August 2018
Mitten in der zeeländischen Provinz, umgeben von Wäldern und Feldern, steht ein schmuckes Herrenhaus, welches das jüngste Drei-Sterne-Haus der Niederlande (2018) beherbergt. Dessen Name Inter Scaldes nimmt Bezug auf seine Lage, da es auf der Halbinsel zwischen Westerschelde und Oosterschelde (niederländische Schreibweise) liegt. Die Region gehört zu den am dünnsten besiedelten der Niederlande, hat aber eine vergleichsweise hohe Dichte an ausgezeichneten Restaurants. Dennoch vermutet man hier in der Einsamkeit einfach kein Haus dieser Kategorie, das auch im Gault&Millau mit der Höchstnote ausgezeichnet ist.
Doch bereits der Empfang macht schnell deutlich, dass Gastfreundschaft hier außerordentlich hoch geschätzt wird: bereits auf dem hauseigenen Parkplatz werden wir von einem jungen Mann in grauem Anzug empfangen. Dieser geleitet uns nach ein paar warmen Worten ins Gebäude, wo wir sogleich von Chefkoch Jannis Brevet in Empfang genommen werden. Da wir die ersten Gäste an diesem Tag waren, nimmt er sich die Zeit für einen ausgiebigen Plausch und erzählt freimütig, wie er am Beginn seiner Karriere schon bei Eckart Witzigmann in dessen Aubergine in München am Herd werkeln durfte – offensichtlich bin ich für ihn ein Gast, der nicht vollkommen unbedarft auftritt und selbst einiges über Kulinarik erzählen kann. Danach werden wir in den lichten Speisesaal geführt, der an einen Wintergarten grenzt und einen großzügigen Blick in den herrlichen, rückseitig gelegenen Rosengarten gestattet. Die weiß getünchten Wände sind punktuell mit moderner Kunst aus dem Privatbesitz der Betreiber verziert und werten dann das Ambiente weiter auf. Das Lokal füllt sich zusehends, aber dank der großzügig gestellten Tische und der hohen Decken ist die Atmosphäre keineswegs lärmig, sondern entspannt.
Mittags offeriert man hier neben einigen Gerichten à la carte auch ein sechsgängiges Mittagsmenü für € 169, auf das unsere Wahl fällt. Wir starten ins Menü mit drei Amuses: eine Kreation aus Ananas mit Buttermilch, aromatisiert mit Rosen, ist kein schlechter Start. Das Schälchen mit Wassermelone (Frucht und Eis), Erbsen und Kardamom schmeckt erheblich besser als die Ankündigung vermuten ließe, doch die Krönung ist eine ausgezeichnete Nordseekrabbe, die mit etwas Kohlrabi begleitet und mit Sambal gewürzt ist. Der dazu präsentierte Aperitif aus Birne, Gurke und Ingwer ist dagegen deutlich weniger inspiriert, und auch die Brotauswahl gerät absolut gewöhnlich.
Vor dem Start ins Menü gibt es noch das Signature Dish des Hauses: das Tomatencaprese, das handwerklich großartig auf einem umgekehrten Schälchen thronte und mit Tupfen von Tomatencrème, Basilikumcrème, Olivenölcrème und Mozzarella garniert war. Ein Lehrstück darüber, wie Geschmack und Optik in Einklang zu bringen sind – einfach hinreissend!
Wunderbar komprimiert ist der erste Gang: „Anna Dutch Gold“-Kaviar, Brandade, Stör und grüne Weintrauben werden allesamt in ein vergoldetes Ei gezwängt und entfalten trotz des beengten Raums eine geschmackliche Vielfalt, die ihre Wirkung nicht verfehlt. Das ist große Handwerkskunst, und dennoch: spontan fallen mir einige andere Köche ein, die diesen Einfall auch eventuell als Appetizer und nicht als eigenen Gang aufgetischt hätten.
Der nächste Gang, Gänseleber in zwei Varianten, ist ein ganz großer Wurf: wer diesen Produktklassiker angesichts der immer gleichen Begleiter über hat, der sollte unbedingt diesen Geniestreich verkosten. Variante eins ist eine mit Popcorn (!), Apfel und Passionsfrucht modern interpretierte Version, bei der sich das Wagnis allerdings voll auszahlt. Die Schwere der Gänseleber bekommt durch die subtil eingesetzten fruchtigen Noten etwas Federleichtes, während Variante zwei den denkbar größten Kontrast dazu eingeht: in einer Tasse mit leicht geschmolzener Leber verleihen ein mit Portwein aromatisierter Schaum und obenauf geriebener Parmesan der Leber eine seidige Transparenz und doch durchweg angenehme Schwere. Das ist schlichtweg unbeschreiblich und gehört fortan zu den ganz wenigen denkwürdigen Kreationen mit Gänseleber! Einfach phänomenal!
Seezunge mit Stockfischjus und maltesischem Spargel ist ein ohne Schnickschnack inszeniertes Gericht, das voll auf die Qualität der verwendeten Produkte vertraut. Saftigkeit des Fischs und Frische des Spargels (noch um diese Jahreszeit?) prägen diese Kreation. Dieser Teller ist vielleicht kein Aufreger, aber ein sauber durchdeklinierter Gang mit langanhaltendem Nachklang.
Die optische aufwendig inszenierte und unter einer Muschel versteckte Königskrabbe veredelt Brevet mit Mango, Whisky, Walnuss, Schalotten und Zitronensaft. Manche der hier gelisteten Zutaten kommen zwar nur in einer homöopathischen Dosis auf den Teller, doch deutlich herauszuschmecken sind sie allesamt. Das geschmackliche Gesamtergebnis ist ein durchaus bemerkenswerter Teller, bei dem vielleicht doch ein Tick zuviel auf einmal passiert.
Das Hauptgericht besteht aus Lammfilet mit viererlei Purées. Während das Lamm selbst sous vide gegart wurde und dadurch eher etwas an Saft verlor, fangen die vier ausgezeichnet und optisch wunderschön angerichteten Purées dieses kleine Manko wieder auf. Es handelt sich dabei um durchweg ausgezeichnete Varianten von Fenchel, Strandflieder (!), Thymian und Piquillo-Pfeffer.
Zur leichten Enttäuschung geriet dagegen das Dessert, das auf einem kunstvoll designten Teller präsentiert wird: Himbeere, chinesischer Rauchtee, Bourbon-Vanille, Pfirsich und Orange. Zum einen verleiht der Tee der Komposition eine fast schon unangenehm bittere Note, und zum anderen fehlt mir hier so etwas wie der rote Faden oder eine klare geschmackliche Aussage. Hier blieb der Gesamtgeschmack ganz klar hinter den von der aparten Optik ausgelösten Erwartungen zurück – leider ein wenig überzeugender Schluss.
Der merkwürdigste Moment sollte allerdings noch bevorstehen: wir warten auf die Petits fours, die an zwei Nachbartischen bereits aufgetragen waren. Wir warten und warten … doch es tut sich nichts! Irgendwann haken wir nach und erfahren dann zu unserer nicht geringen Überraschung, dass die Petits fours zusammen mit einem Kaffee oder Tee extra bestellt werden müssen! Dies ist für uns ein absolut beispielloser Vorgang, der uns noch nie so untergekommen ist (zumal in einem Drei-Sterne-Haus …). Wir beißen also in den sauren Apfel und bestellen all dies zu Kaffee und Tee für insgesamt € 25 nach, nehmen die Ausklänge auf der Terrasse ein und wundern uns noch immer darüber, ob dies in den Benelux-Staaten wohl so üblich oder dies eine befremdliche Eigenheit dieses Etablissements ist – Antwort ungewiss. Die Petits fours sind größtenteils durchschnittlich – mit Ausnahme eines vorzüglichen Karamells und dreier Macarons. Leider geriet das Ende dieses ansonsten gelungenen Essens somit wenig überzeugend. Schade!
Unter der Leitung von Claudia Brevet, der Ehefrau des Chefs, wird hier eine sehr förmlich gekleidete Servicetruppe korrekt, aber nah am Gast und herzlich durch den Speisesaal dirigiert. Frau Brevet selbst, die trotz knalliger Farben auf uns charakterlich etwas blass wirkt, erscheint auch regelmäßig an den Tischen und führt mit den Gästen kurze Gespräche. Im Grunde genommen verlief dieser Nachmittag die ganze Zeit sehr angenehm bis zum Dessert. Das Missverständnis mit den Petits fours war den Beteiligten zwar irgendwie peinlich, ließ sich aber so eben nicht mehr ändern.
Die Küchenleistung konnte uns punktuell sehr überzeugen, war aber in der Gesamtheit meines Erachtens (noch) an der Untergrenze für drei Sterne angesiedelt. Wie bereits der Einleitung zu dieser Rezension zu entnehmen war, erfolgte die Auszeichnung mit den höchsten Weihen ja erst vor kurzem, so dass natürlich noch etwas Zeit für die volle Entfaltung der Blüte meinerseits zugestanden wird. Das hinreissende Gänselebergericht war definitiv die Krönung des Tages, aber auch der virtuose Umgang mit den Produkten aus Neptuns Reich überzeugte uns – das Dessert hingegen hatte noch Luft nach oben. Alles in allem herrscht in diesem Haus eine Atmosphäre, in dem die Mitarbeiter jederzeit um das Wohl des Gastes besorgt sind – und das ist wohl der derzeit größte Trumpf des Hauses und der beste Grund, hier einmal vorbeizuschauen.