Haerlin**, Hamburg (UPDATE)

„Ein eigentümlicher Zauber umgibt das Erkennen von Maß und Harmonie.“ (Carl Friedrich Gauß)

UPDATE (März 2024)

Das Fairmont Hotel Vier Jahreszeiten ist eine Institution in der Hansestadt – nicht nur, weil es in unübersehbarer Premiumlage an der Binnenalster liegt, sondern weil es seit Einführung der Liste „101 beste Hotels von Deutschland“ im Jahre 2020 stets auf dem ersten Platz lag. Dieser Ruf eilt dem Hotel inzwischen weit voraus und hat sich auch über die Grenzen des Landes hinaus herumgesprochen – mit etwas Glück bekommt man hier durchaus den einen oder anderen Prominenten zu sehen, der hier sein Quartier bezieht. Zu einem Grand Hotel mit solchen Ansprüchen, das jedoch alles andere als nur old school ist, gehört natürlich auch ein herausragendes Restaurant – auch diesem Anspruch wird Küchenchef Christoph Rüffer mit seinem Team seit nunmehr über zwanzig Jahren schon gerecht. Das Haerlin ist aus der kulinarischen Landschaft Hamburgs, Norddeutschlands und im Grunde genommen der gesamten Republik nicht wegzudenken und überstand bislang alle Moden der Zeit unbeschadet. Zwar ist die Dynamik in Hamburg schon immer geringer als in München oder Berlin gewesen, aber auch im Norden hat man den Aufstieg neuer ambitionierter Lokale wie The Table, bianc, Lakeside und 100/200 sowie den Abstieg einiger Legenden wie Le Canard Nouveau oder Restaurant Jacob gesehen – während das Haerlin mit geradezu stoischer Ruhe eine Beobachterrolle einzunehmen schien und allen Veränderungen mit großer Gelassenheit trotzte. Selbstverständlich hat sich die Stilistik auch in diesem Hause immer wieder mal leicht geändert, aber auf lange Sicht kann das Haerlin mit Sicherheit als Hamburgs verlässlichstes und bodenständigstes Spitzenrestaurant gelten, zumal es seit Jahren zum Dunstkreis der potentiellen Anwärter auf drei Michelin-Sterne gezählt wird. Medial gesehen setzen sich andere Lokale bestimmt stärker in Szene, aber Stammgäste wissen längst, was sie hier an Christoph Rüffer und seiner klassisch geprägten Küche mit teils norddeutschem Lokalkolorit haben.

Mein letzter Besuch datierte aus dem Jahre 2018 (und damit eindeutig viel zu lange her), doch rein optisch hat sich an dem lichten Speisesaal mit der hohen Decke und dem Paradeblick auf die Binnenalster nichts geändert. Ich komme jedoch vorerst nicht in den Genuss der zahlreichen Details, sondern werde zu meinem Erstaunen vom aufmerksamen und einnehmenden Service zunächst eine Etage tiefer geführt. Hier hat die größte Veränderung der vergangenen Jahre stattgefunden, denn vor der Küche wurde nun ein kleiner Bereich mit Stehtischen eingerichtet, an dem die Gäste die ersten Apéros einnehmen. Das gibt mir außerdem die erste Gelegenheit zu einem Foto und einem kleinen Plausch mit dem freundlichen Chef, der bereitwillig Auskünfte erteilt und trotz der Betriebsamkeit in der Küche offenbar eine wohltuende Gelassenheit ausstrahlen kann – in dem sicheren Wissen, eine kompetente und präzise agierende Truppe hinter sich zu haben, welcher er offenbar blind vertrauen kann.

Die drei Apéros samt Apéritif – in meinem Fall ein Apfelsecco Zerozzante aus dem Hause Raumland – überraschen nicht nur mit sehr präzisem Handwerk, sondern einer auch recht kühnen Stilistik für die gediegenen Verhältnisse dieses Hauses. Da wäre zunächst einmal die lauwarm pochierte Irish-Mor-Auster (die sich immer größerer Beliebtheit als Alternative zu Gillardeau erfreut), welche hier angesichts ihrer Garnitur mit „Green Isle“ benannt ist: hinzu gesellen sich Gel und Brunoise von Gurke auf einer Vinaigrette von Basilikumöl und Dillschaum. ich hätte insgesamt eine kühlere Temperierung favorisiert, aber exzellent ist diese auffallend „grüne“ Variante dennoch. Das trifft in noch stärkerem Maße auf den geeisten Kopfsalat mit Estragon zu, der auf einem dezent süßlichen Gazpachosud mit allerlei Gemüse-Julienne gebettet ist und mir angesichts seiner Originalität besonders gut zusagt. Das Trio komplettiert ein Gougère von Taschenkrebs mit Forellenkaviar und Rhabarber für einen leichten Säureakzent. In Summe hängt die Messlatte damit schon ziemlich hoch, aber natürlich darf man von dieser herausragenden Adresse im Laufe des Abends noch weit mehr erwarten.

Wieder oben am Platz angekommen, wird als nächstes die formidable Brotauswahl aufgetragen, die angesichts einer hochwertigen Selektion von Dinkelbaguette, Laugenplunder, Mandel-Maronenbrötchen und Fougasse schon bemerkenswert genug gerät. Eine kleine, aber höchst ungewöhnliche Showeinlage gibt es dann noch zu bestaunen, als der Service die Butter vom Wagen mit Schnittlauch bzw. Périgord-Trüffel aufwendig am Platz veredelt. Es hätten auch noch mehrere andere Varianten zur Verfügung gestanden, aber die Sauerkrautcrème (links unten im Bild) hätte die Sammlung an Aufstrichen so oder so würdig komplettiert. In Summe großartig!

Vollendet abgerundet wird die Ouverture mit einem aristokratisch anmutenden Amuse von hinreissender Optik: die confierte Lachsforelle (vom Forellenhof Benecke in der Lüneburger Heide) wird auf sanft gegarten Beluga-Linsen von vorzüglichem Biss gebettet, durch Meerrettich in geriebener Form sowie als Crème mit animierender Schärfe begleitet und kongenial von einer genuin norddeutsch anmutenden Sanddorn-Beurre-blanc abgerundet. Christoph Rüffer legt hier eine beeindruckende kulinarische Visitenkarte mit Stil, Klasse, Eleganz, Opulenz und individueller Note vor, die ausgezeichnet gelingt und die Ansprüche des Hauses auf die höchsten Weihen durchaus unterstreicht: in puncto Harmonie und Ausgewogenheit bleiben trotz leichter Schärfe praktisch keine Wünsche offen.

Meine Menüwahl habe ich schon gleich zu Beginn in den „Katakomben“ getroffen: ein sechsgängiges Menü inklusive Wasser und Kaffee zu € 295 bildet das Kerngerüst, aber die Menüfolge kann auch um einzelne Gerichte erweitert oder im Tausch gegen andere Gerichte modifziert werden – eine Offerte, von der ich beim Hauptgericht Gebrauch mache.

Das Entrée bildet ein Gericht namens „Eine Handvoll Meer“: die wie ein Mosaik angeordenten Komponenten aus Sepia, Carabinero und mehreren Muscheln werden mit Variationen von gelber Bete und Dillblüten begleitet. Zur makellosen Zubereitung der Meeresfrüchte gesellt sich eine aromatische Akzentuierung in Form von heißem Krustentieraufguss, Ingwer und einem Zitronengrasschaum hinzu, welche das Gericht in großer Klarheit, Transparenz und Präzision abrundet. Das ist fraglos ein aristokratischer und animierender Auftakt, der Lust auf mehr macht.

Prompt tischt mir der Service im nächsten Gang einen Teller auf, der allerbeste Aussichten auf einen Eintrag in meiner Menüfolge des Jahres haben dürfte: was der Chef nämlich aus der Felsenrotbarbe an Geschmack herausholt, ist angesichts perfekt dosierter Salinität und extrem intensiven Nachhalls schon bemerkenswert genug, doch die schmelzige Konsistenz des gegrillten Doppelfilets (!) und der unverwechselbar in Szene gesetzte Geschmack hieven diesen Beitrag noch weiter aus der Masse heraus. Vollends göttlich wird es mit ungemein luftiger, gegrillter Paprikasabayon, etwas Chorizo-Öl und einer umwerfend guten Sauce Pastis von unerhörtem Umami und äußerst präsentem Charakter. Auch die begleitende Krokuspolenta punktet mit vorzüglicher Konsistenz, doch allerspätestens mit eingelegter Paprika und einem extrem säuerlichen Artischockensalat beansprucht auch die Entourage die ihr zustehende Aufmerksamkeit. Mit diesem Gang hat die Küche bei mir einen Nerv getroffen, denn dank dieses absolut fantastischen Gerichts weht ein Hauch Mittelmeer durchs Haerlin, den ich in dieser Form zwar nicht erwartet hätte, der aber trotzdem hochwillkommen ist. Ein Traum!

„Black and White“ – damit bedient die Küche erneut die Meeresthematik und versteht darunter gegrillte Jakobsmuschel und Périgord-Trüffel mit Schwarzwurzelpurée und Burrata-Agnolotti. Das Carpaccio der Muschel ist zudem mit klein gestoßenen Nüssen getoppt und kleidet den Hauptdarsteller endgültig in ein nussig-erdiges Gewand, wobei an sich alles wirklich unaufgeregt wirkt und geschmacklich alles in bester Ordnung ist. Seltsamerweise ist die Masse an darüber geriebenen Trüffel fast grenzwertig (ich hätte mir kaum vorstellen können, diesen Satz einmal aufzuschreiben), aber der in solcher Menge fast schon etwas dumpf wirkende Geschmack des Pilzes droht eher sogar, ein paar Facetten der sorgsam herausgearbeiteten Details zu kaschieren. Dennoch beweist die Küche ein echtes Händchen für Maritimes, denn Produktqualität und Handwerk stimmen dagegen verlässlich konstant.

Das von mir ausgetauschte Hauptgericht besteht aus australischem Jack Creek’s Wagyu, das tiefrot gebraten und in generöser Portionierung auf den Teller gelangt. Umspielt wird der luxuriöse Hauptdarsteller mit Shiitake-Pilzen, lackierter und gebratener Briespraline sowie einer karamellisierten Zwiebelcrème für eine ordentliche Packung Umami. Die exzellente Sauce béarnaise und eine Sherry-Trüffel-Jus als verbindendes Element runden diesen vorzüglichen und sehr durchdachten Teller ab, denn mehr an Begleitung braucht das Wagyu auch nicht. Christoph Rainer vom IKIGAI in Elmau bleibt in Sachen Wagyu zwar unerreicht, aber ein Teller der Extraklasse bleibt dies auch so.
Interessant ist auch eine Saftbegleitung, die ich mir zum Hauptgang empfehlen lasse: ein mit getoasteten Eichenholzchips verfeinerter Saft von Kirsche und Johannisbeere harmoniert nicht nur blendend, sondern überzeugt auch mit seiner Qualität. Dahinter steckt „Saftmädchen“ alias Mary-Ann Stüve, eine selbständig agierende Frau mit einer Affinität für feine, selbsterzeugte Säfte, die sie unter ihrem Pseudonym vermarktet. Das hat ihr bereits eine Kooperation mit den beiden Andernacher Restaurants YOSO und PURS eingebracht, wobei angesichts der Ambitionen dieser Marke davon auszugehen ist, dass es nicht bei diesen zwei bleiben wird.

Trotz aller zeitgemäßen Inszenierung der weitgehend klassischen Küche setzt man sich hier noch für eine besonders bedrohte Spezies an, nämlich den rar gewordenen Käsewagen. Dieser ist durchaus üppig mit Frühlingskäse aus Nordfrankreich bestückt und punktet neben der qualitativ hochwertigen Auswahl auch mit Blütenbrioche und Quittenkompott.

Auf die Entwicklung in Sachen Dessert war ich besonders gespannt, weil sich langjährige Gäste erinnern dürften, dass bei meiner ersten Einkehr im Jahre 2015 noch der in jeder Hinsicht außergewöhnliche Pâtissier Christian Hümbs hier am Werk war. Mit seinen haarsträubend virtuosen, aber bisweilen auch extrem schwer zugänglichen Desserts setzte er seinerzeit Maßstäbe wie kaum ein anderer – inzwischen ist der Meister übrigens nach einer weiteren Station im Münchner Atelier (damals noch unter Jan Hartwig) in Zürich gelandet. So sehr die Verpflichtung dieser schillernder Figur seinerzeit als Erfolg angepriesen wurde, so unterschwellig gewann man doch mit der Zeit den Eindruck, dass seine Ästhetik mit der Klientel des Hauses eher fremdelte und so manchen weniger aufgeschlossenen Gast überforderte. Beim nächsten Besuch drei Jahre später hatte der Süßspeisenakrobat seine Zelte schon abgebrochen – und das Ergebnis bei der Nachspeise war dennoch weit mehr als nur ein auf Sicherheit setzender Ausklang ohne Profil. Wie würde es also fast sechs Jahre später aussehen?

Den Namen des Pâtissiers konnte ich trotz einiger Recherchen nicht finden, aber das dargebotene Finale überzeugte mich schnell davon, dass hier logischerweise kein Amateur oder Hilfskoch, sondern ein Vollprofi am Werk war: das zweiteilig gehaltene Dessert besticht vor allem beim Hauptteller mit einer knalligen Farbgebung, die auch im Verbund mit den eingesetzten Produkten karibische Gefühle in mir weckt: auf einem knalligen Sud von Thaibasilikum drapiert die Pâtisserie Mousse und Splitter von madagassischer Millot-Schokolade, Würfel von geschmorter Ananas, Sorbet von Ananas und Passionsfrucht sowie kandierte Ananaschips. Abgeschmeckt ist der Sud zudem mit Costa-Rica-Rum, so dass an diesem Dessert nicht nur die variable Temperierung und die zweckdienlich eingesetzten Texturen überraschen, sondern auch der ausbalancierte, alkoholische Feinschliff. Der Eisbecher beinhaltet ein Schokoladen-Rum-Eis mit einem Granité von Thaibasilikum und einem fast schon heiß aufgegossenen Ananassud. Dabei überzeugen nicht nur die alternativen Texturen der verwendeten Produkte, sondern auch das außergewöhnliche Spiel mit heißen Temperaturen, was bei Desserts hierzulande immer noch eher die Ausnahme darstellt. Der reizende Wettstreit zwischen Schokolade und tropischen Früchten wird trotz der vergleichsweise plakativen Farbgebung zu einem mehr als ordentlichen Ausklang auf Zwei-Sterne-Niveau, der nicht zuletzt auch dank einer feinen Schärfe von Ingwer länger im Gedächtnis bleibt. Wenn Hamburg das Tor zur Welt ist, dann ist diese Menüfolge fast schon die sich anschließende Weltreise!

Die Petits fours werden auf einem gläsernen Tortenständer präsentiert und bestehen aus Cannelé de Bordeaux, Thymian-Zitrone-Macaron, Schokoladensablé mit Macadamianuss und Bergamotte, Pralinen (Dill und Passionsfrucht bzw. Preiselbeere und Mohn) sowie Tartufo dolce mit Pistazie und Himbeere. Falls Sie jetzt im ersten Bild den Macaron vermisst haben, dann ging es Ihnen genau gleich wie mir: mit gespielter Empörung weise ich den Service auf das fehlende Detail hin und bekomme den fehlenden Macaron unverzüglich nachgereicht. Zu den exzellenten Petits fours passt eine heiße Schokolade, gegen die ich den Kaffee an diesem sehr kühlen Abend eintausche, auch bestens. Aus den Lautsprechern ertönt Edith Piafs Je ne regrette rien, was mir die Inspiration liefert, den Abend nochmals Revue passieren zu lassen, um dann zu demselben Ergebnis wie der „Spatz von Paris“ zu kommen – zu bereuen gab es hier wirklich nichts!

Es scheint, als wäre der Zeitpunkt eines Besuchs hier von völlig untergeordneter Bedeutung, weil Christoph Rüffers Küche immer präzise und zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk funktioniert. Sein sicheres Gespür und profundes Wissen rund um seine bevorzugten Viktualien kommt immer wieder zum Tragen und ermöglicht es ihm, mit sattsam bekannten Produkten noch immer Ergebnisse zu erzielen, die sich sowohl in puncto Qualität als auch Umsetzung wohltuend von der breiten Masse absetzen. Leichte stilistische Wandel sind durchaus gelegentlich festzustellen, denn im Vergleich zum letzten Besuch etwa schien der Chef wieder eine etwas reduzierter wirkende Phase durchzumachen – was einfach nur beweist, dass man hier stets dynamisch bleibt und den Moden der Zeit gegenüber durchaus aufgeschlossen ist, solange die eigene kulinarische DNA nicht verwässert wird. Im Grunde genommen kommen hier selten spektakuläre Teller auf den Tisch – weder optisch noch mit raren Produkten. Vielmehr ist es immer wieder das zweckdienlich eingesetzte Handwerk, mit welchem einschlägige Luxusprodukte nahe der Perfektion zubereitet werden – was insbesondere auf die Saucen zutrifft, denn die Ausbildung bei Harald Wohlfahrt und Claus-Peter Lumpp hinterlässt natürlich ihre Spuren.

Mit der aufmerksamen und für meine Begriffe besonders gut geschulten Servicetruppe verfügt dieses Lokal über eine weitere Trumpfkarte, um die es viele Konkurrenten beneiden dürften. Versiert und kompetent wird man durch den Abend geleitet und hat selbst noch erfahrenen Gästen immer etwas Außergewöhnliches wie bei der Getränkebegleitung etwas zu bieten. Mit der richtigen Mischung aus Eloquenz, Diskretion und Charme gelingt dieser Brigade ein Spagat wie er heutzutage sehr selten geworden ist. Außerdem entgeht dem Service – bis auf einen vergessenen Macaron – praktisch nichts, so dass für einen reibungslosen und, falls gewünscht, zügigen Ablauf gesorgt ist. Alles in allem die beste Serviceleistung seit langer Zeit!

Das wirkt sich natürlich auf die Preisgestaltung aus, die zwar nicht zu den günstigsten gehört, aber im Laufe des Abends mehrfach gerechtfertigt wird. Die Nebenkosten für Getränke sind (außer bei den Spirituosen) nicht übermäßig hoch bemessen, während auch die Menüfolge angesichts teurer Produkte und einiger kostspieliger Extras die Rechtfertigung erbringt. Weinkennern mit entsprechender Geldbörse bietet sich hier übrigens dank Coravin die Möglichkeit, ein Glas von sündhaft teuren Pretiosen wie der Lage Doc Romanée-Conti zum Preis von bis zu € 500 zu verkosten.

Kompakt ausgedrückt steht hier ein Chef am Herd, der zwar weiß, was er kann, aber das Urteil insgesamt lieber seinen Gästen überlässt als es großspurig hinauszuposaunen. Mit dieser bescheidenen Art hat es Christoph Rüffer weit gebracht und verzückt vor allem die Gäste, die klassische Qualität und geschmackliche Substanz mehr schätzen als abgefahrene Ideen und Selbstdarstellertum. Alles in allem ist dies über weite Strecken eine Küche der leisen Töne, aber dafür eine mit umso längerem Erinnerungswert im kulinarischen Gedächtnis. Das belegen auch die Urteile der Profiguides, die allesamt mindestens die zweithöchste Note zücken. Ob es doch noch irgendwann frü drei Sterne reicht, vermag außer den ominösen Michelin-Inspektoren keiner zu sagen, aber mit Sternstunden wie bei der Rotbarbe beweist Christoph Rüffer, dass er allemal das Zeug dazu hat. Ein Besuch lohnt sich mit Sicherheit!

Mein Gesamturteil: 19 von 20 Punkten

 

Haerlin
Neuer Jungfernstieg 9-14
20354 Hamburg
Tel.: 040/34940
www.restaurant-haerlin.de

Guide Michelin 2023: **
Gault&Millau 2023: 5 Toques
GUSTO 2024: 10 Pfannen
FEINSCHMECKER 2024: 4,5 F

6-gängiges Menü inkl. Wasser und Kaffee: € 295

======================================================================

Dezember 2018

Besonders schön geschmückt präsentiert sich das Fairmont Hotel Vier Jahreszeiten an der Hamburger Binnenalster zur Weihnachtszeit. Das Weltklassehotel ist ein Ort der entschleunigten kulinarischen Entspannung, wenn man das dort befindliche Zwei-Sterne-Restaurant Haerlin betritt. Der geräumige Saal mit dem gläsernen Weinschrank ist in lichten Champagnerfarben gehalten und gestattet einen Paradeblick auf die Binnenalster. Hier, in diesem hanseatisch-gediegenen Ambiente kocht mit Christoph Rüffer ein Koch, der sich vor einigen Jahren fast komplett neu erfand und inzwischen seinen eigenen Stil etabliert hat, der ihm im GUSTO die Höchstnote von 10 Pfannen und im Gault&Millau 19 Punkte einbrachte. Höchste Zeit also, dem noblen Lokal nach über drei Jahren mal wieder einen Besuch abzustatten.

Angeboten werden zwei Menüs: zum einen die „Gaumenparty“ mit sechs Gängen (€ 185), zum anderen „die kleine Aromenbehandlung“ zu vier Gängen (€ 145) mit optionalem Käsegang. Ich entscheide mich für die große Variante und bekomme zu einem Traubensecco von Raumland zwei hochfeine Petitessen vorgesetzt: Rindertatar mit Crème von grünen Wacholdernadeln mit Preiselbeeren sowie Aal von der Ostsee mit Anis-Baiser. Fraglos zwei ausgezeichnete Einstimmungen, die Lust auf mehr machen. Der Gruß aus der Küche, geräucherte Bachforelle in einem Beerendashi ist dagegen ziemlich gewagt, auch wenn Rote-Bete-Püree, Tapioka und Ceta-Kaviar die Komposition ergänzen: die Aromatik ist ungewohnt komplex und wohl eher für fortschrittliche Gourmets gedacht.

Als ersten Gang serviert man Thunfischbauch mit Spitzkohlsud, Meerrettich und Mandarin-Kaviar. Das auch optisch schön arrangierte Gericht würde mit seinen maritimen Aromen voll überzeugen, wenn der Sud – meines Erachtens ohne Zugewinn – nicht zusätzlich durch ziemlich bittere Algen aromatisiert worden wäre. Das hätte dieser Gang nicht nötig gehabt, denn Bauch und Tatar von Thunfisch gehen mit Noten von Jalapeño, Avocado, rotem Rettich und Yuzu-Gel eine beglückende Liaison ein, die perfekt ausbalanciert ist.

Es geht weiter mit Carabinero und Herzmuscheln mit Meerfenchel im Krustentier-Ingwertee. Was im ersten Moment exotisch klingt, funktioniert auf dem Teller ausgezeichnet. Die fest-fleischige Konsistenz des Hauptdarstellers ist allein schon bemerkenswert, doch der mit Reisessig verfeinerte Ingwertee und die Aromen von Orangen-Vanillegel zaubern in dieses Gericht eine völlig ungewohnte, aber verblüffende Aromatik, die ich so auch noch selten erlebt habe. Wie hier immer wieder mal außereuropäische Zutaten mit heimischen Produkten kombiniert werden, hat Stil und kulinarischen Tiefgang.

Das trifft sogar in noch stärkerem Maße bei St. Petersfisch mit Chorizo-Vinaigrette, Zitronenhollandaise und Nussbutterschaum. Die mutig und herzhaft dosierte Würze der Chorizo wird von Zitronenzesten, Noten von grünem Apfel und Sellerie so elegant und raffiniert aufgefangen, dass dieser wirklich hinreissende Gang zum Höhepunkt der Menüfolge wird. Dass der zarte Fisch dabei trotz allem mit der Nussbutter prächtig harmoniert, ist vielleicht die größte Überraschung an diesem Gericht, das bei der bloßen Lektüre überfrachtet klingen mag. Superb!

Bei glacierter Wachtel mit geschmortem Chicorée, Brioche und Périgord-Trüffeljus setzt die Küche wieder eher auf etwas Bewährtes, ohne dass dieser Gang in irgendeiner Form langweilen würde. Der etwas eigentümlichen Aromatik der Wachtel stellt Rüffer noch Steckrübenpüree und Bratbirne zur Seite, so dass unterm Strich ein leicht überdurchschnittliches Zwischengericht mit hohem Wohlfühlfaktor steht.

Alle Geschütze fährt die Küche dagegen nochmals beim Hauptgericht auf, bestehend aus geschmorter Rinderrippe und Rücken vom Wagyu-Rind mit Butternusskürbis. Schwarzwurzel (hier als getrüffelte Vinaigrette) und Knollenziest sind zwar bewährte Begleiter, doch im Verbund mit der kräftigen, mit Sherryessig aromatisierten Kalbsjus und etwas Miso ragt die Begleitung des edlen japanischen Rinds weit aus der Masse heraus. Außerdem veredeln kleine Bällchen aus Rindermark den Gang in Verbindung mit dem Kürbis (in marinierter und gerahmter Form). Das Beste an diesem Gericht ist jedoch die unbeschreiblich mürbe und inspiriert gewürzte Rippe, die schon beim Annähern der Gabel zu zerfallen scheint. Große Klasse!

Als Pré-Dessert macht Mango mit Olivenöl, Avocado und Koriander sehr viel her: im Verbund mit durch Koriander verfeinerten Apfelsud und karamellisierten Dinkelchips entsteht hier ein fruchtig-leichtes Pré-Dessert mit angenehmem Biss und zauberhafter Aromatik, die durch den raffinierten und keineswegs fremdelnden Einsatz der Oliven (als Öl und als Crème) weiter an geschmacklicher Tiefe gewinnt. Vielleicht haben die Ideen des Ex-Patissiers Christian Hümbs (siehe unten für weitere Erläuterungen) doch ihre Spuren hinterlassen?!

Ein „Blätterwald“ genanntes Dessert erinnert entfernt an ein ähnliches Dessert aus dem Berliner Facil, wird hier aber mit Buchweizen, Holunder und Conférence-Birne in Szene gesetzt. Das ungewöhnlich inszenierte Gericht wird von zwei großen senkrecht stehenden Holunderbeer-Krokantblättern überragt; darunter befinden sich Buchweizenmousse, Gelée von Holunderblüten, Crème von Fichtentrieben (!) und ein Birnensorbet. All dies führt zu einem erfreulich herben Ausklang von nur dezenter Süße, in welchem der Geschmack glücklicherweise nicht die zweite Geige gegenüber der durchaus dominanten Optik spielen muss. Man huldigt hier also durchaus dem Zeitgeist bei den Desserts – wenig Süße, Verzicht auf Schokolade und viel Frucht – und überzeugt damit auf ganzer Linie. Auch unter den Petits fours zum Ausklang befindet sich folgerichtig so manche reizende Kreation, die man so noch nicht kannte. Ein kulinarischer Trendsetter, zu dem die Foodies in Scharen stürmen, ist das Haerlin trotz allem nicht, denn Christoph Rüffer ist inzwischen viel zu erfahren, um genau einschätzen zu können, welche Moden mit seinem Küchenstil kompatibel sind und welche nicht. Man darf hier somit eine auf raffinierte Veredelung spezialisierte Küche erwarten, die sich völlig zeitgemäß gibt, aber keineswegs avantgardistisch wirkt und dies auch nicht nötig hat.

Ich gebe unumwunden zu, dass die Kochkunst von Herrn Rüffer zwar nicht zu meinen bevorzugten Stilen zählt – was aber nichts an ihrer zweifellos vorhandenen Qualität ändert. Beachtlich finde ich zudem, dass der Grand Chef im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen ständig in der Küche anpackt und sich auch für banalste Tätigkeiten nicht zu schade ist, wovon man sich beim Besuch am unterirdisch gelegenen Chef’s Table neben der Küche auch persönlich überzeugen kann. Außerdem ist die Atmosphäre dort unten konzentriert, aber keineswegs hektisch oder laut.

Alles in allem wird hier ein völlig unaufgeregter Stil zelebriert, dessen Qualitäten oft nicht sofort, sondern erst nach einiger Zeit zum Tragen kommen. Die Verfeinerung der Saucen und die unaufhörliche Suche nach neuen Produktallianzen sind die auffälligsten Kennzeichen dessen, was auf die Teller gelangt. Dies alles wirkt sehr konzentriert und hat es nicht nötig, die Muskeln spielen zu lassen – vielmehr wird hier auf nachhaltige Beeindruckung anstatt auf gekünstelte Showeffekte Wert gelegt. Keine Frage auch, dass die Küche im Haerlin trotz typisch norddeutsch anmutender Facetten sehr weltoffen daherkommt und so gut wie nie enttäuscht. Mit dem Abgang von Patissier Christian Hümbs ins Münchner Atelier verlor das Haus zwar einen großen Trumpf, doch sind die Dessert-Kreationen unter der Nachfolgerin Steffi Schmeichel insgesamt wieder zugänglicher geworden und passen damit auch insgesamt besser zur Ästhetik der Küche als die hochgradig komplizierten und absolut individuell geratenen Kreationen unter Christian Hümbs. Trotz allem glaube ich nicht, dass es für den angestrebten dritten Michelin-Stern reichen wird, auch wenn dieses Etablissement praktisch jedes Jahr zu den favorisierten Anwärtern darauf gezählt werden muss. An der Serviceleistung liegt es jedenfalls nicht, denn trotz des Abgangs von Sommelier Marcel Ribis ins Restaurant Jörg Müller nach Sylt wurde mit Christian Scholz rasch ein geeigneter, junger Nachfolger gefunden, der seine Sache bereits ausgezeichnet macht. Überhaupt wissen alle Mitarbeiter unter der Leitung des britischen Maîtres Thomas Andrew ganz genau, was sie zu tun haben. Diese Souveränität des Personals hat, gepaart mit der Paradelage in der Hansestadt, natürlich ihren Preis: bei den Menükosten wird noch ein durchschnittlicher Preis von € 185 für sechs Gänge gefordert, aber bei den Nebenkosten gehört das Haerlin – wenig überraschend – zu den eher teuren Restaurants in Deutschland. Den Genuss trübt das allerdings wenig: falls von zwei Personen eine etwa nur ein viergängiges und die andere ein sechsgängiges Menü nimmt, dann gibt es gratis Kleinigkeiten wie ein erfrischendes Sorbet zur Überbrückung der Kunstpausen – in deutschen Spitzenlokalen ein nahezu beispielloser Vorgang. Alles in allem bestätigt diese zeitgemäße Hamburger Institution, weshalb sie zu den zwanzig besten Lokalen der Republik gezählt werden muss. Ein Besuch lohnt sich mit Sicherheit!