Im Schiffchen*, Düsseldorf-Kaiserswerth (UPDATE)

„In der Kindheitserinnerung jedes guten Kochs gibt es … eine große Küche, einen laufenden Kochherd, einen Kuchen im Ofen und eine Mama.“ (Barbara Costikyan)

UPDATE (Mai 2024)

Beginnen wir diesen Bericht mal mit einer Zeitreise und versetzen uns ins Jahr 1997. Wenn Sie sich einigermaßen in der Geschichte der deutschen Hochküche auskennen, dann versuchen Sie doch einmal die Frage zu beantworten, wie viele Dreisterner es zu jener Zeit in Deutschland gab.

Die etwas überraschende Antwort lautet: zwei. Nach dem Beginn des deutschen Küchenwunders in den 70er-Jahren, das maßgeblich von Eckart Witzigmann im Münchner Tantris vorangetrieben wurde, führte dieses zu einer ersten Blüte in den 80er-Jahren. Dem ersten Dreisterner, die Aubergine, folgten im Jahre 1982 das Tantris unter der Riege von Heinz Winkler und das heute nur noch wenig im kulinarischen Gedächtnis verankerte Kölner Gasthaus Goldener Pflug von Herbert Schönberner, welches die drei Sterne insgesamt sechs Jahre lang hielt. Mitte der 90er-Jahre war die Aubergine allerdings schon geschlossen, und auch das Tantris konnte bis zum heutigen Tag nach dem Abschied von Heinz Winkler im Jahre 1991 nie mehr drei Sterne erlangen. Der ambitionierte Chef erlangte mit seiner Residenz im neuen Jahrtausend wieder drei Sterne, nachdem ein einjähriges Intermezzo 1994 im Jahr darauf schon wieder überraschend mit der Aberkennung geendet hatte. Die illustren Schweizer Stuben wurden auch nie mit drei Sternen ausgezeichnet, während andere Dreisterner wie Helmut Thieltges‘ Sonnora und das Vendôme in Bergisch Gladbach erst später hinzukamen, so dass gegen Ende der 90er-Jahre tatsächlich eine Art Durststrecke nach ziemlich glorreichen ersten Jahren folgte. Wenn man sich durch die recht unübersichtlich gestalteten roten Gourmetbibeln jener Zeit durcharbeitet, dann findet man nur zwei mit den höchsten Weihen ausgezeichnete Restaurants: die Schwarzwaldstube unter Harald Wohlfahrt und das Im Schiffchen von Jean-Claude Bourgueil, der hierzulande schon immer eine gewisse Sonderstellung einnahm.

Bemerkenswert daran ist insbesondere die Tatsache, dass der in jeder Hinsicht außergewöhnliche Chef noch immer regelmäßig am Herd steht und nur etwas kürzer tritt, obwohl er in drei Jahren seinen 80. Geburtstag begehen wird. Allein der Umstand, dass ein derart ambitionierter französischer Chef in den 70er-Jahren nach Deutschland kommt und sich freiwillig Bedingungen aussetzt, welche die Republik zu jener Zeit als ein kulinarisches Entwicklungsland brandmarkten, nötigt mir gehörigen Respekt ab. Wer einmal in den Memoiren von Eckart Witzigmann blättert, der wird reichlich Belege dafür finden, dass frische Kräuter damals praktisch nur aus dem eigenen Garten und solch banale Produkte wie Crème double nicht im deutschen Handel zu beziehen waren. Verglichen mit dem französischen Schlaraffenland glich Deutschland also zu jener Zeit fast einer kulinarischen Wüste – und doch schreckte dies Monsieur Bourgueil nicht ab, in Düsseldorf Fuß zu fassen, wo er bereits seine erste Station, die Walliser Stuben, zu zwei Michelin-Sternen führte. Sieben Jahre später bezog er ab 1977 das wunderschöne, denkmalgeschützte Gebäude in Düsseldorf-Kaiserswerth, welches bis zum heutigen Tage das illustre Restaurant Im Schiffchen beherbergt, auch wenn dieses inzwischen vom Obergeschoss ins Erdgeschoss umgezogen ist. Dort geht es weniger plüschig, sondern eher etwas maritimer zu.

Jean-Claude Bourgueil, Jahrgang 1947, ist kurioserweise am Tag der Arbeit geboren – ein symbolischer Zufall, denn ich kenne in Deutschland keinen anderen Koch, der über Jahrzehnte hinweg so sehr für seine Passion brannte und dies bis zum heutigen Tag noch immer tut. Sein eiserner Arbeitswille und der Stolz, mit dem er seinen Berufsstand seit jeher vertrat, brachten ihm über achtzehn Jahre hinweg drei Sterne (von 1988 bis 2006) und den Status des „Halbgotts von Kaiserswerth“ ein. Die Einkehr der internationalen Gourmandise liegt inzwischen freilich ein paar Jahre zurück, doch noch immer hält das berühmte Lokal zumindest einen Stern und erfreut sich bei einer treuen Gästeschar weiterhin großer Beliebtheit – selbst unter der Woche kann es unter Umständen passieren, dass man ohne entsprechenden Vorlauf keinen Tisch bekommt. Ein Teil des Zaubers geht allerdings nicht nur von dem Ambiente im Inneren aus, sondern auch von der unvergleichlichen Aura des Chefs, der mit seiner Präsenz den Gastraum regelmäßig ausfüllt. Trotz seiner großen Disziplin zeigt sich dieser Grand Chef speziell gegenüber all jenen, die ein überdurchschnittliches Interesse an der Hochküche erkennen lassen, auskunftsfreudig und offen dafür, dem Gast die Küche und damit das Heiligtum des Lokals zu zeigen. Ein zumindest sporadischer Besuch hier sollte also genauso wie die gewissenhafte Lektüre seines klassischen Kochbuchs Die Philosophie der großen Küche zum Pflichtprogramm des gebildeten Gourmets gehören – noch immer hat das Wort des hochdekorierten Ausnahmekönners viel Gewicht. Auch die Lektüre der ausgesprochen informativen Homepage des Lokals sei dringend empfohlen.

Ich entscheide mich nicht für eine Zusammenstellung à la carte, sondern für ein fünfgängiges Menü zu € 178, welches dem Gast einerseits leichte Optionen zur Modifikation ermöglicht, aber andererseits im Preis dadurch auch variiert. Nach der Bestellung reicht man zu einem wohlschmeckenden Cocktail aus Bitter Lemon, der mit Säften von Apfel, Grapefruit und Blutorange aufgegossen wurde, zunächst zwei Käsestangen mit Parmaschinken. Was ich schon seinerzeit im Luxemburger Mosconi angemerkt habe, trifft auch hier zu: etwas schlicht zwar, aber entscheidender ist, dass die Qualität stimmt. Die gewöhnliche Brotauswahl mit aufgeschlagener Süssrahmbutter ist mir dagegen kein Foto wert, weshalb ich gleich zum Amuse bouche überleite: Purée von San-Marzano-Tomaten (vom Fuße des Vesuv) mit Burrata unter einem Gazpacho-Schaum lebt von der atemberaubenden Intensität der Produkte, die durch die gezeigte Schlichtheit sogar noch weiter betont wird – fraglos ein Höhepunkt der Soirée. Der versierte Chef weiß natürlich, dass für aromatische Höhenflüge keine Artistik notwendig ist, wenn man über solche Produkte verfügt. Allein in diesem aparten Auftakt steckt schon sehr viel von dem, was die Küche hier über Jahrzehnte auszeichnete.

Zum Einstieg steht ein erklärtes Lieblingsprodukt des Chefs auf der Karte: für den bretonischen Hummer hat Monsieur Bourgueil im Laufe seiner lange Karriere eine atemberaubende Palette an Zubereitungsarten ersonnen und sich diesmal für die Variante entschieden, ihn mit Zedernholz zart zu räuchern. Die Flugmango (in der Karte ist allerdings eine Ananas annonciert) bereichert den Gang in filetierter Form und als mit Piment verfeinerten Tropfen am Rande des Tellers, die eine gehörige Spannung erzeugen. Das Mandelöl sorgt für ein abgerundetes Geschmacksbild, welches durch aristokratische Klarheit und Reinheit besticht. Ob der Brotchip den Gang bereichert, sei dahingestellt, aber dessen ungeachtet hat dieser Teller Lehrbuchcharakter, zumal deutlich erkennbar im Sinne der Nachhaltigkeit auch das Scherenfleisch des Krustentiers eingesetzt wird, welches durch seine auffallend weichere Konsistenz auf sich aufmerksam macht.

Der nächste Gang wird auf zwei Teller verteilt: zur rechten Seite findet man eine leichte und absolut meisterhafte Velouté von grünem Spargel, die überraschend intensiv auftritt und einen langen Nachhall an den Gaumen zaubert. Im Hauptteller bettet die Küche ausgelösten und an der Karkasse gegarten Kaisergranat auf Mousse und Krustentierbisque, wobei ich leider zweierlei Vorbehalte hege: zum einen wandelt das grenzwertig weiche Fleisch des Krustentiers an der Grenze zur Übergarung, und zum anderen erscheint mir die Verbindung zwischen beiden Teilen nicht besonders schlüssig. Alles in allem hinterlässt dieser Gang somit einen leicht irritierenden Eindruck, den man in diesem Etablissement so nur selten erleben dürfte.

Das grundsätzliche Konzept hinter dem nächsten Gang überzeugt mich leider nicht: auch wenn das Spiel mit Düften eine ausgewiesene Lieblingsdisziplin des Chefs ist, so eignet sich für meine Begriffe der Vanilleduft nicht sonderlich für die Schnitte vom Loup de mer, weil mir dieser Begleiter einfach zu mild für die spezifische Aromatik des eher aromensatten Wolfsbarschs daherkommt. Die Charakteristik wird durch eine zu weiche Textur des Fischs noch weiter verwässert, zumal auch weißer Walbecker Spargel keine kontrastierenden Reizpunkte zu setzen vermag. Alles in allem fehlte es mir diesmal entschieden an Mut, die Texturen trennschärfer in Szene zu setzen, denn so wird der Teller von zu viel gefälliger Harmonie getragen, woran auch das Preiselbeergelée nichts ändert. Der mit Sepia gefärbte Tempura-Teig sollte möglicherweise einen Trompe-l’oeil-Effekt imitieren, weil eine knallige Assoziation mit der Vanille erzeugt wird, aber geschmacklich trägt er nur unwesentlich bei. Alles in allem ein zu biederer Teller, welcher definitiv den schwächsten Beitrag des Abends darstellte.

Ganz bei sich ist die Küche wieder beim Hauptgang: das à part gereichte, in Rotwein geschmorte Keulenragout könnte weder französischer noch intensiver in der Aromatik sein und erweist sich als grandioser Auftakt zum Hauptteller, der ebenfalls ein selbstbewusstes und wuchtiges Statement setzt. Gerade nach dem seltsam indifferenten Vorgänger wirkt das Rehbockmedaillon in Verbindung mit gebratener Entenleber ausgesprochen wohltuend, wobei das Bett von grünen Linsen und das Croustillant von diversen Kräutern eine klassische Kombination noch weiter aufwerten, die hier kraftvoll und ohne falsche Scheu in Szene gesetzt wurde. Auch dank variabler Konsistenzen (vom Schaum bis zu den Linsen mit ordentlich Biss) wird daraus ein genussvolles und exemplarisches Esserlebnis erster Güte.

Üblicherweise stellen die Desserts die Disziplin dar, anhand derer die Diskrepanz zwischen klassischen und zeitgemäßen Restaurants am offenkundigsten zutage tritt. Der vorliegende Ausklang stellt keine Ausnahme dar, denn während sehr löblich einerseits der Fokus auf die exzellente Qualität der Grundprodukte gerichtet wird, so bleibt andererseits doch anzumerken, dass ein gewisser Mangel an Artistik sowie die recht plakativen Texturen von delikatem Limettengelée, Gariguettes-Erdbeeren und Joghurtsorbet nicht ausreichen, um der Vorhersehbarkeit etwas entgegenzusetzen. Indirekt wird deutlich, dass der Stellenwert der Pâtisserie vor einigen Jahrzehnten längst nicht mit dem heutiger Zeiten zu vergleichen war, weshalb den Desserts oftmals etwas Schweres, Biederes und Austauschbares anhaftete. Insofern kann man diesem Ausklang nach heutigen Maßstäben bestenfalls ein solides Ein-Stern-Niveau attestieren.

Deutlich moderner, obwohl schon seit vielen Jahren auf der Karte, ist die ausgelassene Kreation Effeto del Vesuvio, welche es sich offenbar zur Aufgabe gemacht hat, die Vielseitigkeit von Schokolade in allen Produkten zu beleuchten. Eine leichte und bekömmliche Verabschiedung ist damit eher nicht verbunden, aber nach fünf Gängen ist noch Platz im Magen, zumal dieser erkennbar inspirierte Teller seinerzeit Maßstäbe gesetzt haben dürfte – ein Traum für alle Schokoholiker!

Es wäre voreilig und auch zu einfach, die Qualität der nach wie vor großen Handwerkskunst, die hier zelebriert wird, zu verkennen, weil es heutzutage vielleicht nicht gerade en vogue ist, Krustentiere in Kamillenblüten zu dämpfen oder Speisen in Tempurateig zu backen. Mag sein, dass diesen Gerichten vielleicht aus heutiger Sicht nicht dasselbe Maß an Raffinement innewohnt wie es junge Chefs heutzutage praktizieren, aber ändert das indessen etwas an ihrer Qualität an sich? Eher nicht, denn all das, was Hochküche vor zwanzig Jahren ausmachte, kann man hier, wenn die Inspiration stimmt, bisweilen immer noch in ihrer schönsten Form erleben. Natürlich ist der Zenit überschritten, aber mehr oder weniger konsequent solche Kunstwerke auf die Teller zu zaubern in einem Alter, wo andere Chefs schon vor fünfzehn Jahren den Kochlöffel an den Nagel hingen, kann einen nicht kalt lassen. Nehmen wir nur einmal das Après-Dessert, das schwerlich heutigen grünen oder nordischen Trends huldigt – und dennoch würde sich wohl so mancher aufstrebende junge Koch wünschen, ein so kreatives und keine Sekunde langweiliges Dessert rund um das Thema Schokolade ersinnen zu können.

Es ist wahr, dass auf der Speisekarte inzwischen nicht mehr allzu viel Bewegung herrscht und dass manchen Gerichten ein Handwerk zugrunde liegt, das angesichts heutiger Techniken vielleicht noch ein wenig Verfeinerung vertragen könnte, aber dem gegenüber steht natürlich die Erkenntnis, dass man auf den Tellern nach wie vor all das findet, was Bourgueils Küche und seinen Stil seit jeher ausgezeichnet hat. An der einen oder anderen Stelle fehlte es mir diesmal indes an der letzten Präzision, weil die beabsichtigte Aussage nicht so zum Tragen kam wie es angestrebt war. Das mehr oder weniger beharrliche Festhalten an den eigenen Prinzipien mag im Lichte fortschreitender Entwicklungen für Spötter vielleicht so wirken, dass hier der Zeitgeist verleugnet wird – doch damit kann der Chef sicher gut leben, zumal ein Besuch hier durchaus etwas angenehm Museales haben kann. Es wirkt bezeichnend, dass der Altmeister ein im Internet veröffentlichtes Bild von Jan Hartwigs Interpretation einer klassischen Paté en croûte fast wehleidig mit den Worten kommentierte: „Wer kann das heutzutage noch?!“.

Weitere Besuche meinerseits strebe ich absolut an, denn auch wenn manches im Schiffchen vergleichsweise gesetzt wirkt, so kann man hier Grundtugenden in ihrer reinsten Form erleben: die klare Reduktion auf das Wesentliche, das meist fehlerlose Handwerk und die reine Fokussierung auf den Geschmack, dem sich bei Bourgueil alles bedingungslos unterzuordnen hat. Dabei nahm der Chef durchaus lange Zeit eine Vorreiterrolle ein, wenn es etwa darum ging, internationale Produkte einzubeziehen, neuartige Techniken zu verwenden oder über die Tragfähigkeit regionaler Konzepte nachzudenken, als viele noch gar nicht wussten, was überhaupt dahinter steckte. Eine Zusammenstellung seiner größten Klassiker ist meinerseits durchaus angedacht, wenn sich der Grand Chef auf eine persönliche Vorbestellung einlassen sollte.

In einem späteren Gespräch mit mir betonte André Münch, ehemaliger Schüler Bourgueils und heutiger Chefkoch des Lokals Der Butt in Warnemünde, dass genau das unerbittliche Streben nach dem bestmöglichen Geschmack die Eigenschaft sei, welche er an seinem Lehrmeister am meisten bewunderte und in dieser Form bei keinem anderen seiner Ausbilder so intensiv spürte, wobei Strenge und Disziplin unerlässliche Begleiterscheinungen waren, um diese hehren Ziele zu erreichen. Bourgueil sei jedoch mit seiner Kritik immer sachlich geblieben und nie beleidigend geworden. Die Erlangung der drei Sterne sowie die Auszeichnung zum Ritter der französischen Ehrenlegion für seine Verdienste um die Küche Frankreichs im Ausland durch keinen Geringeren als Paul Bocuse im Jahre 2004 verdeutlichen nachdrücklich, dass der Grand Chef nicht viel falsch gemacht haben kann.

Natürlich wirkt zwanzig Jahre später etliches old school, aber den Gast erwartet eine Zeitreise in Verbindung mit einer echten Lehrstunde, was Hochküche ganz allgemein ausmacht. Allein dies rechtfertigt schon einen Besuch, doch den nach wie vor kantigen und absolut vitalen Chef in Aktion zu sehen, ist erst recht ein Erlebnis für sich! Insofern bleibt mir nur, trotz aller ungewohnt wechselhaften Eindrücke an diesem Abend meine fast grenzenlose Anerkennung für das Lebenswerk dieses Chefs zum Ausdruck zu bringen. Hoffen wir, dass uns seine Genüsse noch ein paar Jahre vergönnt bleiben!

Mein Gesamturteil: 16 von 20 Punkten

 

Im Schiffchen
Kaiserswerther Markt 9
40489 Düsseldorf
Tel.: 0211/401050
www.im-schiffchen.de

Guide Michelin 2024: *
Gault&Millau 2023: 3 Toques
GUSTO 2024: –
FEINSCHMECKER 2024: 3 F

5-gängiges Menü: € 178

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Juli 2018

Im mutmaßlich schönsten Haus von Düsseldorf-Kaiserswerth, einem bis 1929 selbständigen Städtchen nördlich der Rheinmetropole, kocht mit Jean-Claude Bourgueil einer der wenigen großen französischen Chefs, die jemals erfolgreich In Deutschland Fuß fassen konnten. Seit seinem gewagten Schritt in das historische Gebäude aus dem Jahre 1733 sind sage und schreibe 41 Jahre vergangen – da kann es ihm wohl niemand verdenken, dass er im Alter von 71 Jahren nun künftig kürzer treten und sein Restaurant „Im Schiffchen“ dichtmachen will. Ganz verlorengehen wird er der Szene zwar nicht, weil er seinem Zweitlokal im Erdgeschoss, das eher mediterran geprägte Enzo, weiter mit Rat und Tat zur Seite stehen will. Nichtsdestotrotz war es mir nach dieser medialen Ankündigung fast schon eine Pflicht zu versuchen, für das „Schiffchen“ nochmals einen Tisch zu bekommen, nachdem mein erster Besuch im November 2016 dort bereits einen starken Eindruck bei mir hinterlassen hatte.

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Der Abgang eines solchen Chefs verdient natürlich eine gesonderte und detaillierte Würdigung, die in der Rubrik „Essays“ zu finden ist.

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Groß war bereits die Vorfreude, als es mit einem Tisch am vorletzten Abend in der Geschichte des Hauses noch klappen sollte. Angesichts des strahlend schönen Wetters war nochmals alles für einen besonderen Abend bereitet – dass er indes so außergewöhnlich geraten sollte, hat die Reise nach Düsseldorf mehr als gerechtfertigt. Das mit zwei Michelin-Sternen fair und mit vergleichsweise kümmerlichen 16 Punkten im G&M (soviel sei bereits vorweggenommen: eine Beleidigung ersten Ranges) bewertete Haus gilt unter Freunden klassischer Küche noch immer stets als absolut verlässliche Adresse und ist dementsprechend frequentiert. Auch an diesem besonderen Abend war selbstredend kein Tisch frei geblieben.

Nach dem Einlass geht es vorbei am Zweitrestaurant Enzo (das sich mit einem Stern schmückt) die steile Holztreppe ins Gourmetmekka hinauf. Das altmodisch anmutende Interieur mit seinen holzvertäfelten Wänden und dem dicken Teppich geht einen wohltuenden Kontrast ein zu den spartanisch eingerichteten und teils tristen Gourmettempeln heutiger Tage. Auch der Service agiert ungleich charmanter und förmlicher als anderswo, ohne dabei allerdings jemals steif oder pedantisch zu wirken. Hier tragen die jungen Servicekräfte noch schwarzen Anzug, weißes Hemd und Krawatte – und doch erwartet man in einem solche Ambiente auch geradezu eine derartige Garderobe. Die Rahmenbedingungen stimmen, und nun kann es losgehen …

Zu einem Prisecco Nr. 20 von Jörg Geiger serviert man uns hochfeine Einstiege, von denen alle drei ausgezeichnet gelingen: ein Taco, gefüllt mit einer von etwas Bitterschokolade überzogenen Gänseleberterrine, beeindruckt durch seine genauen Proportionen, während Schnittlauchcrème und etwas Kaviar auf einem Kissen aus Blätterteig durch intensive Aromen überzeugt. Der beste dieser ohnehin großartigen Beiträge ist jedoch ein Törtchen mit Crème fraiche, Wagyu-Tatar und Kaviar. Diese Referenz an den großen Helmut Thieltges ist natürlich offenkundig, doch als Boden wird immerhin ein Brioche anstelle des Röstibodens wie bei Thieltges verwendet. Eine schöne Hommage an einen viel zu früh verstorbenen Bruder im Geiste!

Auch die Amuses können uns überzeugen: Sashimi vom Adlerfisch mit Yuzu und Gazpacho andaluz ist ein filigranes und komplexes Spiel um genauestens ausgelotete Aromen, während Maki von der Gillardeau-Auster (mit Yuzu mariniert) einen feinen, säuerlichen Kontrast dazu darstellt. Wenn das so weiter geht, wird das ein großartiger Abend werden …

Nach dem Auftragen der eher belanglosen Brotauswahl startet Bourgueil mit feiner Wagyu-Schnitte à la Rossini durch. Ob man diese hochfeine Petitesse mit Trockeneis-Inszenierung hätte zur Schau stellen müssen sei dahingestellt, aber geschmacklich hat das jedenfalls große Klasse. Hier werden einige Trüffelscheiben von roher Gänseleber ummantelt, während eine weitere hauchdünne Schicht von Wagyu die Kreation würdig umrahmt. So großen Geschmack auf so kleinem Raum zu präsentieren ist wahrhaftig große Kunst.

Gegrillter Kaisergranat, mit Yuzu mariniert, Trüffelremoulade und Knoblauchchips ist mit Recht einer der Klassiker des Hauses. Die wunderbaren fest-fleischigen Spießchen sind herzhaft und gehen mit der intensiven Remoulade eine Liaison für die Ewigkeit ein. Dieses Essvergnügen hat seinen Preis, da ich dieses Gericht gegen das eigentlich vorgesehene und weniger kostspielige Ceviche ausgetauscht habe, doch bereut habe ich diesen Schritt keine Sekunde. Die getrüffelte Remoulade hatte unglaublich viel Körper und passte prächtig zum saftigen Hauptdarsteller. Fazit: ein unvergessliches Gericht für die Ewigkeit!

Es folgt der Klassiker unter Klassikern des Hauses, quasi das Signature Dish: kleiner bretonischer Hummer in Kamillenblüten gedämpft. Viel mehr als etwas blanchierten Lauch und einen Fond aus Kamillenblüten braucht der exzellente Hauptdarsteller dieses Gerichts nicht. Das Fleisch wird teils in dünnen Scheiben, teils noch in der Schere belassen präsentiert. Das alles schmeckt einfach vortrefflich und macht schnell deutlich, warum dieses Gericht so große Popularität in den vergangenen Jahrzehnten genoss.

Zu gebratenem Rücken von Maibock mit Balsamicosauce, Rotkohlschmelz und Charlotteschaum serviert man außerdem noch etwas krossen Tempurateig. Der Hauptgang gerät vielleicht nicht so aufwendig wie manche andere Eingebung, doch geschmacklich ist alles vortrefflich. Das herzhafte Fleisch wird eher konservativ, aber kongenial und würdig begleitet. Wunderbar!

Caipirinha de Bahia ist in diesem Umfeld ein modern anmutendes Pré-Dessert, das aus einem intensiven Limettengranité und einem -schaum besteht, der nur minimal mit Cachaca veredelt ist.

Ein echter Hingucker ist auch der Oliven- und Schokoladenbaum, der aus Tropfen von Olivenöl und Schokolade gestaltet ist. An den „Wurzeln“ finden sich des weiteren ein paar Tropfen Aprikosengelee sowie ein herzhaftes Schokoladencrumble, auf dem noch ein vorzügliches Vanilleeis thront. Zu guter Letzt kommen noch einige Petits Fours, die durch flüssige Guarani-Schokolade gezogen werden können. Besonderen Eindruck hinterlässt dabei die vollmundige Teigtasche, die mit Schokoladen- und Röstaromen von Haselnuss nochmals richtig intensiv gerät.

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Ich hätte nie für möglich gehalten, dass mir der Altmeister ein Menü würde auftischen können, das in meine Top-Ten-Liste der besten Restaurantbesuche aller Zeiten Eingang finden würde – und doch war es so! Alle Gerichte dieses Abends hatten großen Stil und wiesen traumwandlerisch sicheres Handwerk auf. Den Kreationen haftete trotz teils süffiger Aromen eine makellose Eleganz an, die so unverwechselbar französisch war wie nur irgend denkbar. Monsieur Bourgueil hat überhaupt nichts verlernt und schien nun, da die Tage seines Lokals gezählt sind, nochmals alles aus sich herauszuholen. Das Menü vesprach, Höhepunkte aus 40 Jahren „in den Sternen“ zu beinhalten – eine vollmundige Ankündigung, die so phänomenal umgesetzt wurde, dass es mir die Sprache verschlug. Bourgueil bewies mehr als eindrucksvoll, warum er einst zu den größten Chefs der Welt gezählt wurde. Da sieht man auch gerne über die recht hohen Nebenkosten hinweg …

Den Kaisergranat werde ich mein Leben lang nicht vergessen – und doch soll dies nicht so klingen als ob der Rest des Menüs in irgendeiner Form deutlich schwächer gewesen wäre. Was Bourgueil hier präsentierte, war allen jungen Köchen ein eindringliches Plädoyer dafür, die Grundprinzipien der Hochküche niemals zu vernachlässigen – der viel zu früh verstorbene Helmut Thieltges (Waldhotel Sonnora, Wittlich) hätte sein Credo („jeder Koch, der mit Gewalt etwas anders machen will, darf sich gerne als modern bezeichnen“) hier perfekt umgesetzt vorgefunden. Bourgueil blieb den ganzen Abend lang seinem Stil und den klassischen Tugenden treu. Es gibt nicht so viele Köche heutzutage, die ganz genau wissen, was sie können und was nicht, aber Bourgueil gehört mit Sicherheit zu den realistischsten Vertretern seiner Zunft.

Wie der G&M dazu kommt, hier seit Jahren lediglich 16 Punkte zu vergeben, bleibt mir ein Rätsel. Das waren meiner Ansicht nach mindestens 18 Punkte, die hier zu vergeben wären. Der legendäre Streit des Chefs mit dem G&M begann vor allem, als Bourgueil freimütig bekannte, zum Zusammenkleben seiner Speisen Stoffe zu verwenden, die als Geschmacksverstärker klassifziert waren. Diese hanebüchene Lappalie (wir reden hier wohlgemerkt von ein paar kleinen Tropfen) war dem G&M immer wieder Anlass, das Lokal abzuwerten. Die Retourkutsche erfolgte prompt, denn die Urkunden des G&M hingen in der Toilette, während so ziemlich alle anderen Auszeichnungen den Flur schmückten. Seinen Humor hat sich Bourgueil also auch bewahrt …

Dass dies streng genommen eine „historische“ Rezension über ein Lokal ist, das es zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Texts leider gar nicht mehr geben wird, ist die weitaus traurigere Erkenntnis. Allzu gerne wäre man hier noch ein paar Jahre lang eingekehrt, doch alles ist nun einmal endlich – und so sage ich abermals mit großer Bewunderung vielen Dank für diese Lebensleistung und verweise nochmals erneut auf das gesonderte Essay.