reinstoff**, Berlin

Anmerkung: dieses Restaurant ist inzwischen geschlossen.

November 2018

Ziemlich gut versteckt in der postmodernen Kulisse der Edison-Höfe im Norden von Berlin liegt das Restaurant reinstoff. Hier gingen die Bewertungen des Lokals vor gut fünf Jahren regelrecht durch die Decke, als Chefkoch Daniel Achilles zum vorübergehend bekanntesten Koch der Hauptstadt wurde. Seit dem Hype ist es um dieses Etablissement wieder etwas ruhiger geworden, nachdem Achilles sich mit zwei Michelin-Sternen und 18 Punkten im G&M dauerhaft in der Eliteliga der Hauptstadt etablieren konnte. Der Anlass meines zweiten Besuchs (der erste war im Jahre 2014) war die Ankündigung im Frühjahr, das Lokal werde zum Jahresende schließen und eine neue Bleibe in Berlin beziehen, über die bislang noch nichts nach außen gedrungen ist. Anlass für die Entscheidung des Chefs waren zum einen die Größe der winzigen Küche sowie das Fehlen eines Lifts und zum anderen die inakzeptablen Pachtforderungen der Besitzer. Die Konsequenz hieraus war der geplante Umzug in eine neue Bleibe – derzeit verabschiedet sich Achilles mit Menüs, die aus Highlights der letzten zehn Jahre bestehen.

Wir betreten also die in kantigen Formen gehaltenen Räume, die früher eine Glühlampenfabrik beherbergten. Als Referenz dazu baumeln von dem Gitter an der hohen Decke etliche Glaskugeln, und auch einige der Wände sind mit Spiegeln von monumentaler Größe behangen. Wohin das Auge schaut, es erblickt Backsteinarchitektur, rechtwinklige Formen und schnörkellos eingerichtete Räume. Ansosten gibt es noch grüne und schwarze, leicht transparente Vorhänge, die das Geschehen innen vor neugierigen Blicken von außen abschirmen.

Unsere Wahl fällt auf das fünfgängige Mittagsmenü für € 80, bei dem man zudem zwischen Käse oder Dessert zum Abschluss entscheiden kann. Neben einer nicht weiter erwähnenswerten Brotauswahl gibt es einen Trauben-Secco von Raumland, der einen schönen Einstieg darstellt. Man reicht dazu vier Kleinigkeiten, die vor allem optisch etwas hermachen. In geschmacklicher Hinsicht trifft dies leider weitaus weniger zu: da wäre zunächst „Ebbe und Flut“: auf einem kleinen Schälchen ruht ein Teller mit getrockneten Algen und Algencrème, während darunter Miesmuschel, auch in gelierter Form, in einem mit Shrimps aromatisierten Fond schwimmt – klingt leider spannender als es schmeckt, nämlich recht fade. Das trifft leider in gleichem Maße auch auf den Kürbis-Churro wie auf den blanchierten Brokkoli mit Ananas-Stückchen und einem grünen Dip zu. Das glatte Gegenteil davon ist ein befremdlich anmutender Chip mit Pilzen und Kaffee obenauf: das bittere Aroma des Kaffees ist nicht nur sperrig und will mit dem Pilz nicht viel zu tun haben, sondern ist auch noch in penetranter Massigkeit eingesetzt. Mit anderen Worten: der Reigen an Einstimmungen ließ mich so kalt wie schon lange keiner mehr.

Offiziell geht es dann los mit Lübecker Labskaus mit Kalbszunge, Hering, Ei und Rote Bete. In dekonstruktivistischer Weise setzt Achilles die Komponenten neu zusammen und erreicht damit allenfalls in puncto Optik ein bemerkenswertes Ergebnis. Die ohnehin schon kleine Portion vermag geschmacklich nichts Aufregendes zu bieten und wirkt im Vergleich zu Kevin Fehlings Kreation im Hamburger The Table wie ein müder Abklatsch. Ich hätte jedenfalls keine Einwände gehabt, dieses Gericht auf dasselbe Niveau wie einen konventionellen Labskaus zu heben. Die flache Aromatik des Gerichts wirkte auf mich wenig durchdacht und ziemlich beliebig.

„Kartoffelernte“ geriet in handwerklicher Hinsicht überzeugender, doch müsste ich lügen, würde ich behaupten, dass ich noch kein vergleichbares Gericht gegessen hätte. Im Wesentlichen besteht das Gericht aus verschiedenen Kartoffelsorten, die mit Ziegenmolke und Butterschmalz veredelt waren. Darauf konnte man nach Bedarf noch kostspielig weißen Trüffel darüber reiben lassen, doch das vergleichsweise eindimensionale Geschmacksbild wurde durch den Trüffel nicht erheblich aufgewertet. Unterm Strich besser als der erste Gang, aber von einer Eingebung weit entfernt.

Der Tiefpunkt war für meine Begriffe Gänseleber mit Mais und gezupftem Stockfisch. Weshalb man die Gänseleber, die als kleines Eis mit Mais und als auffallend herbe Terrine mit Rotweingelée ummantelt war, zum Tanz mit Stockfisch bitten musste, erschloss sich mir nicht. Die Paarung völlig disparitätischer Aromen wirkte nicht zwingend, sondern bestenfalls gekünstelt und fand auf dem Teller keinerlei Rechtfertigung – ein seltsames Gericht mit rätselhafter Absicht.

Das fast schon konservativ anmutende Hauptgericht zeigte dann endlich, wozu diese Küche durchaus in der Lage sein kann: „1001 Nacht“ bestand aus Rehrücken, Rosenblättern, Feigen und schwarzem Sesam. Auch hier geriet der Teller zu einer farbenfrohen Anordnung, doch waren die Aromen diesmal wesentlich stimmiger und sorgsamer ausgelotet. Dem wunderbaren Hauptdarsteller genügte eine kräftige Jus vollkommen, um ins beste Licht gerückt zu werden. Die Nebendarsteller setzten dabei feine Spitzen und hielten sich angenehm zurück – mit Abstand der beste Gang des Tages.

Blauer Allgäuer schließlich wurde in Pastis (Anis-Schnaps) gewaschen und kann in kreisrunder, karierter Form auf den Teller: die kleinen quadratischen Segmente bestanden aus dem Käse und geräucherter Ananas mit Fenchelsamen. Der Käse hatte durch die spezielle Bearbeitung keine sonderlich veränderte Aromatik angenommen und bot einen interessanten Kontrast zu den fruchtigen Aromen der Ananas – ordentlich, aber mehr auch nicht.

Wenigstens konnten die Ausklänge nochmals versöhnlich stimmen, nachdem zuvor doch einiges schiefgegangen war oder nicht unserer Erwartungshaltung entsprochen hatte: eine harmlose Schokoladen-Praline mit Hagebutte gefüllt, ein vrozüglicher Taco mit Nougat und weißer Schokolade gefüllt, eine sehr bemerkenswerte Topinambur-Praline und eine hinreißende Ganache aus weißer Schokolade und Sauerampfer. Es passte irgendwie ins Bild, dass diese ziemlich unstete Leistung ausgerechnet am Ende nochmals einen positiven Höhepunkt erreichte – was aber leider nichts mehr an dem insgesamt fragwürdigen Eindruck des gesamten Nachmittags ändern konnte.

Der Service bestand aus durchweg jungen Männern in Anzügen – eine seltene Erscheinung, aber an der Art und Weise, wie diese ihren Job erledigten, gab es wenig auszusetzen. Serviceleiter und Sommelier Alexander Seiser agierte umsichtig und aufmerksam, manchmal aber hart an der Grenze zum Aufgesetzten. Den Charme mancher anderen Institution in Berlin ließ die Truppe zwar vermissen, aber Kritikpunkte gab es keine zu verzeichnen. Insbesondere die Geduld des Sommeliers während der Weinauswahl meiner Begleitung war recht bemerkenswert. Mit stoischer Ruhe tischte er nicht weniger als vier Weine auf, bis endlich die richtige Wahl getroffen war!

Trotzdem muss ich gestehen, dass mich dieser Nachmittag alles andere als vom Hocker gerissen hat. Mit dem ersten Besuch hatte die gezeigte Leistung fast nichts mehr gemeinsam, auch wenn schon damals das eine oder andere unstet wirkte. Besonders enttäuschend fand ich das mehr als nur einmal zu beobachtende fehlende Gespür für sinnvolle Aromenkonstellationen. Avantgarde-Küche darf natürlich provozieren, doch allzu häufig entstand der Eindruck, dass optische Komponenten wichtiger erschienen als geschmackliche. Mehr als nur einmal gab es an diesem Nachmittag Gänge, die ich in ähnlicher Form schon wesentlich besser umgesetzt erlebt habe oder solche, die mit befremdlich anmutenden Aromen verstörten. Bereits der Einstieg blieb trotz toller Optik vieles schuldig, doch hoffte ich danach noch auf Besserung – letztlich vergebens, wie ich später desillusioniert zur Kenntnis nehmen musste. Interessanterweise war ausgerechnet das konservativste Gericht das beste, während gerade die vielgerühmten Avantgarde-Kompositionen an mangelnder Kreativität oder kaum überdurchschnittlichem Handwerk krankten. Hinzu kommt, dass auch die Nebenkosten recht aggressiv kalkuliert sind.

Summa summarum war dies bislang die klar enttäuschendste Darbietung eines Zwei-Sterne-Restaurants in diesem Jahr – dass Achilles es prinzipiell besser kann, bewies er bei meinem ersten Besuch. Vielleicht war er in Gedanken schon bei dem anstehenden Umzug und wirkte weniger fokussiert; trotzdem bleibt die berechtigte Frage, inwiefern diese Gerichte es auch noch zu den Klassikern des Hauses gebracht haben sollen. Ich bin gewisser kein Verachter der Avantgarde, aber die Darbietungen im FalcoVendôme und Horváth haben mich dieses Jahr deutlich mehr überzeugen können. Es wäre zu wünschen, dass der Umzug in eine neue Location Herrn Achilles möglicherweise neue, dringend benötigte Impulse verleihen kann. Dass dies durchaus eintreten kann, hat sich auch beim August in Augsburg, dem vielleicht kühnsten Avantgarde-Lokal Deutschlands, gezeigt: seit dem Umzug in die Haag-Villa haben die meisten Guides ihre Noten für Christian Grünwald nochmals angehoben. Man würde sich wünschen, dass auch eine ähnliche Entwicklung mit dem reinstoff eintreten kann, denn dass Daniel Achilles zu wesentlich mehr fähig ist als er an diesem Nachmittag gezeigt hat, steht für mich außer Frage. Vielleicht kann er dann auch wieder bestätigen, dass er die aktuellen Auszeichnungen zurecht bekommen hat – dieses Menü hat sie meiner Ansicht nach jedenfalls nicht verdient.