„In Österreich wird man nur zum großen Mann, wenn man etwas auffällig nicht tut.“ (Egon Friedell)
UPDATE (Oktober 2024)
Nur wenige Minuten nach der Veröffentlichung dieser Rezension wird es soweit sein: dann nämlich erscheint zum ersten Mal seit 16 Jahren wieder der Guide Michelin in Österreich, dessen Präsentation in der Alpenrepublik natürlich in der Gastrobranche, aber auch weit darüber hinaus mit Spannung erwartet wird. Der prestigeträchtige Austragungsort der Gala ist übrigens der Hangar-7 am Salzburger Flughafen, der gleichzeitig die Heimstatt des Restaurants Ikarus ist. Unmittelbar nach der Show wird das Areal übrigens für zirka drei Monate umgebaut und renoviert, weshalb die kulinarischen Aktivitäten des Ikarus während dieser Zeit auf eine Almhütte außerhalb der Stadt ausgelagert und keine Gastköche empfangen werden.
Höchste Zeit also für mich, rasch noch diesen Bericht einzustreuen, da ich das rezensierte Lokal inzwischen überaus gut kenne und es aus meiner Sicht längst zwei Sterne verdient hätte. Die Rede ist von der Kilian Stuba im Kleinwalsertal, die aufgrund der besonderen Lage auch in der deutschen Ausgabe der roten Gourmetbibel mit einem Stern gelistet ist. Der Zugang zum Kleinwalsertal – laut Eigenwerbung die schönste Sackgasse der Welt – ist mit dem Auto bekanntlich nur über Deutschland möglich, weshalb dem Lokal von Sascha Kemmerer ein Sonderstatus in der deutschen Ausgabe zugestanden wurde.
Jedenfalls gehört die Kilian Stuba unbestritten zu den allerbesten Adressen Vorarlbergs, zumal Chefkoch Sascha Kemmerer hier seit mehr als zehn Jahren zu Werke geht und seinen auf solide französischem Fundament basierenden Stil immer weiter verfeinern konnte. Außerdem wartet das noble, im alpinen Stil eingerichtete Lokal mit einem der attraktivsten Preis-Leistungs-Verhältnisse weit und breit auf – kein Wunder, dass mindestens ein Besuch pro Jahr meinerseits stets fest eingeplant ist. Sascha Kemmerer empfängt mich schon persönlich bei jeder Visite, und auch Gastgeberin Lisa Thiel sowie Maître Roland Gunst lassen es sich ebenfalls nicht nehmen, mich zu begrüßen. Der portugiesische Kellner, der hier ebenfalls zum Inventar gehört, ist an diesem Abend zwar im Zweitrestaurant eingeteilt, doch auch ihm werde ich später noch begegnen.
Den Auftakt bildete beim jüngsten Mahl ein Duett vom Maine Hummer: die kalte Variante bestand dabei aus einem Romanablatt mit einer Art Krabbencocktail und einer Mayonnaise aus Schmorgemüse obenauf, während eine süffige, mit XO-Cognac und Piment d’Espelette verfeinerte Hummerbisque das Fundament für ein Medaillon des schön knackigen Krustentiers bildete. Kein Wunder, dass ein derart luxuriöses und hochwertiges Apéro (!) gleich wieder Lust auf mehr machte! Meine Wahl fällt daher auf das fünfgängige Menü zu € 160, wobei ich nur den Käse weglasse. Dennoch erscheint es wie ein netter kleiner Bonus, dass hier stets zwei, drei Gerichte noch zusätzlich à la carte angeboten werden, falls einem an der Menüfolge etwas nicht zusagen sollte.
Das Brot aus Weizensauerteig kommt mit Süssrahmbutter, Morchelrahm, Hirschsalami und Rinderschinken in gewohnt opulenter und hochklassiger Begleitung an den Tisch – auch hier setzt das Lokal nach wie vor Maßstäbe.
Es folgt noch ein Amuse mit durchaus kostspieligen Produkten, bevor es richtig losgeht: relativ milder Toro vom Thunfisch aus Fuentes, bei dem der Fettgehalt schön zum Tragen kommt, wird auf einer gelierten Kalbsessenz platziert und mit Kapern von Caravaglio sowie augenzwinkerndem Popcorn begleitet. Für aromatische Vielfalt sorgen eine klassische Beurre blanc, hausgemachte Mayonnaise und eine durchaus üppige Nocke von Impérial Gold Kaviar. Trotz relativ vieler Komponenten stimmen die Proportionen absolut, so dass ein transparentes Aromengeflecht entsteht, das zudem etwas weniger intensiv wirkt als so manches Amuse aus früheren Tagen. Das lässt man sich gefallen!
Eine besondere Stärke Sascha Kemmerers besteht seit jeher darin, vergleichsweise profanen Produkten durch raffinierte Kreationen und superbes Handwerk einen kosmopolitisch wirkenden Anstrich zu verleihen. Die leicht gebeizte und als Mosaik zwischen getrockneten Blaualgen verarbeitete Lachsforelle aus Heimertingen bekommt durch etwas aufgegossenes Olivenöl einen ausgesprochen harmonischen und bekömmlichen Charakter, zumal die festfleischige Ochsenherztomate weit mehr als nur ein Texturgeber ist. Ihre aromatische Kraft potenziert die Wirkung der Vinaigrette aus gegrillten San-Marzano-Tomaten ganz erheblich und sorgt im Verbund mit Zwergbasilikum, Jalapeño und Saiblingsrogen für ein ausgesprochen durchdachtes und intensives Geschmacksbild, das trotz rustikaler Produkte sehr elegant und aristokratisch wirkt. Ein großer Wurf, gar keine Frage!
Als nächstes erwartet den Gast ein ziemlich puristisches Fischgericht, das kaum frankophiler geraten könnte: den mit der Haut auf der Plancha gegrillten Wolfsbarsch aus Cadiz bettet die Küchenbrigade auf einem mit Tomate und Paprika verfeinerten Artischockenragout, das zum Schluss „à la Barigoule“ mit Weißwein abgelöscht wurde. Eine gewisse Freiheit genehmigt sich der Chef beim separaten Rouille-Espuma dann doch noch, indem er leicht frittierte Calamaretti
zugibt und sie insgesamt recht fruchtig und wenig kantig interpretiert. Jedenfalls vereint dieser Gang Stil und Noblesse mit großer Souveränität und beeindruckender Leichtigkeit – sehr stark!
Da die Alba-Trüffel-Saison heuer offenbar früher als sonst beginnt, gibt es die allerersten „Diamanten der Küche“, wie sie vom großen Gourmet Brillat-Savarin einst bezeichnet wurden, diesmal schon Mitte Oktober. Das kommt mir sehr zupass, denn ich bekomme von der Küche angeboten, einen kostenlosen Zusatzgang rund um das Luxusprodukt vorgesetzt zu bekommen. Wer hätte dazu schon nein sagen können?!
So komme ich in den Genuss von geschmorter und wunderbar mürber Kalbsschwanzpraline auf einem wahrhaft exzellenten, mit etwas Portwein aufgewerteten Pilzrahm. Darüber schichtet die Brigade wachsweichen Bio-Dotter sowie Spinat-Petersiliencrème zu einem kleinen Türmchen auf und lässt das Ganze von geriebenem weißem Trüffel umspielen. Diese durchweg klassische und leicht fassbare Kombination setzt die Küche mit schlicht überragendem Handwerk der leisesten Art und einem hinreißenden Gespür für Proportionen um, weshalb der Genuss kaum größer und zugleich unkomplizierter ausfallen könnte. Wie man sieht, bewährt sich die einst von Eckart Witzigmann vor gut fünfzig Jahren propagierte Kombination auch heute noch blendend!
Die Fischgerichte in diesem Haus setzen seit eh und je Maßstäbe, die selbst in Paris oder London Anerkennung finden würden. So schlägt auch der wilde Steinbutt aus dem Hafenbecken im bretonischen Concarneau voll ein: das braisierte Prachtexemplar (warum findet man diese Zubereitungsart zur Zeit derart selten?) ist von einer traumhaften Konsistenz, unerhört saftig und entfaltet eine aromatische Wucht, die von gebratener Entenmastleber und einem wunderbar erdigen Sud von Steinpilzen kongenial aufgefangen wird. Woher Sascha Kemmerer die grandiose Idee hat, dem Gericht mit Texturen von Weinbergpfirsich einen fruchtigen Anstrich zu verleihen, weiß auch nur er selbst! Das durch und durch französische Handwerk führt im Verbund mit der herausragenden Produktqualität zu einem zeitgemäß interpretierten Meisterwerk, das gänzlich ohne überzogene Effekte auskommt und mit großer Eleganz punktet. Fürwahr exzellent!
Den Rücken vom Biomilchlamm, der auch als Farce für die Tortellini dient, umspielt die Küche zum Hauptgang mit einer Jus vom Lustenauer Senf mit Estragon. Des weiteren wertet eine Senf-Estragon-Kruste das vorzügliche und saftige Fleisch noch weiter auf, dem auch die gebackenen Bohnen und eine milde Spinat-Knoblauch-Crème gut zu Gesicht stehen. In einem Punkt erziele ich allerdings tatsächlich mal keine Einigung mit dem Chef: der bewusst nicht entfernte Fettrand des Fleisches ist für mich von harter, diskutabler Konsistenz und von geringem Mehrwert in geschmacklicher Hinsicht. Ich bekomme als Erklärung, dass das Fett natürlich als Geschmacksträger dient, der das Aroma intensiviert – was mir natürlich einleuchtet, aber in diesem Fall verhält es sich wohl ähnlich wie bei einem klassischen fränkischen Schäufele. Die einen entfernen die Schwarte bewusst, während dieser Akt für andere ein absolutes No-go darstellen würde. Ich könnte hier weiterhin auf den harten Fettrand verzichten, aber sei’s drum!
Selbstverständlich wird die Bewertung dieses Abends nicht von der Klärung dieser Frage abhängen, denn spätestens mit dem Auftragen des Nachtischs ist das Thema sowieso schon längst wieder erledigt.
Als herbstliches Dessert ersinnt die süße Abteilung ein Rondell von hauchdünn aufgeschnittener, vollreifer Stanzer Zwetschge von süchtig machender, herber Süße. Drapiert auf karamellisiertem Blätterteig, fügt die Küche gestockten Doppelrahm mit Tonkabohne sowie eine Macadamianuss-Praliné und ein Hibiskusblütensorbet von genialer Süße und Fruchtigkeit hinzu. Fertig ist ein umwerfendes Dessert, das gänzlich ohne Angeberei auskommt und von seinem perfekten Handwerk lebt. Die Kombination der eingesetzten Produkte könnte kaum harmonischer sein und führt zu einem Ergebnis, das schon den Rang einer Ode an den Herbst für sich beansprucht. Ein absoluter Traum!
Den optischen wie geschmacklichen Höhepunkt unter den Petits fours stellt zweifelsohne der dekonstruierte Bienenstich dar mit einer Wabe aus Hippenteig sowie Kirschsorbet, Honig und Tonkabohne – ein zart süßer, reizender Ausklang. Allerdings müssen sich die Tarte noire und die karamellisierten Mandeln genauso wenig verstecken wie die vier bunte Pralinen links. Abermals top!
Auch auf die Gefahr hin, mich von früheren Beiträgen her zu wiederholen: hier werkelt ein Chef, der um seine Stärken weiß und sein Profil innerhalb dieses Rahmens weiterhin schärft. Seine Vorliebe für Fischgerichte, die auf typisch französische Art zubereitet werden, ist ausgeprägt, sein Gespür für zeitgemäße und ausgewogene Kreationen fast schon instinktiv, und seine Fähigkeit, profanen Produkten ein Maximum an Geschmack zu entlocken, wies er abermals überzeugend nach. Mit so manchem Teller tritt diese Küche derart kosmopolitisch auf, dass man kaum glauben mag, welch hohen Anteil an regionalen Produkten sie leichtfüßig integriert. Bei alledem kann man sich als Gast stets auf ein überragendes Handwerk verlassen, das den Chef nie im Stich lässt und so präzise gerät wie man es sich nur wünschen kann.
Auch der Service trägt hier ganz erheblich zum Gelingen des Abends bei – ganz gleich, ob nun Frau Thiel, Herr Gunst oder sonstige Mitarbeiter dafür verantwortlich zeichnen. Gastfreundschaft der unkompliziertesten Art wird hier groß geschrieben und regelrecht zelebriert. Der zwanglose Rahmen im todschicken Lokal, die geerdete Art des Chefs, der sich nicht zu schade ist, regelmäßig am Tisch der Gäste zu erscheinen, sowie die überaus faire Preispolitik garantieren praktisch von vornherein einen gelungenen Abend, der – mit Verlaub – längst einen zweiten Stern verdient hätte. Drücken wir die Daumen, dass es an diesem Abend klappt …
Mein Gesamturteil: 19 von 20 Punkten
Kilian Stuba
Oberseitestraße 6
6992 Hirschegg (Österreich)
Tel.: 0043-5517-608541
www.travelcharme.com
Guide Michelin 2024: *
Gault&Millau 2024 (Deutschland): 3+ Hauben
Gault&Millau 2025 (Österreich): 18,5 Punkte
5-gängiges Menü (ohne Käse): € 160
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„Abseits vom Markte und Ruhme begibt sich alles Große.“ (Friedrich Nietzsche)
UPDATE (Juli 2023)
Einem glücklichen Umstand war es zu verdanken, dass ich hier wieder rascher als gedacht einkehren sollte. Tatsächlich hat sich dieses Lokal zu einer meiner Lieblingsadressen entwickelt, denn eine Vielzahl von Faktoren macht einen Besuch hier so lohnenswert: die kurzen Wartezeiten auf einen freien Tisch, die für meine Begriffe immer noch gnadenlos unterschätzte Küche von Sascha Kemmerer, die zauberhafte alpine Lodge mitten im Kleinwalsertal und schließlich der erstaunlich niedrige Preis, für den all diese kulinarischen Höhenflüge noch immer zu bekommen sind. Bereits bei der letzten Stippvisite ein Jahr zuvor hatte ich ja ein überragendes Mahl verkosten dürfen, weshalb mich die leichte Sorge umtrieb, dass das damals gezeigte Niveau möglicherweise einer Sternstunde geschuldet war und die aktuelle Performance nicht ganz würde Schritt halten können – was natürlich selbst in diesem Falle keinen ausreichenden Hinderungsgrund für einen Besuch darstellen sollte.
Das Allgäu ist am Tage unseres Besuches recht verregnet, doch wie von Zauberhand reißt die Wolkendecke im Kleinwalsertal ganz plötzlich auf und taucht die Umgebung in ein warmes, fast schon herbstlich anmutendes Licht. Da wird das Wandeln auf der Terrasse direkt hinter der Kilian Stuba (immerhin ist man hier auf deutlich über 1.000 Meter Meereshöhe) zu einem netten Bonus zwischen den Gängen, aber auch in dem mit viel Holz verkleideten und sehr eleganten Gastraum lässt es sich fraglos ebenfalls aushalten. Hier bietet man seit jeher eine stattliche Auswahl an Gerichten à la carte an, doch unser Fokus gilt heute klar dem Menü: der fast fix vorgegebenen Menüfolge von sechs Gängen (die auf bis zu vier Beiträge reduziert werden kann) schickt die Küche meist ein üppiges Entrée voraus, noch bevor die Karte überhaupt gereicht wird. So werden wir nach der Ankunft zunächst mit einem geschäumten Cappuccino von geräucherter Lachsforelle verwöhnt: auf leicht salzige Weise umschmeichelt ein intensiver Fischgeschmack ohne jede Penetranz unseren Gaumen. Optisch ein leiser Auftakt, aber geschmacklich kraftvoll und wahrlich exzellent – was für ein Statement gleich zu Beginn!
Nach diesem verheißungsvollen Auftakt bestellten wir beide den flüssigen Begleiter, der mir schon letztes Jahr den Atem raubte und auch diesmal wieder vorzüglich gelingt: ein Cocktail aus Rhabarber, Holunder, Zitrone und Basilikum ist ganz vorzüglich abgeschmeckt, leicht, bekömmlich und nicht zu süß – ein Traum. Der Brotauswahl widmet man hier zudem seit jeher ein erhöhtes, ja geradezu beachtliches Maß an Aufmerksamkeit: sie besteht nicht nur aus dem recht herzhaften Sauerteig-Weizenbrot, sondern wird mit einer Vielzahl reizender und handwerklich sehr sorgfältiger Petitessen mehr als würdig begleitet: neben den Brikteigröllchen mit herrlich luftigem Tomatenschaum findet man noch Butter vom Großmeister Jean-Yves Bordier aus der Bretagne, luftgetrockneten Schinken, einen Pfifferlingsdip und schließlich noch frisch geschlagenen Rahm mit Räucheraal, Meerrettich und Ceta-Kaviar, der wahlweise mit dem Löffel à part verzehrt oder als Aufstrich interpretiert werden kann – so oder so eine herrlich frische, durch Radieschen leicht bitter und knackig akzentuierte Wohltat der feinsten Sorte.
Dass das Schälchen mit dem Rahm ausdrücklich nicht als Amuse zu verstehen ist, wird durch die Tatsache verdeutlicht, dass ein weiterer Beitrag, der sogar auf der Karte annonciert ist, den Auftakt würdig abrundet: unter dem Brotchip, der die Neugier auf das darunter versteckte Bouquet verstärkt, platziert die Küche einen exzellenten, lauwarmen Brotsalat von geschmortem Pulpo in einer Emulsion von Passepierre-Algen. Die vorzügliche, leichte Säure der Meeresfrucht erfährt durch das mindestens genauso bemerkenswerte Arrangement obenauf eine abermalige Potenzierung der Wirkung, denn die intensive Fruchtigkeit der Tomberries (einer bemerkenswert kleinen Tomatensorte), die Salzigkeit der Algen und die Frische der Picolinos (kleine Snackgurke), die hier zu einer Crème verarbeitet wurden, führen zu einem bestechenden Ergebnis. Die Krönung schließlich stellt der Olivenöl-Kaviar dar, mit welchem der komplexe, aber stets transparente Geschmack perfekt abgerundet wird. Wunderbar!
Nach kurzer Überprüfung der Menükarte, die wir zuvor schon online studiert hatten, bleiben wir unserer ursprünglichen Absicht treu, fünf Gänge (€ 150) zu nehmen und auf den Käse zu verzichten – danach steht noch die Rückfahrt im Regen an. Wir sind indes absolut zuversichtlich, dabei nichts Entscheidendes zu versäumen und freuen uns auf einen schon jetzt als gelungen zu bezeichnenden Abend, der alle Voraussetzungen für eine extraordinäre Bewertung mit sich bringt und hoffentlich dort weitermacht, wo das Amuse aufhörte.
Es besteht Grund zum Optimismus, denn schon die Lektüre des ersten Gangs liest sich in der Tat vielversprechend. Tatar von pochierten Austern und Alaska-Königskrabbe ist ein unerhört luxuriöser Einstieg ins Menü, der zudem vorzüglich gelingt: ein kühles, geliertes Süppchen von der Lindakartoffel wird im Verbund mit Lauchöl zu einer Vichysoisse von unnachahmlich cremiger Konsistenz, die mit einer großzügigen Nocke an Imperial Gold Kaviar perfekt veredelt wird. Um den optisch ansprechenden Teller in seiner geschmacklichen Reinheit nicht zu überfrachten, wird das Tatar separat gereicht, mit etwas Vorarlberger Sauerrahm präsentiert und auf Lauchöl gebettet. Die ungewöhnliche, kreative Umsetzung sowie das verblüffend akkurate Handwerk machen daraus einen wahrhaft formidablen Gang von unerhörter Grandezza. Man meint, eine frische Meeresbrise würde durch die offene Terrassentür wehen – liegt Hirschegg neuerdings etwa an der Nordsee?!
Etwas konventioneller, aber sogar noch besser wird der zweite Gang in Szene gesetzt: Wolfsbarsch aus Cadiz brät Sascha Kemmerer mit der Plancha (einer Grillplatte aus Edelstahl) auf der Haut und erzielt damit ein sensationelles geschmackliches und in jeder Hinsicht mustergültiges Ergebnis, für das sich auch ein Großmeister von Fischgerichten wie Martin Fauster nicht schämen müsste: saftig, krosse Haut und unverwechselbar kraftvoll im Geschmack. Die bewährten Compagnons sind von ausgeprägt mediterraner Natur, langweilen jedoch keine Sekunde: Pimento und Pimentocrème sind vorzüglich dosiert, die Beurre blanc ist unerhört dicht, die Artischocken geben ihr säuerliches Potential in Form von Chips und Crème preis. Der am Teller darüber geriebene Bottarga entpuppt sich keineswegs als eine sinnlose Spielerei, sondern als Nuance von ausgeprägter Salinität. Die umwerfende Krönung des Gerichts ist jedoch der Orangenblüten-Basilikumsud, der den Gast mit kraftvoll grüner Intensität und zugleich feinsinniger Säure verzaubert. Ich würde diesen Sud zu den zehn denkwürdigsten überhaupt zählen wollen! Bei allen Ausflügen in diverse Winkel der Welt bleibt das Fundament von Sascha Kemmerers Küche eben doch französisch: er versichert uns am Tisch, dass sein Credo vor allem in der Kraft der Saucen besteht. Er behält damit fraglos recht, denn mit diesem Geniestreich von einem Sud beweist er endgültig, dass bei bestem Handwerk selbst aus sattsam bekannten Kombinationen noch etwas Fabelhaftes und überhaupt nicht Vorhersehbares entstehen kann. Ist das großartig!
Nach den Paukenschlägen zu Beginn ist eine Drosselung der Intensität sicherlich keine schlechte Idee: Ravioli vom Ländle Rahm füllt die Küche mit 14 Monate altem, halbflüssigem Bergkäse (fraglos eine außergewöhnliche Farce) und bettet das Ganze auf einer Röstzwiebelnage mit ganz leichter Süße. Die gepickelten Chioggia-Rüben steuern Biss und dezente Bitterkeit bei, während das unten versteckte Ragout von der Kalbsstelze unerwartet Körper zu diesem Pastagericht beisteuert. Alles in allem ist dieser etwas simpler gestrickte Gang ganz bewusst von reduzierter Kraft, doch die weitgehend cremige Konsistenz macht daraus dennoch ein Wohlfühlgericht, dessen Qualitäten sich dem Gast nicht unbedingt sofort erschließen. Eher elegant als kraftvoll, reicht es für nachhaltige Beglückung dennoch voll und ganz aus.
Der Hauptteller des Plat principal ist praktisch identisch mit dem Beitrag des Vorjahres: der als Crepinette gegarte, leicht mürbe Rehrücken thront auf einer Jus von Herzkirschen und Sarawak-Pfeffer, wird von Brokkoli auf vielfältige Art und Weise begleitet (zum Beispiel als hauchdünne Crèmeschicht zwischen dem Fleisch und den hauchzart darüber drapierten Eierschwammerln) und schließlich mit Roggencrunch abgerundet. Die Tiefe der Jus sowie deren gekonntes Changieren zwischen Herbheit und Fruchtigkeit bestimmt ihre Qualität, doch gemäß meiner Erinnerung entpuppt sich auch das zweite Schälchen als reizvoll. Offenbar war ich bereits völlig entrückt, denn aus mir unerklärlichen Gründen habe ich offenbar dazu keine Noitzen gemacht, weshalb hier mit Ausnahme der sicheren Gewissheit, dass keine neuen Komponenten hinzukamen, ausnahmsweise der Phantasie freier Lauf gelassen wird.
Sascha Kemmerer zeigt sich ganz gemäß seiner Gewohnheit regelmäßig und ist ein vergleichsweise auskunftsfreudiger Vertreter seiner Zunft, der nach dem Dessert freimütig bekennt, dass der Pâtissier des Hauses derzeit wohl im Urlaub weilen würde, doch selbst in diesem Fall weiß sich der Chef zu helfen: basierend auf einem Rezept des österreichischen Jahrhundertkochs Eckart Witzigmann zaubert er eben zum Abschluss der Menüfolge einen Nachtisch auf den Teller wie er österreichischer nicht sein könnte! Den Hauptteller dominiert ein Topfenknödel mit diversen Texturen von Marille und Sauce von Valrhona Orelys, während der Satellit deutlich progressiver erscheint – vielleicht nicht von der Optik her, aber vom Geschmack ganz bestimmt! Das Marillensorbet ist mit Gebirgsenzian verfeinert und weist überaus feine Lakritznoten (!) auf, während die Ganache mit betonter Fruchtigkeit den scharfen Kontrast wieder etwas abmildert. Ohne die kleine Spielerei wäre das meines Erachtens praktisch Nouvelle Cuisine in Reinkultur: Klarheit in der Präsentation, Betonung des Eigengeschmacks der Produkte, Verzicht auf Verfälschung und absolute Frische sind die Markenzeichen jenes Stils, der Witzigmanns Aubergine in den 1980er-Jahren so berühmt machen sollte. Das ist zeitlose Klassik gepaart mit makellosem Handwerk und daher heute praktisch genauso reizvoll wie damals.
Die Petits fours offerieren neben Churros und zweierlei Pralinen links (Erdbeere bzw. Eierlikör) auch Joghurt mit Minze sowie weitere Pralinen (Tonkabohne, Zitrone-Limette, Orangenblüte und Gewürznelke). Welch ein angemessener Abschluss eines fulminanten Menüs!
Abseits von den allseits bekannten Gourmetpfaden und für meine Begriffe weitgehend unbemerkt von der Foodie-Szene pflegt Sascha Kemmerer hier einen kosmopolitischen Stil, der sich trotz seiner genuin französischen Basis nicht scheut, auch mal auf Anleihen aus anderen Kulturräumen zurückzugreifen. Das größte Rätsel bleibt mir dabei, wie es dem Chef gelingt, selbst kleine, meist unterschlagene Facetten dieser oder jener Küche – sei es nun Mittelmeer oder Bretagne – zwingend einzubauen und souverän umzusetzen. Das setzt ein profundes Wissen um unterschiedlichste Produkte und Techniken voraus, was diesem Koch fraglos gegeben ist. Aus diesem Grunde zähle ich ihn schon lange zu den sträflich unterschätzten Spitzenköchen der Alpenrepublik, zumal die Darbietung hier ohne jeden Zweifel zwei Sterne verdient hätte. Zwei solch bemerkenswerte Meisterwerke wie das Austerntatar und den Wolfsbarsch überhaupt vorgesetzt zu bekommen, ist schon bemerkenswert genug, aber dass sie aus der Kreativküche ein und desselben Chefs stammen, nötigt mir größten Respekt ab, da ihre gänzlich divergierende Stilistik daraus ein Wagnis ersten Ranges macht, wenn es schiefgeht. Offenbar gab es aber in der Küche nie den Hauch eines Zweifels, dass dies passieren könnte, und so darf man hier stets aufs Neue von einem höchst kurzweiligen Abend ausgehen, der sich nur bedingt durch einen homogenen Stil auszeichnet, aber dafür mit herausragender Qualität beim Handwerk und den Produkten aufwartet. Und das Schönste daran: diese Qualität gibt es trotz der hochpreisigen Produkte en masse für einen unschlagbaren Preis von schlappen € 150! Bei Ausflügen ins Oberallgäu sind Abstecher ins Kleinwalsertal für mich allein wegen dieser Adresse längst so etwas wie eine Gewohnheit geworden.
Maître Roland Gunst, ein Grandseigneur alter Schule, hat das Haus zwar nicht verlassen, ist aber inzwischen stellvertretender Direktor geworden. Neben einer noch intensiveren Beratertätigkeit in Sachen Wein ist damit die Rolle des Gastgebers für das gesamte Etablissement verbunden, was natürlich eine schöne Perspektive für ihn darstellt. Mit Lisa Thiel konnte eine neue Servicechefin gewonnen werden, welche die entstandene Lücke bereits jetzt ganz gut schließt und an ihrer Aufgabe künftig noch weiter wachsen dürfte. Zusammen mit dem stets gut gelaunten portugiesischen Kellner, der praktisch zum langjährigen Inventar gehört, hat der Service alles im Griff, zumal ja Sascha Kemmerer höchstselbst meist mehrmals im Laufe des Abends an den Tisch kommt und die Gerichte erläutert. Dabei bezieht er klar Stellung zu diversen Fragen und erweist sich nicht nur als sehr präsent, sondern stets auch als nahbar. Meine Gespräche mit ihm verlaufen immer kurzweilig und gewähren mir regelmäßig neue Einblicke in die Welt der Spitzengastronomie.
Mit seiner jüngsten Darbietung hat Sascha Kemmerer den Eindruck vom vorletzten Besuch mühelos bestätigt, weshalb ich guten Gewissens wieder die zweithöchste Note zücken und eine uneingeschränkte Empfehlung aussprechen darf. Nicht versäumen!
Mein Gesamturteil: 19 von 20 Punkten
Kilian Stuba
Oberseitestraße 6
6992 Hirschegg (Österreich)
Tel.: 0043-5517-608541
www.travelcharme.com
Guide Michelin 2023: *
Gault&Millau 2023 (Deutschland): 3+ Hauben
Gault&Millau 2022 (Österreich): 18 Punkte
A la carte 2022 (Österreich): 93 Punkte
Falstaff 2023 (Österreich): 95 Punkte
5-gängiges Menü (ohne Käse): € 150
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„Überraschung und Verwunderung sind der Anfang des Begreifens.“ (José Ortega y Gasset)
UPDATE (Juli 2022)
Mein Premierenbesuch vor drei Jahren ist mir noch bestens in Erinnerung: schon beim Betreten des weitläufigen und mondänen Alpenresorts wird eine Erwartungshaltung geschürt, die zu erfüllen scheinbar nicht leichtfällt. Wie gut kann eine Küche zudem im Kleinwalsertal, diesem doch etwas abseits gelegenen, wenngleich sehr schönen Fleckchen Erde schon sein?! Internationale Gourmets dürfte man hier eher selten begrüßen, denn man kann sich leicht ausmalen, dass diese einfach besternte Adresse unter dem Radar der potentiellen Interessenten durchfliegt. Dennoch erlebte ich unter der umsichtigen Leitung des Ausnahmemaîtres Roland Gunst einen Abend, dessen Qualität mir schon fast 18 Punkte wert gewesen wäre. Schon damals pflegte Chefkoch Sascha Kemmerer einen ganz eigenen, reizenden Stil, der die Gäste nicht überfordert, aber fast allen Gerichten doch einen gewissen Twist verleiht, aufgrund dessen man die Gerichte doch nicht so leicht durchschaut wie zunächst vermutet. Die einzige echte Enttäuschung am Ende des Abends war somit der nervige Dauerregen, der sich an jenem Tag im gesamten Allgäu breitgemacht hatte.
Drei Jahre schienen mir ein ausreichend langer Zeitraum, um auf die entscheidenden Verbesserungen für die anvisierte Note zu hoffen, so dass es mal wieder an der Zeit für eine Stippvisite war. Die erste gute Nachricht bestand schon darin, dass am Tag meines Besuches strahlender Sonnenschein herrschte und sich die umgebende alpine Landschaft von ihrer besten Seite zeigte. Dabei wird einem erst bewusst, dass nicht so viele Sternerestaurants existieren, die auf über 1.000 Meter Meereshöhe angesiedelt sind. Vor diesem Hintergrund erscheint es naheliegend, das Beste der Region auf die Teller zu bringen, doch dürfen es hier auch mal weiter angereiste Produkte sein, um den hohen Ansprüchen des Chefs gerecht zu werden.
Mit spürbarer Vorfreude betrete ich das Resort und stelle schnell fest, dass hier selbst die Gesetze, die in einer schnelllebigen Branche wie der Spitzengastronomie herrschen, hier keinerlei Gültigkeit besitzen. Während anderswo besonders die Servicekräfte, die in der Hierarchie niedrig angesiedelt sind, ständig wechseln, setzt man hier auf Kontinuität. Wie anders ist es zu erklären, dass praktisch die gesamte Servicetruppe noch dieselbe wie damals ist und lediglich von der Ehefrau des Chefs unterstützt wird, weil Monsieur Gunst an diesem Abend corona-bedingt pausieren musste?! Besonders der portugiesische Kellner, der mich entfernt an Cherno Jobatey erinnert, versprüht eine zwanglose Wohlfühlatmosphäre, die einfach ansteckend ist. Nicht unerwähnt bleiben soll auch, dass Sascha Kemmerer bisweilen höchstpersönlich die Gerichte am Tisch der Gäste erklärt – wobei ich überrascht feststelle, dass dies in meinem Falle bei wirklich jedem Gang (inklusive der Apéros) an diesem Abend der Fall sein wird. Man scheint sich noch an meinen Besuch von damals zu erinnern – warum auch immer …
Dieses erhöhte Maß an Aufmerksamkeit soll mir recht sein, denn anstatt mich direkt an meinen Platz zu führen, bietet man mir stattdessen zunächst an, den Apéritif und die Apéros unter einem Sonnenschirm auf der Terrasse einzunehmen. Wer könnte ein solches Angebot ausschlagen, zumal wenn der Cocktail aus Rhabarber, Holunder, Zitrone und Basilikum so ausgezeichnet gelingt?! Sanft dringen die Töne des Barpianisten nach draußen, wo die Zeit zu entschweben scheint – wären da nicht die Apéros, die nur kurze Zeit später aufgetragen werden. Präsentiert werden sie vom Chef persönlich: zuerst eine Gazpacho von gelbem Paprika und gelben Tomaten mit sehr feiner und diffiziler Aromatik. Weiter geht es mit gebackener Ochsenschwanzpraline, schwarzem Trüffel und Mayonnaise (herzhaft, aber trotzdem mit schöner Balance), gefolgt von einem Salatblatt mit Tomate, Crème fraîche und Olivenkaviar (ein aparter Happen mit trotz sparsamer Dosierung deutlich herauszuschmeckender Olive). Den Abschluss bilden ein Mürbteigtartelette mit Spargel und Kalamansi (erfrischend und originell) sowie Pumpernickel mit Brunnenkresse und Radieschen. In Summe kommt dieser Reigen mit relativ profanen Produkten aus, überzeugt aber mit launigen Ideen, sicherer Umsetzung und saisonalem Charakter. Ein überzeugender Auftakt!
Als besonders gelungen empfinde ich die Idee, teils erneut auf dieselben Zutaten wie bei den Apéros zurückzugreifen und doch etwas komplett Neues zu zaubern: bretonische Makrele mit Teriyaki-Lack ruht in einem Schaum von Brunnenkresse und wird adäquat mit Croutons, Kaviar und Texturen von gelber Tomate umspielt. Die kühle Temperatur und die äußerst durchdachte Umsetzung machen aus diesem abermals sommerlichen Amuse ein Erlebnis der Extraklasse: jodig, würzig und sensationell abgeschmeckt. Großartig!
Danach verlasse ich schweren Herzens die Terrasse und lasse mich zu meinem Platz geleiten, der übrigens auch Extraklasse verspricht: ein bequemer und weicher Drehsessel sowie ein Paradeblick auf die umgebende Landschaft machen den Aufenthalt hier so angenehm wie nur möglich. Da es zudem bis zur Terrasse nur zehn Schritte sind, werde ich an diesem Abend mehr als nur einmal viel Zeit im Freien verbringen.
Zum Brot von einer ausgezeichneten Bäckerei aus Sonthofen (Spezialrezept!) trägt man nochmals den Aufstrich aus Pumpernickel auf, offeriert aber zusätzlich noch Butter, Schinken und Wildsalami – alles in Referenzqualität, versteht sich. Bislang widmete man jedem noch so kleinen Detail ein überdurchschnittliches Maß an Aufmerksamkeit – wenn das beim Menü so weitergeht, dann kann das ein wunderbarer Abend werden!
Man bietet hier ein bis zu sechsgängiges Menü zu € 165 an, wobei kleine Zusatzoptionen eine leichte Variabilität gestatten. Konkret auf meinen Fall übertragen bedeutet dies, dass ich das volle Programm wähle, aber den Käsegang gegen ein Gericht austausche, das separat (quasi à la carte) angeboten wird und letztlich nur vier Euro mehr kosten wird als mit der Käseoption. Dieser Gang bildet auch gleich den Auftakt ins Menü: roh marinierte Artischocken mit eingelegtem Périgord-Trüffel, Kartoffelchips, Apfelcrème und jungem Lauch klang für mich zunächst so seltsam, dass ich fast darauf verzichtet hätte. Welch ein Riesenfehler wäre das gewesen! Dieser Gang, in welchem die Komponenten in einer Art Millefeuille aufgeschichtet werden, muss zu den gelungensten vegetarischen Gerichten gehören, die ich jemals verkostet habe! Die Basis des Gerichts bildet Apfelkompott, welches von einer Jus von Wintertrüffeln umspielt wird. Darüber bilden die Kartoffelchips, dünn gehobelte Scheiben von eingelegtem Wintertrüffel und die Artischocken einen faszinierenden Zusammenklang erdiger Aromen, der trotz allem sommerlich leicht schmeckt. Die geniale Veredelung mit den Bitterstoffen von Frisée und dezenter Schärfe von jungem Lauch zaubert eine geradezu vibrierende Frische auf den Teller. Wie gut, dass ich auf die Option, diesen Gang mit Gänseleber noch weiter aufzuwerten verzichtet habe: das hat diese über die Maßen begeisternde Kreation wahrlich nicht nötig! Dieser exzellenten Idee samt souveräner Umsetzung zolle ich meinen vollen Respekt. Wo sonst kann man heute bitteschön einen derart kühnen und zugleich fantastischen vegetarischen Gang bekommen?!
Es folgt confiertes und sanft gegartes Lachsforellenfilet (aus Heimertingen) von unwahrscheinlich mürber Konsistenz. Das saftige und kühle Fischlein kommt in dem Bouquet aus japanischem Daikon, Spinatcrème und Mango-Five-Spices-Gel bestens zur Geltung, da die leichte Würze dem Gang eine unvorhergesehene Wendung verleiht, jedoch gleichzeitig alles wunderbar transparent bleibt und keineswegs überfrachtet wirkt. Gebettet wird die Kreation auf einer handwerklich exzellenten Buttermilch-Shisoöl-Vinaigrette, die mit feiner Säure einen erneut großartigen Gang würdig abrundet. Speziell die Verquickung heimischer Produkte mit Exoten ist hier souverän geglückt – Sascha Kemmerers Profil ist klar erkennbar, denn dieser Ästhetik wird er im Laufe des Abends immer wieder treu bleiben.
Mit einem klar strukturierten und aufgeräumt wirkenden Teller zieht die aromatische Intensität nun merklich an: perfekt (nicht sous vide!) gegarter Steinbutt (vom Hafenbecken Concarneau in der Bretagne) in Aromaten gebraten thront auf einem lauwarmen Tomaten-Edamame-Taler, welcher dem Gang mit seinen ausgeprägt vegetabilen Aromen eine elegante Note verleiht, die durch Estragon noch weiteres Gewicht bekommt. Die Kohlrabitasche enthält eine wirklich exzellente Farce von Königskrabbentatar, doch der ultimative Clou des Gerichts findet sich ganz unten: trotz gegenteiligen Anscheins handelt es sich um keine Bisque (die Karkassen wurden nicht eingekocht), sondern um einen mit der Corail der Krabbe aromatisierten Sud, welcher zusätzlich noch mit Krustentierbutter verfeinert wurde. Neben dem Maß an geistiger Durchdringung beeindruckt vor allem die mühelos wirkende Variabilität bei der aromatischen Intensität, den Temperaturen und den verschiedenen Konsistenzen – einmal mehr ein formidabler Gang von herausragender Qualität.
Ausgeprägt mediterran und noch kraftvoller wird es dann mit Wolfsbarsch (aus Cádiz) mit geröstetem Panko obenauf. Dem wuchtigen Hauptdarsteller stellt die Küche mit geschmorten Poweraden einen aromatisch ebenbürtigen Partner zur Seite, doch auch die weitere (wenn auch spärlich wirkende) Entourage mit dem äußerst präsent wirkenden Auberginen-Pulpo-Cannelono harmoniert prächtig mit ihrem Umfeld. Die Krönung des Tellers stellt die Rouille-Nage dar, welche ohne Kartoffeln auskommt und daher keine klassische Sauce Rouille darstellt. Gewürzt ist sie nahe an der Vollendung mit Safran, Knoblauch und Piment – aromatisch voll auf die Zwölf! Nicht nur der Mut, solche kraftvollen Statements zu wagen, überzeugt mich, sondern auch die höchst schlüssige Dramaturgie bisher – was für ein unerwartet genialer Abend! Allmählich frage ich mich schon, wie dieses Lokal an einem lauen Samstagabend mitten im Sommer nicht restlos ausgebucht sein kann?! Scheinbar ahnen die meisten nicht, was ihnen hier entgeht …
Im Hauptgang darf es österreichisches Sommerreh sein: ummantelt mit „Schuppen“ aus hauchzart gehobelten Egerlingen, entfaltet der Rücken im Verbund mit einer vorzüglichen Jus, welche mit malaysischem Sarawak-Pfeffer veredelt wurde, sein ganzes Aromenpotential erst nach und nach. Bodensee-Herzkirschen bereichern den typischen herben Geschmack von Wild mit dezenter Süße, während sich Brokkoli in Form einer optisch auffälligen Crème ebenfalls als passender und dezenter Begleiter entpuppt. Als wäre dies nicht schon gelungen genug, steuert die Küche noch einen Satelliten bei, in welchem ein Raviolo von geschmorter Schulter und weitere Texturen von Brokkoli unter dem Pilzschaum versteckt sind. Gerade der Kontrast zwischen dem süßlich-herben Hauptteller und dem ungleich deftigeren Nebenteller wirkt sehr schlüssig und krönt ein Hauptgericht, dessen Handwerk ohnehin schon beeindruckt, auf angemessene Weise. Außerdem kommt dieser Beitrag ohne eingefahrene Routine aus und fasziniert erneut mit individuellen und sicher realisierten Ideen. Richtig stark!
Im Vergleich zu den meist optisch reduziert wirkenden Tellern muss das bildschön drapierte Dessert unweigerlich auffallen: auf dem hauchdünnen Sablé von Piment d’Espelette tummeln sich Blüten sowie Texturen von Himbeere und Maracuja. Das versteckte Fundament für das Sablé bildet eine Ganache von Valrhona Manjari Grand Cru Schokolade mit einem Schuss Erdbeersauce. Seinen optischen Reiz verdankt der Teller zu großen Teilen einer bestens abgeschmeckten Passionsfruchtcrème mit Maracuja-Kernen. Entgegen dem Trend kommt dieses Dessert ohne grüne Elemente oder Fermentation aus, denn eine eigene Linie ist laut Sascha Kemmerer hier weitaus wichtiger als kurzlebige Trends – der Erfolg gibt ihm recht, denn wenn es so wunderbar schmeckt wie dieser Ausklang, dann haben sich alle Diskussionen erübrigt!
Im Mittelpunkt der Petits fours steht ein Holunder-Champagner-Sorbet mit Himbeere, während im Hintergrund geeiste Kokoskugeln sowie Pralinen (die hellen sind mit Himbeere, die dunklen mit Baileys gefüllt) einen wirklich fantastischen Abend angemessen abrunden.
Ich denke, meine Euphorie schon während dieser Rezension verdeutlichte mehr als genug, dass es für dieses Lokal unbedingt eine Lanze zu brechen gilt! Dass Sascha Kemmerer wenige Monate vor meinem Besuch die Culinary Competetion auf Mauritius gewinnen konnte, überrascht mich nach der fulminanten Darbietung, deren Zeuge ich hier im Kleinwalsertal wurde, nicht mehr im Geringsten. Neben einer für meine Begriffe handwerklich völlig fehlerfreien Darbietung waren es vor allem die klare Dramaturgie und die bis ins Detail ersonnenen Teller, die mir gehörig imponierten. Auch seine klugen Erläuterungen bezüglich Entscheidungen für oder gegen bestimmte Produkte und deren Zubereitungsart wirkten auf mich stets nachvollziehbar und authentisch.
Unerwartet bekam ich nach diesem vortrefflichen Mahl noch weitere Einblicke, da der Chef nach vollbrachter Arbeit seinem Team das Aufräumen in der Küche überlassen konnte und seinen wohlverdienten Feierabend im Barbereich genießen durfte. Ich wollte ihn eigentlich nur noch um ein gemeinsames Foto für meine Privatsammlung bitten, doch dann gesellte er sich nach der Erfüllung der Bitte nochmals eine gute halbe Stunde zu mir! Gemäß seinen eigenen Aussagen muss er den besonderen Umständen Rechnung tragen: die Verantwortung für gleich drei Restaurants im Resort, die besondere Lage und die Besucher des Lokals, welche natürlich in erster Linie aus Hotelgästen bestehen, die nicht aus kulinarischen Gründen anreisen. Angesichts dieser Vorzeichen wurde das kühne Artischocken-Gericht zu Beginn nur à la carte in die Speisekarte eingefügt, um konservative Gäste nicht zu sehr zu erschrecken. Gleichzeitig spürte man seinen Stolz bezüglich des Gerichts, denn er betont, dass selbst international nur ganz wenige Köche derzeit ein solches Gericht riskieren würden und ihm dabei in erster Linie Alain Passard, der Gemüsepapst aus dem dreifach besternten L’Arpège in Paris, in den Sinn kommt. Ich versichere ihm, dass er die Herausforderungen aus meiner Sicht ganz ausgezeichnet meistert und die Kilian Stuba weit mehr Anerkennung als bisher verdient.
Auch der Service könnte kaum herzlicher und authentischer sein: neben absolut fair bepreisten Getränken fällt die durchweg empathische und aufmerksame Art des Service höchst positiv auf. Nach jedem Gang werde ich nach meinem Urteil gefragt – dass dieses Gewicht hat, erkenne ich schon an der Art der Fragestellung, die nichts mit Routine zu tun hat, sondern von ehrlichem Interesse zeugt. Dabei war wie schon erwähnt Maître Roland Gunst diesmal krankheitsbedingt verhindert, doch seine Truppe leistete sich auch ohne ihn keinen Patzer. Bemerkenswert gut!
Wie eingangs erwähnt, reiste ich ursprünglich in der Hoffnung an, dass die Küche diesmal meine persönliche Hürde für die 18 Punkte nehmen würde. Am Ende dieses Abends musste ich hingegen bass erstaunt feststellen, dass das Ausmaß des Fortschritts gegenüber dem letzten Besuch derart überwältigend geriet, dass ich stattdessen nun sogar meine zweithöchste Note zücken kann! Der zweite Macaron der roten Gourmetbibel ist für meine Begriffe überfällig, denn selten habe ich auf klarerem Zwei-Sterne-Niveau in einem Einsterner gegessen. Dieses völlig unterschätzte Lokal bekommt bislang längst nicht die Aufmerksamkeit, die es schon lange verdient hätte. Aus Sicht des Gastes bringt dies zwar zwei unbestreitbare Vorteile mit sich (geringere Kosten als mit zwei Sternen und kurzer Vorlauf bei Reservierungen), doch für die Betreiber wäre ein größerer Zulauf an Gästen durch den zweiten Stern ein echter Segen. Es wäre so was von verdient, denn dieser Besuch war fraglos eine der gelungensten Überraschungen des Jahres und wird sicherlich nicht der letzte bleiben. Dieser Leistung von Sascha Kemmerer, die fraglos nationales Spitzenniveau aufwies, kann ich nur meine volle Anerkennung zollen. Chapeau!
Mein Gesamturteil: 19 von 20 Punkten
Kilian Stuba
Oberseitestraße 6
6992 Hirschegg (Österreich)
Tel.: 0043-5517-608541
www.travelcharme.com
Guide Michelin 2022: *
Gault&Millau 2022 (Deutschland): 3+ Hauben
Gault&Millau 2022 (Österreich): 17,5 Punkte
A la carte 2022 (Österreich): 94 Punkte
Falstaff 2022 (Österreich): 95 Punkte
6-gängiges Menü (ohne Käse, dafür mit Zusatzgang): € 169
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August 2019
Das österreichische Kleinwalsertal wird von den Einheimischen scherzhaft ganz gerne als „schönste Sackgasse der Welt“ bezeichnet, denn die Bewohner des idyllischen Alpentals können ihren Wohnort per Auto nur über den Umweg Deutschland verlassen und erreichen. Kurios, denn der hinterste Ort des Tals, Mittelberg-Baad, ist Luftlinie keine 10 Kilometer von Hochkrumbach auf der anderen Seite des Gebirgszugs entfernt, doch mit dem Auto zwei Stunden entfernt. Da lohnt es sich schon mal, über eine alpine Wanderung nachzudenken!
Bei absolut schauderhaftem Wetter (es regnete nur einmal an diesem Tag …) mache ich mich auf den Weg zur besten Küche des Kleinwalsertals: sie ist in der Kilian Stuba im Ifen-Hotel (benannt nach dem nahen, 2230 Meter hohen Gipfel Hoher Ifen) beheimatet, das fraglos die erste Adresse des Tals darstellt und in Hirschegg liegt. Das Lodge-artige Luxushotel ist eine geräumige und schicke Unterkunft mit klaren Kanten und deutlich alpinem Touch, zumal weite Teile der Fassaden aus auffallend viel Holz bestehen. Das Lokal selbst liegt ziemlich gut versteckt im hinteren Bereich des Foyers und beherbergt nur ca. 20 Gäste. Drinnen dasselbe Bild: elegante Eichen-Altholzvertäfelung, Naturstein, ein gläserner Weinschrank, große Panoramafenster mit Blick aufs Tal (für sonnige Tage …) und eine sorgsame Ausleuchtung sorgen für ein Flair, das für mich zu den beeindruckendsten der jüngeren Vergangenheit gehört.
Hier kocht mit Sascha Kemmerer ein noch recht junger, aber schon vielfach ausgezeichneter Koch, der unter anderem von seinem Vorgänger Ortwin Adam ausgebildet wurde. Selbiger errang 1978 den ersten Michelin-Stern für das damalige Ifen-Hotel (2010 neu wiedereröffnet), das seit damals praktisch zu einer festen Institution unter Gourmets zählt. Auch unter seinem Nachfolger hat das top gepflegte Haus nichts an Attraktivität verloren, denn der ganz eigene Stil von Sascha Kemmerer, den er selbst als „produktorientiert, unkompliziert und nachvollziehbar“ bezeichnet, füllt das Lokal auch weiterhin zuverlässig. Logische Konsequenz: seit nun mehreren Jahren gehört die Kilian Stuba zu den 25 besten Restaurants in Österreich. Die Kilian Stuba wird aufgrund ihrer besonderen geographischen Lage sowohl vom Guide Michelin als auch vom Gault&Millau in der jeweiligen Deutschland-Ausgabe geführt und ist mit einem Michelin-Stern und 17 Punkten dekoriert. (Für dieses Lokal ist der Michelin-Stern ein echter Sonder- und Glücksfall, denn nach der Einstellung der österreichischen Ausgabe des roten Gourmetführers im Jahre 2009 werden in Österreich Sterne eigentlich nur noch für Wien und Salzburg vergeben, da diese beiden Städte im Guide Main Cities of Europe gelistet werden.)
Die Karte offeriert nicht nur ein sechsgängiges Menü zu einem (für dieses Niveau) attraktiven Preis von € 120, sondern erfreulicherweise auch ein gutes Dutzend an Gerichten à la carte. Meine Wahl fällt trotzdem auf das Menü, das sogleich mit zwei Kleinigkeiten eingeläutet wird: zum einen der Klassiker des Hauses, die Backerl-Krokette, und zum anderen ein Salatblatt mit darauf platziertem Rindertatar (pochiert und roh mariniert), Schmorgemüse, Mayonnaise und Koriander. Beides macht viel her, ist beim zweiten Apéro vom Geschmack her enorm diffizil und wirkt dabei doch genuin alpenländisch. Das gilt für das Amuse, das aus Rindertatar, Guacamole, Erdnuss und einem Schaum aus Limonenblätter besteht, dagegen nur bedingt. Der animierende Säurekick durch die Jus verleiht dem ansonsten intensiven Gericht eine leichte Frische, die sich wunderbar mit dem Tatar verbindet. Die Brotauswahl besteht aus einer Brotsorte (70% Prozent Sauerteig und 30% weißer Teig) von einer nahen Bäckerei und wird mit gepickelten Radieschen und einer Süßrahmbutter sowie einem weiteren Aufstrich, der meiner Aufmerksamkeit entging, begleitet. Dazu noch der Fruchtsecco von Terra Musa – und schon ist der völlig verregnete, bereits herbstlich anmutende Spätsommertag vergessen.
Emstaler Huchen (leicht gebeizt), Brunnenkresse, Safranessig, Impérial-Kaviar und Ceta-Kaviar kommt in nicht weniger als drei Teilen zum Einstieg auf den Tisch: der Hauptteller präsentiert eine schön saftige, kalte Tranche des Fischs mit einer großzügigen Nocke von Impérial-Kaviar obenauf sowie Ceta-Kaviar an der Seite. Eine individuelle Note erlangt der Teller durch die Brunnenkresse-Crème darunter, die mit einem animierenden säuerlichen Gel überzogen ist. In einem separaten Schälchen befindet sich ein (notfalls auch entbehrliches) Brunnenkresse-Schaumsüppchen, während das zweite Schälchen ein stimmiges Arrangement klein gewürfelter Tomaten mit Kresse sowie nochmals etwas Ceta-Kaviar beinhaltet. Ein kreativer Reigen mit geschmacklicher Langzeitwirkung, der ausgezeichnet gelingt, selbst wenn ich im Allgemeinen kein großer Freud von „Satelliten“ zum Hauptteller bin. Abgesehen vom Impérial-Kaviar ein weitgehend aus regionalen Produkten bestehendes Gericht, …
… doch schon der nächste Gang bewies, dass die Küche genauso souverän weiter gereiste Produkte stimmig zu integrieren vermag. Und wie: Meeresfrüchte aus dem Atlantik (lauwarm mariniert) sollte zum Höhepunkt der Menüfolge werden, denn die diversen Meeresfrüchte wie unterschiedlichste Muscheln und Pulpo sind nicht nur traumwandlerisch sicher zubereitet, sondern sensationell eingebettet. Dafür sorgen Passepierre-Algen mit ihrer eigentümlich bitteren Aromatik, Tortellini mit der klassisch süd-französischen Fischsauce Rouille gefüllt sowie ein umwerfend vielschichtiger Fond aus Basilikum und Paradeisern (Tomaten). Der Hummerschaum schließlich setzt diesem umwerfend guten Gericht die aromatische Krone auf. Das Zusammenspiel um maritime Aromen funktioniert hier einfach prächtig, zumal auch die Produktqualität der Meeresfrüchte keine Wünsche offenlässt. Großartig!
Auch bei den Fleischdisziplinen macht die Küche eine gute Figur: Sot-l’y-laisse (Pfaffenbäckchen) wird hier in glasierter Form mit Liebstöckel, Steinpilzen und gebundenem Brathendlsud bereits durchaus herbstlich interpretiert. Das schmeckt alles intensiv, droht aber mittelfristig etwas eindimesional zu werden – doch auch hier hat die Küche geschickt vorgesorgt, denn mit einem Stück gebratener Entenleber von durchaus generöser Größe wird doch noch ein kontrastierendes Element beigesteuert, das dem Gericht Eleganz verleiht und einen allzu profanen Charakter unterbindet. Ein solider Zwischengang, der nicht ganz die Brillanz der beiden Vorgänger erreicht, aber dennoch zu gefallen vermag.
Rücken vom Walser Sommerreh erweist sich als ein über weite Strecken klassisch und eher zurückhaltend interpretiertes Gericht, bei dem diesmal die Produktqualität stärker im Fokus steht. Zusammen mit Bodenseekirschen, Mélange Noir und Brokkoli wurde hier das große Risiko eher vermieden, doch da gibt es ja noch das separate Schälchen, in dem eine Krokette von Eierschwammerln auf einem Ragout von geschmorter Schulter des Rehs ruht. Mit diesem intensiv-würzigen Flash sorgt Sascha Kemmerer dann doch noch für einen außergewöhnlichen Einfall rund um dieses stimmige Hauptgericht, das in seiner herzhaften Aromatik und sicherem Handwerk ebenfalls recht herbstlich gerät.
Ein höchst origineller Käsegang (auf den ich Gott sei Dank nicht verzichtet habe!) ist Allgäuer Montagnolo Affiné „im Tramezzini gebraten“. Der leicht geschmolzene Käse entfaltet in dem Brotmantel ohnehin schon eine superbe Aromatik, doch im Verbund mit Nektarinencoulis, Walnüssen, Zwetschgen und Honey Pops (!) kredenzt die Küche ein hinreißendes Aromengeflecht rund um süßlich-nussige Aromen, die den deftigen Geschmack des Käses bestens abfedern. Wunderbar und höchst originell: ein echtes Plädoyer für die Rettung von Käse-Kreationen, denn von solchen Käsegerichten gibt es inzwischen viel zu wenige.
Die optisch ansprechendste Eingebung kommt mit dem Dessert, das aus Wachauer Marille und Mandelmilch besteht. In einem Türmchen aus einer hauchdünnen Wand von Valrhona-Schokolade befindet sich eine herzhafte Crème aus der Mandelmilch, doch der Fokus liegt eher auf dem „Deckel“ des Türmchens: auf einem Mohnsablé tummeln sich Tropfen von Marillengel und Minzblätter. Das Türmchen selbst steht in einer knallgelben, eingedickten Sauce, die mit Gebirgsenzian und Pistazienöl abgeschmeckt ist und dadurch zu einer extrem herben Angelegenheit wird, von der ich bezweifle, dass sie das Dessert wirklich aufwertet. Und doch: selbst wenn der Geschmack diesmal nicht mit der außergewöhnlichen Optik Schritt halten konnte, so sei der Küche für die Avantgarde-Kreation durchaus Respekt gezollt.
Dass die Pâtisserie auch die klassischen Tugenden beherrscht, beweist sie dann mit dem Ausklang: neben vier ausgezeichneten Petitessen (ein Käsekuchen-Limetten-Tartelette, eine falsche Kirsche aus Schokoladencrème mit umgebender gelierter Kirsche, eine kandierte Himbeere und eine Nougat-Praline) gibt es in einem größeren Schälchen noch ein süffiges Erdbeereis mit etwas Crumble darunter und einem luftigen Schaum obenauf. Als der Service dann noch von meiner langen Heimreise am selben Abend erfährt, gibt es sogar nochmals vier weitere Pralinen als Wegzehrung gratis dazu! Vielen Dank dafür!
Wenn ich nochmals die drei eingangs erwähnten Kriterien heranziehe, mit denen Sascha Kemmerer selbst seine Küche beschreibt, dann finde ich „unkompliziert“ insofern das am wenigsten zutreffende, da zumindest bei der Herstellung der Gerichte oftmals ein wesentlich größerer Aufwand betrieben wird als so mancher Teller vermuten ließe. Gerade der vermeintlich harmlos anmutende Meeresfrüchte-Gang bewies nachdrücklich, dass erst die Detailarbeit bei dem Fond und dem Schaum für das ganz besondere Erlebnis sorgte. Trotzdem ist dies eines der Lokale, das man nahezu vorbehaltlos einem unbedarften Amateur auf dem Gebiet der Haute Cuisine zum Einstieg empfehlen könnte: das würde sich auch insofern mit meinen Beobachtungen decken, weil sich an so manchem Tisch offensichtlich Neulinge eingefunden hatten. Das soll aber keineswegs heißen, dass diese Küche erfahreneren Gästen nichts zu bieten hätte. Im Gegenteil: immer wieder eingestreute kleine Überraschungen werteten diesen Abend ungemein auf. Auch Liebhaber ganz klassischer Tugenden kommen auf ihre Kosten, denn wer zum Beispiel à la carte den Klassiker des Hauses, den gereiften Kalbsrücken, bestellt, bekommt diesen vom Service ganz „old school“ natürlich noch am Tisch tranchiert. Überhaupt sind die Gerichte à la carte durchaus klassisch gehalten, denn hier gibt es beispielsweise noch Thunfisch „à la niçoise“ interpretiert. Die Auszeichnungen für diese Küche sind vollauf nachvollziehbar und verdient – dass die dabei Küche den Spagat zwischen Tradition und Fortschritt so souverän meistert, darf als größte Überraschung bei diesem Restaurant gelten.
Dabei hat Chefkoch Sascha Kemmerer nie die Bodenhaftung verloren, mischt sich gerne mal unters Publikum im Laufe des Abends und erteilt bereitwillig Auskünfte über dieses oder jenes Gericht. Auch im Service wurde mit Maître Roland Gunst, einem Gentleman alter Schule, ein echter Könner seines Fachs verpflichtet. Ebenfalls schon zum Inventar des Hauses gehört der stets freundliche und umtriebige portugiesische Kellner, der dem Haus inzwischen auch schon seit nunmehr sechs Jahren die Treue hält – eine halbe Ewigkeit in dieser Branche. Beste Voraussetzungen also für einen gelungenen Abend, zumal man in vielen Etablissements der Alpenrepublik immer noch erheblich günstiger als in Deutschland essen kann – dieses Lokal macht da (auch bei den Nebenkosten) keine Ausnahme. Wer also das Kleinwalsertal besucht und dieses Lokal auslässt, der hat etwas verpasst!