Oktober 2018
Von allen deutschen Metropolen kann Berlin derzeit sicherlich als die dynamischste angesehen werden, wenn es um die Entwicklung neuer Konzepte und Etablierung unbekannter gastronomischer Formen geht. Der Platz hier reicht einfach nicht aus, um auf all diese Entwicklungen genauer einzugehen, aber Lokale wie das Nobelhart&Schmutzig, das mit viel Geheimniskrämerei, angeblich „brutal regionaler“ Küche und schnoddrigem Service punktet, oder das Ernst, in dem die Gäste praktisch mitsamt dem Koch mitten in der Küche setzen, sind nur zwei Beispiele, die stellvertretend für diese Entwicklung stehen. Dass dabei manche dieser ach so hippen Trends fast genauso schnell wieder verschwinden wie sie gekommen sind, ist dabei fast eine nur allzu logische Entwicklung der Ereignisse. Es ist nicht immer ganz leicht zu unterscheiden, welche dieser Lokale ihre Popularität eher einem guten Marketing-Konzept oder kulinarischer Neuartigkeit verdanken. Jedenfalls ist von dem in kulinarischer Hinsicht einstmals so verschlafenen Berlin von vor zehn Jahren nichts mehr übrig. Selbst wenn es der Hauptstadt im Gegensatz zu Hamburg und München noch immer an einem Drei-Sterne-Restaurant fehlt, so ist die Auswahl hier inzwischen so vielfältig, dass für jeden nur halbwegs aufgeschlossenen Esser etwas dabei sein muss.
Vertreter dieser Spezies findet man im Bezirk Kreuzberg besonders häufig, galt doch gerade dieser Stadtteil schon immer als wenig konform, alternativ und aufgeschlossen. Durch die hier besonders intensiv auftretende Gentrifizierung hat sich zudem die gesellschaftliche Zusammensetzung massiv verändert, so dass inzwischen viele Etablissements auf ein recht junges Publikum bauen können, das auf angesagte Konzepte steht. Vorreiter dieser Entwicklung ist das zweifach besternte Horváth am Paul-Lincke-Ufer des Landwehrkanals. Das nach außen unscheinbare Lokal ist in Wirklichkeit durch seine längliche Ausdehnung recht groß und ermöglicht die Bewirtung von Gästen in einer Zahl, die in der Sterne-Gastronomie nicht gerade üblich ist – und trotzdem ist das Restaurant an diesem Samstagabend bis auf den letzten Platz mit einigermaßen jungem Publikum gefüllt. Das recht legere Ambiente und der Verzicht auf jedwede Steifheit im Service tragen sicherlich maßgeblich dazu bei, doch der Hauptgrund ist natürlich die Küche selbst. Hier kocht mit Sebastian Frank ein sehr talentierter junger Koch, der bei keinem Geringeren als Heinz Reitbauer vom Wiener Steirereck ausgebildet wurde und folglich ganz gerne typisch österreichische Zutaten verwendet, ohne dass sein Küchenstil selbst dabei als österreichisch zu bezeichnen wäre. Vielmehr hat Frank hier in den letzten Jahren eine ganz eigenständige und individuelle Küchenstilistik entwickelt, die mit Fug und Recht als einmalig in Deutschland bezeichnet werden darf. Den Fokus richtet Frank – ähnlich wie Reitbauer – auf Gemüse, setzt dieses in durchdachter und vielseitig veränderter Form ein, lotet geschmackliche Grenzen aus und kreiert puristische Teller mit einem beachtlichen Gespür für Aromentiefe und Verzicht auf jedwede Schnörkel. Dass in Zeiten, in denen Schlagwörter wie „grün“, „bio“ oder „vegan“ ohnehin omnipräsent sind, das Interesse an einer solchen Küche naturgemäß groß sein sollte, ergibt sich dabei fast von selbst. Doch gerade in Kreuzberg, wo vollbärtige Hipster diese Schlagwörter besonders intensiv ausleben, fällt ein derartiger Trend natürlich auf besonders fruchtbaren Boden. Ich wage die Behauptung, dass dieses bemerkenswerte Lokal jedenfalls in keinem anderen Berliner Bezirk so gut frequentiert wäre wie in Kreuzberg.
Was macht also den Zauber dieses Lokals aus? Es ist mehr als nur die bemerkenswerte Küche, das weitgehend in Brauntönen gehaltene Ambiente oder der leichtfüßig agierende Service unter der Leitung von Sommelier Jakob Petritsch. Es ist vielmehr ein Gesamtkonzept, das neugierig macht, mit fast schon grenzwertig kleinen Portionen zu aufmerksamem Genuss zwingt und doch als kulinarischer Solitär in Deutschland dasteht.
Die aufwendigen und extrem durchdachten Kreationen werden in einem bis zu neungängigen Menü zu € 140 angeboten, das auch auf sieben oder fünf Gänge verkürzt werden kann. Während der Menüpreis jedoch auffallend günstig gerät, schlägt die Weinbegleitung oder alternativ die alkoholfreie Begleitung mit € 90 zu Buche. Dass letztere den identischen Preis wie für die Weinbegleitung aufruft, finde ich trotz ihrer Kreativität und ihrer Komplexität dennoch als grenzwertig – ich beiße trotzdem in den sauren Apfel. Schließlich will ich ja doch vergleichen können mit den wenigen anderen Lokalen, die Vergleichbares anbieten wie etwa Nils Henkel auf Burg Schwarzenstein oder Felix Schneider im Sosein in Heroldsberg. Immerhin ist eine solche Begleitung ein logischer und konsequenter Schritt – während viele andere Köche meist nur pflichtbewusst auf der Modewelle schwimmen und pseudo-bedeutsam Gemüse auf den Teller zaubern, hört Frank nicht beim Essen auf, sondern macht auch noch bei den Getränken weiter.
Die Ästhetik dessen, was uns in den nächsten gut vier Stunden erwarten wird, erhellt sogleich der erste Gruß aus der Küche: eine heiße Röstgemüsereduktion aus Karotte, Sellerie und Petersilienwurzel, die nicht nur leicht süßlich und sehr intensiv schmeckt, sondern zu der kalten Witterung auch bestens passt. Die überdurchschnittliche Brotauswahl offeriert danach unter anderem so Ungewöhnliches wie ein Blutwurstbrot und wird nach dem Verzehr auch umgehend wieder aufgefüllt. Spätestens mit dem zweiten Gruß aus der Küche gelingt es Chefkoch Sebastian Frank, all den typischen Kennzeichen seiner Küche in einer auf den Punkt gebrachten Kreation Ausdruck zu verleihen: trotz des sparsam dosierten Inhalts überzeugt das Schälchen mit Kartoffelchips, geröstetem Mohn und Knoblauchrahm vollauf. Perfekt ausbalanciert, diffizile Aromatik und äußerste Ökonomie der eingesetzten Mittel machen aus diesem Einstieg einen Beitrag der Sorte, an den man sich auch noch nach ein paar Wochen erinnert. Ach ja: dazu trägt auch der Umstand bei, dass dieses Gericht mit einem Göffel (Gabel und Löffel in einem) verzehrt werden soll!
Der Einstieg ins Menü, bei dem übrigens alle Gerichte mit hilfreichen Kärtchen erläutert werden, erfolgt mit „Mayonnaise Ei“. Schaumige Mayonnaise mit Eigelb wird hier mit glasiertem Senfgurken-Wurzelgemüse, Petersilie und etwas Weißbrot in Szene gesetzt. Das halbflüssige Eigelb ist überraschend und raffiniert versteckt unter dem Schaum und punktet mit toller Konsistenz. Die an sich schon ungewöhnliche Kombination schmeckt facettenreich und verblüfft mit erstaunlicher Aromenvielfalt, doch mit dem Schaum als alles verbindendes Element hat Frank das kongeniale Mittel, das das ganze Gericht sinnvoll zusammenhält, gefunden. Großartig! Dazu schenkt man eine Molke ein, die mit Honig, Meerrettich und Leindotteröl veredelt wird. Es klingt so, als könnte man niemals alle diese Aromen herausschmecken, doch die Meisterschaft von Frank besteht darin, dass genau dies der Fall ist. Superb!
Sehr puristisch kommt „Schlemmerfilet“ daher: ein wunderbar gegartes Zanderfilet schwimmt lediglich in einer pikanten Tomatensauce und ist mit etwas Ribiselschnapsmarmelade getoppt. Das auf den ersten Blick sehr banal wirkende Gericht kaschiert den hohen Arbeitsaufwand sehr geschickt, denn spätestens nach der Verkostung der delikaten Tomatensauce ahnt man, dass das Gericht weitaus durchdachter und komplizierter als geahnt ist. Im Vertrauen auf die superbe Grundqualität seiner Produkte wird der Hauptdarsteller hier mit minimalem Beiwerk so leicht und unbeschwert in Szene gesetzt, dass nichts vom reinen Fischgenuss ablenkt. Der Saft, der wie schon die erste Einstimmung aus Karotte, Sellerie und Petersilienwurzel besteht, hält sich angenehm dezent zurück. Diesmal ist er allerdings kalt und mit etwas Rapsöl veredelt.
„Haschee“ ist ein rein vegetarisches Gericht, das genau diesen Umstand geschickt ad absurdum führt: das gebratene Pilzhack schmeckt intensiver als so manche Fleischsorte und wird hinreißend umspielt mit schaumiger Gemüseeinmachsoße und Kopfsalat in gedörrter und oxidierter Form. Der winzige Salat am Tellerrand als Beilage kommt uns sogar entbehrlich vor, denn die kulinarische Aussage dessen, was sich ansonsten auf dem Teller tummelt, ist eindeutig: Gemüse wird immer noch maßlos unterschätzt und kann in der Hand eines Könners ungeahnte Qualitäten entfalten. Hier sind die Spuren von Franks Ausbildung bei Heinz Reitbauer, einem der besten Gemüseköche der Welt, deutlich auszumachen, wenngleich Reitbauer tendenziell etwas subtiler und Frank etwas plakativer mit den Aromen spielt. Ein Saft aus gelber Bete, der mit etwas Kürbiskernöl angereichert wird, ergänzt sich prächtig mit dem Gang.
„Mangalitza Backerl“ kommt in einem Teller daher, der zuvor mit geeister Creme von Holunder und Traubenkirschen eingerieben wurde. Darin befindet sich eine kleine, längliche Tranche von in Paprika gebeizter Mangalitza-Backe, frischer Meerrettich und Sud von Gemüsezwiebeln. Sofern man der fettigen Konsistenz des Hauptdarstellers etwas abgewinnen kann (trifft auf mich, aber auf meine Begleitung nicht zu …), macht dieser Gang durchaus etwas her: das mutig mit Schärfe spielende Gericht raubt dem Hauptdarsteller die Schwere und überzeugt mit komplexen Noten von Fruchtigkeit und Schärfe in einem. Der servierte Rubinette-Apfelsaft mit Malzbier und Zitronenzesten dagegen ist ein höchst gewöhnungsbedürftiger Begleiter, dessen komplexe Aromatik nicht so leicht einzuordnen ist.
Als nächstes folgt gebackener Sellerie, Sellerie in Leindotteröl, Kürbiskernöl-Vanille-Paste und Sud aus weißer Schokolade. Mit dieser Zutatenliste ist der geneigte Gast endgültig in der Avantgarde angekommen, doch tatsächlich dominiert der Sellerie, dem scheinbar jede nur denkbare aromatische Facette abgerungen wird, den Teller so stark, dass die Begleiter bestenfalls in dezenter Form zur Kenntnis genommen werden – und das ist auch gut so, denn das Faszinosum dieses Gerichts besteht genau aus der Vielfalt eines einzigen Produkts und nicht aus verkopft klingenden Begleitern. Radikaler Purismus und Reduktion in seiner schönsten Form – der eingeschenkte Champignonsaft mit Anis-Brot-Rand am Glas verleiht dem Gang etwas Körper.
Bei der Erfrischung vorm Hauptgericht ist mit dem Chef meines Erachtens dann aber doch der Gaul durchgegangen: geeister Gemüsesaft, kandierte Zitronenzesten, Mandelöl und frisch gepresster Gemüsesud kann mich leider gar nicht überzeugen. Außer dem Sud bleibt von dem Gericht wegen der viel zu kalten und zu massig eingesetzten Menge an Eis von der subtilen Aromatik nichts mehr übrig. Hinnzu kommt, dass der separat gereichte Birnenessig derart dominant-säuerlich auftritt, dass er die gesamte Aufmerksamkeit des Gastes beansprucht und gnadenlos vom Teller ablenkt. Mein Fall war dieser Gang jedenfalls gar nicht!
Nach diesem Hänger wurde jedoch schnell wieder das gewohnte Niveau erreicht: kurz gebratene Brandenburger Rehkeule, Zwiebel-Majoran-Schmelze, geräucherte Quarkcrème, Suppengemüse und Essig-Pilz-Marmelade ist eine Aromenbombe. Ein keineswegs hoffnungslos überfrachteter Teller mit äußerst sparsam dosierten Begleitern lässt dem phantastischen Reh allen Platz zur Entfaltung und wird so – ganz berlinerisch ausgedrückt – zu einem herbstlichen Gericht à la bonheur. Dagegen ist der Radicchiosaft mit Mandel-Zitronenöl eindeutig zu bitter geraten.
Als ein starkes Dessert erweist sich gebratene Karotte mit Punsch-Sorbet, Essenz vom Quittenauszug, gerösteter Karottensaat und Früchteteebutter. Den hauptsächlichen Reiz des Gerichts macht die Verfremdung der Karotte aus, die süß-mürb eine völlig fremdartig anmutende Aromatik annimmt. Getoppt wird sie zudem mit der Saat desselben Produkts, so dass wieder einmal die möglichst vielseitige Verwendung eines Produkts im Mittelpunkt steht und auch hier wieder vollkommen überzeugt. Die spärlichen fruchtigen Akzente der übrigen Nebendarsteller sind genau richtig dosiert, was auch von dem Gala-Apfelsaft mit Nussholzhydrolat (!) behauptet werden kann.
Geeiste Schwarzwurzelsahne, Karamell, Bröselbutter von Schwarzwurzel und Biskotte (Löffelbiscuit) ist ein erstaunlicher Ausklang fast ohne jede Süße. Erdige und herbe Aromen verleihen dem Gericht eine ganz eigentümliche Note, deren Einordnung mir persönlich nicht leicht fällt. Kein Knalleffekt jedenfalls, aber auch keine Enttäuschung. Ein letzter aromenstarker Begleiter ist die Molke aus Waldmeister-Sirup.
Nach so einem ungewöhnlichen und hochgradig individuellen Menü wäre man ja regelrecht überrascht, wenn nun ein klassischer Ausklang der Patisserie folgen würde. Doch keine Sorge, denn zum Schluss folgt das Signature Dish des Hauses: die Praline von weißer Schokolade, Schweineblut (kein Scherz!) und Nussbutter in einer essbaren, transparenten Folie aus Kartoffelstärke. Es wird kolportiert, dass schon so mancher Gast bei der Erklärung des Gerichts dankbar auf diesen Happen verzichtete, doch welchen Fehler begeht er damit! Dieses Wunder an konzentriertem Geschmack und völlig neuartiger Aromenwelten ist vollkommen zurecht ein Klassiker des Hauses, drückt diese Petitesse doch in zwei Kubikzentimetern all das aus, was Franks Küche ausmacht.
Dass diese verhältnismäßig schwer zugängliche Küche trotz allem so viel Publikum anlockt, ist eine der größten Überraschungen unter meinen Beobachtungen des Abends. Mit einem klassischen Gourmetabend hat ein Besuch hier schließlich herzlich wenig zu tun, denn diese Küche eckt schon mal an und lockt den Gast aus seiner Komfortzone. Dass die Getränkebegleitung dabei möglicherweise nicht immer meinen Geschmack traf, mag schon sein – dennoch ist klar, dass gerade Avantgarde-Konzepte von ungebremster Lust am Experimentieren leben und es ohne gelegentliche Rückschläge keine Fortschritte geben kann. Sebastian Frank hat seinen unverwechselbaren Stil, mit dem er sich inzwischen auch deutlich von seinem Lehrmeister abgekoppelt hat, nunmehr so weit entwickelt, dass der GUSTO heuer erstmalig die (optimistische) Höchstnote von 10 Pfannen vergab. Eine Anhebung der aktuellen 17 Punkte im G&M auf 18 Punkte würde mich jedenfalls nicht überraschen, denn die ungeheure Konzentration und geistige Durchdringung dessen, was auf den Teller kommt, deutet einen Reifeprozess an, der mit großer Geschwindigkeit voranschreitet. Wie auch immer man das Lokal bewertet: Kreuzberg ist um eine bedeutsame Institution reicher und kann sich glücklich schätzen, ein nahezu einzigartiges Restaurant zu beherbergen. Chapeau!