Haerlin**, Hamburg

Dezember 2018

Besonders schön geschmückt präsentiert sich das Fairmont Hotel Vier Jahreszeiten an der Hamburger Binnenalster zur Weihnachtszeit. Das Weltklassehotel ist ein Ort der entschleunigten kulinarischen Entspannung, wenn man das dort befindliche Zwei-Sterne-Restaurant Haerlin betritt. Der geräumige Saal mit dem gläsernen Weinschrank ist in lichten Champagnerfarben gehalten und gestattet einen Paradeblick auf die Binnenalster. Hier, in diesem hanseatisch-gediegenen Ambiente kocht mit Christoph Rüffer ein Koch, der sich vor einigen Jahren fast komplett neu erfand und inzwischen seinen eigenen Stil etabliert hat, der ihm im GUSTO die Höchstnote von 10 Pfannen und im Gault&Millau 19 Punkte einbrachte. Höchste Zeit also, dem noblen Lokal nach über drei Jahren mal wieder einen Besuch abzustatten.

Angeboten werden zwei Menüs: zum einen die „Gaumenparty“ mit sechs Gängen (€ 185), zum anderen „die kleine Aromenbehandlung“ zu vier Gängen (€ 145) mit optionalem Käsegang. Ich entscheide mich für die große Variante und bekomme zu einem Traubensecco von Raumland zwei hochfeine Petitessen vorgesetzt: Rindertatar mit Crème von grünen Wacholdernadeln mit Preiselbeeren sowie Aal von der Ostsee mit Anis-Baiser. Fraglos zwei ausgezeichnete Einstimmungen, die Lust auf mehr machen. Der Gruß aus der Küche, geräucherte Bachforelle in einem Beerendashi ist dagegen ziemlich gewagt, auch wenn Rote-Bete-Püree, Tapioka und Ceta-Kaviar die Komposition ergänzen: die Aromatik ist ungewohnt komplex und wohl eher für fortschrittliche Gourmets gedacht.

Als ersten Gang serviert man Thunfischbauch mit Spitzkohlsud, Meerrettich und Mandarin-Kaviar. Das auch optisch schön arrangierte Gericht würde mit seinen maritimen Aromen voll überzeugen, wenn der Sud – meines Erachtens ohne Zugewinn – nicht zusätzlich durch ziemlich bittere Algen aromatisiert worden wäre. Das hätte dieser Gang nicht nötig gehabt, denn Bauch und Tatar von Thunfisch gehen mit Noten von Jalapeño, Avocado, rotem Rettich und Yuzu-Gel eine beglückende Liaison ein, die perfekt ausbalanciert ist.

Es geht weiter mit Carabinero und Herzmuscheln mit Meerfenchel im Krustentier-Ingwertee. Was im ersten Moment exotisch klingt, funktioniert auf dem Teller ausgezeichnet. Die fest-fleischige Konsistenz des Hauptdarstellers ist allein schon bemerkenswert, doch der mit Reisessig verfeinerte Ingwertee und die Aromen von Orangen-Vanillegel zaubern in dieses Gericht eine völlig ungewohnte, aber verblüffende Aromatik, die ich so auch noch selten erlebt habe. Wie hier immer wieder mal außereuropäische Zutaten mit heimischen Produkten kombiniert werden, hat Stil und kulinarischen Tiefgang.

Das trifft sogar in noch stärkerem Maße bei St. Petersfisch mit Chorizo-Vinaigrette, Zitronenhollandaise und Nussbutterschaum. Die mutig und herzhaft dosierte Würze der Chorizo wird von Zitronenzesten, Noten von grünem Apfel und Sellerie so elegant und raffiniert aufgefangen, dass dieser wirklich hinreissende Gang zum Höhepunkt der Menüfolge wird. Dass der zarte Fisch dabei trotz allem mit der Nussbutter prächtig harmoniert, ist vielleicht die größte Überraschung an diesem Gericht, das bei der bloßen Lektüre überfrachtet klingen mag. Superb!

lacierter Wachtel mit geschmortem Chicorée, Brioche und Périgord-Trüffeljus wieder eher auf etwas Bewährtes, ohne dass dieser Gang in irgendeiner Form langweilen würde. Der etwas eigentümlichen Aromatik der Wachtel stellt Rüffer noch Steckrübenpüree und Bratbirne zur Seite, so dass unterm Strich ein leicht überdurchschnittliches Zwischengericht mit hohem Wohlfühlfaktor steht.

Alle Geschütze fährt die Küche dagegen nochmals beim Hauptgericht auf, bestehend aus geschmorter Rinderrippe und Rücken vom Wagyu-Rind mit Butternusskürbis. Schwarzwurzel (hier als getrüffelte Vinaigrette) und Knollenziest sind zwar bewährte Begleiter, doch im Verbund mit der kräftigen, mit Sherryessig aromatisierten Kalbsjus und etwas Miso ragt die Begleitung des edlen japanischen Rinds weit aus der Masse heraus. Außerdem veredeln kleine Bällchen aus Rindermark den Gang in Verbindung mit dem Kürbis (in marinierter und gerahmter Form). Das Beste an diesem Gericht ist jedoch die unbeschreiblich mürbe und inspiriert gewürzte Rippe, die schon beim Annähern der Gabel zu zerfallen scheint. Große Klasse!

Als Pré-Dessert macht Mango mit Olivenöl, Avocado und Koriander sehr viel her: im Verbund mit durch Koriander verfeinerten Apfelsud und karamellisierten Dinkelchips entsteht hier ein fruchtig-leichtes Pré-Dessert mit angenehmem Biss und zauberhafter Aromatik, die durch den raffinierten und keineswegs fremdelnden Einsatz der Oliven (als Öl und als Crème) weiter an geschmacklicher Tiefe gewinnt. Vielleicht haben die Ideen des Ex-Patissiers Christian Hümbs (siehe unten für weitere Erläuterungen) doch ihre Spuren hinterlassen?!

Ein „Blätterwald“ genanntes Dessert erinnert entfernt an ein ähnliches Dessert aus dem Berliner Facil, wird hier aber mit Buchweizen, Holunder und Conférence-Birne in Szene gesetzt. Das ungewöhnlich inszenierte Gericht wird von zwei großen senkrecht stehenden Holunderbeer-Krokantblättern überragt; darunter befinden sich Buchweizenmousse, Gelée von Holunderblüten, Crème von Fichtentrieben (!) und ein Birnensorbet. All dies führt zu einem erfreulich herben Ausklang von nur dezenter Süße, in welchem der Geschmack glücklicherweise nicht die zweite Geige gegenüber der durchaus dominanten Optik spielen muss. Man huldigt hier also durchaus dem Zeitgeist bei den Desserts – wenig Süße, Verzicht auf Schokolade und viel Frucht – und überzeugt damit auf ganzer Linie. Auch unter den Petits fours zum Ausklang befindet sich folgerichtig so manche reizende Kreation, die man so noch nicht kannte. Ein kulinarischer Trendsetter, zu dem die Foodies in Scharen stürmen, ist das Haerlin trotz allem nicht, denn Christoph Rüffer ist inzwischen viel zu erfahren, um genau einschätzen zu können, welche Moden mit seinem Küchenstil kompatibel sind und welche nicht. Man darf hier somit eine auf raffinierte Veredelung spezialisierte Küche erwarten, die sich völlig zeitgemäß gibt, aber keineswegs avantgardistisch wirkt und dies auch nicht nötig hat.

Ich gebe unumwunden zu, dass die Kochkunst von Herrn Rüffer zwar nicht zu meinen bevorzugten Stilen zählt – was aber nichts an ihrer zweifellos vorhandenen Qualität ändert. Beachtlich finde ich zudem, dass der Grand Chef im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen ständig in der Küche anpackt und sich auch für banalste Tätigkeiten nicht zu schade ist, wovon man sich beim Besuch am unterirdisch gelegenen Chef’s Table neben der Küche auch persönlich überzeugen kann. Außerdem ist die Atmosphäre dort unten konzentriert, aber keineswegs hektisch oder laut.

Alles in allem wird hier ein völlig unaufgeregter Stil zelebriert, dessen Qualitäten oft nicht sofort, sondern erst nach einiger Zeit zum Tragen kommen. Die Verfeinerung der Saucen und die unaufhörliche Suche nach neuen Produktallianzen sind die auffälligsten Kennzeichen dessen, was auf die Teller gelangt. Dies alles wirkt sehr konzentriert und hat es nicht nötig, die Muskeln spielen zu lassen – vielmehr wird hier auf nachhaltige Beeindruckung anstatt auf gekünstelte Showeffekte Wert gelegt. Keine Frage auch, dass die Küche im Haerlin trotz typisch norddeutsch anmutender Facetten sehr weltoffen daherkommt und so gut wie nie enttäuscht. Mit dem Abgang von Patissier Christian Hümbs ins Münchner Atelier verlor das Haus zwar einen großen Trumpf, doch sind die Dessert-Kreationen unter der Nachfolgerin Steffi Schmeichel insgesamt wieder zugänglicher geworden und passen damit auch insgesamt besser zur Ästhetik der Küche als die hochgradig komplizierten und absolut individuell geratenen Kreationen unter Christian Hümbs. Trotz allem glaube ich nicht, dass es für den angestrebten dritten Michelin-Stern reichen wird, auch wenn dieses Etablissement praktisch jedes Jahr zu den favorisierten Anwärtern darauf gezählt werden muss. An der Serviceleistung liegt es jedenfalls nicht, denn trotz des Abgangs von Sommelier Marcel Ribis ins Restaurant Jörg Müller nach Sylt wurde mit Christian Scholz rasch ein geeigneter, junger Nachfolger gefunden, der seine Sache bereits ausgezeichnet macht. Überhaupt wissen alle Mitarbeiter unter der Leitung des britischen Maîtres Thomas Andrew ganz genau, was sie zu tun haben. Diese Souveränität des Personals hat, gepaart mit der Paradelage in der Hansestadt, natürlich ihren Preis: bei den Menükosten wird noch ein durchschnittlicher Preis von € 185 für sechs Gänge gefordert, aber bei den Nebenkosten gehört das Haerlin – wenig überraschend – zu den eher teuren Restaurants in Deutschland. Den Genuss trübt das allerdings wenig: falls von zwei Personen eine etwa nur ein viergängiges und die andere ein sechsgängiges Menü nimmt, dann gibt es gratis Kleinigkeiten wie ein erfrischendes Sorbet zur Überbrückung der Kunstpausen – in deutschen Spitzenlokalen ein nahezu beispielloser Vorgang. Alles in allem bestätigt diese zeitgemäße Hamburger Institution, weshalb sie zu den zwanzig besten Lokalen der Republik gezählt werden muss. Ein Besuch lohnt sich mit Sicherheit!