu sieben Gängen (wir lassen den Käse an diesem recht warmen Tag weg) kommt noch ein feudales Amuse auf den Tisch: Gillardeau-Auster in einem Limette-Gurkensud mit Dill. Die säurebetonte Begleitung des Hauptdarstellers erweist sich als geschickt ausbalanciert und für diesen warmen Tag als besonders erfrischend. Gerne darf es so weitergehen! Die Brotauswahl ist zwar klassisch gehalten, aber dafür recht amüsant in Szene gesetzt.

Nun wird es Zeit für die offizielle Ouverture mit leicht gebeiztem Loch-Duart-Lachs mit Schnittlauch und N25-Kaviar. Die bildschöne Kombination mit dem hauchzarten fritterten Blatt aus Kartoffeln obenauf überzeugt aus mehreren Gründen: da wären zum einen die kühle Temeperatur und die Konsistenz des nur leicht fettigen Fischs. Zum anderen ist es die ausgewogene und elegante Mischung des Suds aus Cremigkeit und Säure, die einen schönen Kontrapunkt zu den salzigen Aromen des unter dem Blatt versteckten Kaviars darstellen. Ein starker Einstieg, keine Frage!

Nordseekrabben mit cremigem Bio-Eigelb und jungem Spinat ist eine aromatisch dichte Komposition, die das Risiko eher scheut, aber dennoch nicht ohne Vorzüge ist. Ein Tapiokachip sorgt für etwas Biss in dem Umfeld, das ansonsten von eher weichen Komponenten dominiert wird. Die leicht jodigen Krabben schwimmen in ihrem eigenen Sud und finden in dem Eigelb einen ansprechenden Begleiter, der ihre Aromatik nicht kaschiert, sondern bereichert. Insgesamt weniger aufregend als der Gang zuvor, aber die Kunst, ein Menü zu kreieren ohne dabei ständig auf dem Gaspedal zu stehen beherrscht auch nicht jeder.

Zu unserer Überraschung tritt vor dem nächsten Gang eine Wartezeit von 45 Minuten (!) ein, die wir uns eigentlich nur dadurch erklären können, dass man versucht, das Geschehen an den anderen Tischen möglichst synchron ablaufen zu lassen – was angesichts der Tatsache, dass die letzten Gäste eine gute Stunde nach uns eintreffen, nicht so leicht fällt. Wie dem auch sei – die Kompensation fällt reichlich aus: Seezunge aus Noirmoutier mit grünem Spargel und Nussbutter ist ein echter Volltreffer! Das puristische Gericht profitiert ungemein von der schieren Qualität seiner zwei Grundprodukte, die mit der Nussbutter ungewöhnlich, aber kongenial verschmelzen. Speziell die Seezunge – saftig, zart und mit tollem Biss – ist so genial zubereitet, dass ich nicht umhin komme, diesen Fisch zu den denkwürdigsten zu zählen, deren Verzehr mir jemals vergönnt war! Phantastisch!

Spätestens mit dem Gang zuvor hatte Stephan Krogmann bereits bewiesen, was er kann, doch das ist noch lange kein Grund, jetzt nachzulassen. Bei Schwarzfederhuhn aus der Bresse, Steinchampignons und Vin Jaune spart man ebenfalls nicht bei den Produkten und setzt sie auch noch gekonnt in Szene. Das Geflügel wird in vielen Varianten durchdekliniert (geschmorte Keule, Sot-l’y-laisse, krosse Haut, glasiert) und wird seinem exzellenten Ruf dadurch mehr als gerecht. Vin Jaune (hier auf einem Niveau, das fast schon das Format von Christian Jürgens‘ Darbietung mit dem Donauwaller im Überfahrt vom vergangenen Herbst hat) kenne ich eher als Begleiter von Fischgängen, doch die straffe Säure der prominent auftretenden Sauce macht das insgesamt erdig-intensive Gericht spürbar leichter, zumal gut versteckte Zwiebeln dem Gang noch mehr Power verleihen, die allerdings von den milden Champignons etwas abgefedert wird. Ein klassisches Wohlfühlgericht, das jedoch weit über bloße Gefälligkeit und Vorhersehbarkeit hinausgeht.

Fast schon einer Malerpalette gleicht die Darstellung des Hauptgangs: Rehbock, Sellerie, Haselnüsse und Rouennaiser Sauce mit Kampot-Pfeffer. Mehrfach schon bewies Stephan Krogmann an diesem Abend ein starkes Gespür für passende Kombinationen – und auch hier lässt ihn sein Instinkt nicht im Stich. In insgesamt drei Varianten von Sellerie (die letzte wird geschickt von gelierter roter Bete verdeckt) kleidet der Chef seinen makellosen Hauptdarsteller, der mit erdigen Aromen und saftiger Konsistenz praktisch perfekt gerät. Die mit dem Pfeffer veredelte Wildsauce macht aus dem Gang eine kleine Umami-Bombe, deren Auswirkungen mir noch einige Zeit im Gedächtnis haften bleiben. Auch das ganz groß, kein Zweifel.

Das Dessert wird zweiteilig durchdekliniert: Mara-de-Bois-Erdbeeren mit Sauerrahm und gerösteter Valrhona-Opalys-Schokolade. Trotz auch hier hochwertiger Produkte fehlt mir bei diesem Dessert ein wenig der Mut, der die Kreationen zuvor auszeichnete. Die falsche Erdbeere aus Opalys-Eis von weißer Schokolade ist zwar ein ganz netter Einfall, kann aber auch nicht verhindern, dass sich trotz vieler kreativer Texturen (z.B. Stifte von geeistem Sauerrahm auf einer Art Erdbeer-Müsli) das Aromenspektrum insgesamt in einem eher engen und vorhersehbaren Rahmen bewegt. Unterm Strich sicherlich ein apartes Dessert, das unbeschwerten Verzehr gestattet, aber einigermaßen eindimensional gerät. Es ist allerdings leider eher die Regel als die Ausnahme, dass in klassisch orientierten Lokalen der Ausklang keinen besonderen Akzent mehr setzen kann.

Meine letzte Aussage muss ich allerdings dahingehend revidieren, dass die Patisserie zumindest mit den Petits fours nochmals alle Register ihres Könnens zieht: Cannelés, Haselnuss-Röllchen mit Schokocrème, kandiertes Erdbeer-Gelée, Limettencrème-Praline, Toffees (in Goldfolie) und schließlich die Cassis-Veilchen-Macarons laden nochmals zum sündhaften Ausklang auf wirklich ausgezeichnetem Niveau ein.

Der Service lässt sich die corona-bedingten Einschränkungen nicht groß anmerken und liefert insgesamt eine solide Leistung ab, die nicht sonderlich herzlich oder persönlich gerät, aber auch nicht steif. Dennoch ist der Charakter des Serviceleiters Jan Vollmar-Lederer etwas gewöhnungsbedürftig, wobei es mir schwerfällt, dies genau in Worte zu fassen (vielleicht trifft es „etwas flapsig“ am ehesten). Mir selbst macht dies keine Probleme, bei meiner Begleitung dagegen kommt es weniger gut an. Fassen wir es so zusammen: eine denkwürdige Serviceleistung sieht anders aus, doch in diesen Zeiten ist eben vieles anders; daher messe ich dem insgesamt nicht zuviel Bedeutung bei. Ganz anders dagegen bei der Küche …

Der durchaus auf Luxusprodukte ausgerichtete Küchenstil verzichtet auf die in diesem Bundesland allenthalben anzutreffende Regionalität und bietet ein grundseriöses, gehobenes Essvergnügen der kulitiviertesten Art an. Die hervorragenden Grundprodukte stellt Stephan Krogmann meistens ohne großen Schnickschnack in den Mittelpunkt des Tellers und weist ihnen oftmals nur dezente Begleiter zu, die dem Hauptdarsteller allen Platz zur aromatischen Entfaltung lassen. Das kann sich nur erlauben, wer seinen Produkten absolute Makellosigkeit attestieren kann – genau dies ist hier jedoch der Fall. Eine ausgelassene Menüfolge war dies somit nicht, und doch fehlte es diesen Darbietungen keineswegs an augenzwinkernden Momenten, die dem Menü eine gar zu ernste Schwere austrieben. Angesichts der Tatsache, dass der neue Chef hier erst seit einigen Monaten am Herd steht, stellte sich die Maschine insgesamt schon als erstaunlich gut geölt heraus. Substantielle Schwächen waren weit und breit keine zu erkennen, während eine stattliche Anzahl wirklich gelungener Gänge den Abend in einem Maße veredelte, das so im Voraus wirklich nicht zu erwarten war. Kurze Zeit nach unserem Besuch stellte ich übrigens fest, dass der GUSTO ebenfalls zu dem Schluss kam, dass noch kein Gast hier in der Vergangenheit so gut wie derzeit gegessen habe – ein nachvollziehbares Urteil, selbst wenn mir Vergleiche von früher fehlen, da es ja mein Premierenbesuch war.

In Summe kratzte diese Darbietung für meine Begriffe schon an einer noch höheren Bewertung mit 18 Punkten – über einen zweiten Michelin-Stern wäre ich ebenfalls nicht mehr überrascht nach diesem zwar recht dezenten, aber dadurch nicht weniger beeindruckenden Defilée. Im Hinblick auf den kostspieligen Wareneinsatz und die souveräne Darbietung, die Hochküche nicht nur über den bloßen Einsatz solcher Viktualien definiert, fällt der geforderte Menüpreis zwar etwas höher als sonst üblich in diesem Bundesland aus, doch die Rechtfertigung dafür ist nicht ausgeblieben. Sollte es der Geschäftsleitung gelingen, das Verweilen des aktuellen Chefs attraktiver als für die Vorgänger zu gestalten, dann kann hier etwas wirklich Großes entstehen – was gerade für die neuen Bundesländer, deren beste Lokale praktisch ausschließlich in Leipzig, Dresden und an der Ostseeküste zu finden sind, ein starkes Zeichen setzen würde. Wenn auch nur aus der Ferne: ich bleibe am Ball und werde das weitere Geschehen hier genau verfolgen!

Mein Gesamturteil: 17 von 20 Punkten

 

Gutshaus Stolpe
Peenstraße 33
17391 Stolpe an der Peene
039721/5500
www.gutshaus-stolpe.de

Guide Michelin 2020: *
Gault&Millau 2020: Note vorübergehend ausgesetzt, 2019 zuletzt 15 Punkte
GUSTO 2020: 8 Pfannen
FEINSCHMECKER 2020: 2,5 F

7-gängiges Menü: € 149