Menü des Jahres 2020

Eine Küche, die sich so ziemlich abseits aller Konventionen bewegt, gibt es im „Jante“ in Hannover zu bestaunen. Hier hat Chefkoch Tony Hohlfeld zusammen mit seinem jungen und motivierten Team schon beachtliche Akzente setzen können, die ihre folgerichtige Anerkennung im zweiten Michelin-Stern fand. Mit der Dekonstruktion von Tomate, Aal und Lauch sorgte er nicht nur für einen optischen Hingucker, sondern auch für einen exzellenten Einstieg ins Menü, der es fast in diese Liste geschafft hätte.

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Bei der folgenden Parade handelt es sich insofern um ein fiktives Menü, da diese Gerichte die Höhepunkte des Jahres 2020 darstellten und in Summe mein Traummenü ergeben würden. Die unterschiedlichsten Restaurants haben dazu beigetragen, wobei darauf geachtet wurde, dass alle 15 Beiträge von unterschiedlichen Restaurants stammen.

Die Zusammenstellung beginnt mit den Amuses, gefolgt von je einem kalten und warmen Gruß aus der Küche. Nach der Brotauswahl kommt ein Entrée mit Austern, gefolgt von einem Gänseleber-Gang. Nach einem ersten vegetarischen Gang folgen ein weiterer Fischgang und zwei fast komplett vegetarische Beiträge. Den Abschluss der Vorspeisen bildet ein letzter Fischgang, bevor der Hauptgang folgt. Den Ausklang bilden ein Käsegericht, ein Dessert und schließlich die Petits fours.

Dass ich dieses Menü bereits zum Ende des ausklingenden Kalenderjahres veröffentlichen kann, ist natürlich der unseligen aktuellen Situation geschuldet. Da schon jetzt feststeht, dass bis zum Jahresende kein deutsches Restaurant mehr seine Pforten öffnen wird, kann ich diesen Beitrag (leider) guten Gewissens schon vor Weihnachten abschließen. Das möchte ich nächstes Jahr in dieser Form nicht noch einmal erleben müssen.

Wer hat es nun auf die Liste geschafft? Die Auflösung folgt …

 

Menü des Jahres 2020

 

1. Matteo Ferrantino: Amuses (bianc, Hamburg)

Dieser nicht weniger als neun Teile umfassende Reigen an Amuses hat längst schon Kultstatus in der Hansestadt erlangt. Kein Wunder, denn neben der makellosen Qualität sind es vor allem die kulinarische Spannbreite der Häppchen, die verblüffende Kreativität und die Bekömmlichkeit, die immer wieder aufs Neue beeindrucken.

 

2. Thomas Schanz: Rindertatar mit weißem Tomatenschaum (schanz, Piesport)

Eingebungen wie diese trugen sicherlich maßgeblich dazu bei, dass Thomas Schanz so was von verdient vom Gault&Millau zum „Koch des Jahres 2021“ gekürt wurde. Das hochkomplexe Spiel um verschiedenste Temperaturen, das genial abgescheckte Kerbel-Colatura-Sorbet obenauf und die ungeheuer feinsinnige Balance machten aus diesem Gang einen denkwürdigen kalten Gruß.

 

3. Jan Hartwig: Kärntner Nudel (Atelier, München)

Gerade die Einstiege klingen bei Jan Hartwig oft so harmlos: dass sie sich dabei praktisch nie als solches entpuppen, bewies er einmal mehr mit unspektakulär klingender „Kärntner Nudel“. Die mit Speck, Apfel, Perlzwiebel und brauner Butter veredelte Aromenbombe geriet erwartungsgemäß intensiv, aber gleichzeitig sehr schmelzig. Die hochkomplexen Geschmackswunder dieses ruhelosen Tüftlers locken zurecht inzwischen Gäste von ganz weit her.

 

4. Nico Burkhardt: Brotauswahl (Gourmetrestaurant Nico Burkhardt, Schorndorf)

Wie schon zu Zeiten im Stuttgarter Olivo hat sich Nico Burkhardt auch in seinem winzigen Gourmet-Refugium im Schorndorfer Pfauen sein besonderes Interesse an einer reichhaltigen und qualitativ gehobenen Brotauswahl bewahrt. Das schmeckt man auch deutlich heraus – außerdem wertet das Brot das immer besser werdende Vergnügen eines Essens dort abermals auf.

 

5. Christof Lang: Austern Marennes Oléron (La Bécasse, Aachen)

Unverhofft kommt oft: ohne Reservierung hier auf gut Glück vorbeigeschaut, dank einer sehr kurzfristigen Absage noch einen Platz bekommen und dann das dreigängige Mittagsmenü bestellt, ohne überhaupt zu wissen, wie viel es kostet. Als erster Gang wurde dieser riesige, denkwürdige Teller (oder sollte ich besser „Wok“ sagen?!) mit nicht weniger als sechs prächtigen, ultrafrischen und schlichtweg grandiosen Austern sowie Pumpernickel, Zitrone und zweierlei Confits aufgetischt. Das machte 38,50 Euro – allerdings für das gesamte Menü, nicht nur für diesen Teller. Anderswo hätte man allein für dieses Geld (oder noch mehr!) ohne Weiteres eine weitaus schlechtere Qualität bekommen können!

 

6. Sven Elverfeld: Gänseleber mit Physalis und Kaffee (Aqua, Wolfsburg)

Thomas Schanz‘ Beitrag war auch ein heißer Anwärter auf diesen Platz, doch dann stellte Großmeister Sven Elverfeld mit seiner Gänseleber-Kreation alles in den Schatten. Die perfekte Konsistenz der Innerei sowie die zarten Bitternoten des Kaffees und die fruchtigen Physalis gingen eine beispiellose Symbiose von Ewigkeitsrang ein. Unvergesslich!

 

  7. Andrée Köthe und Yves Ollech: Zwiebel mit Schwarzwurzel (Essigbrätlein, Nürnberg)

Auch nach mehr als drei Jahrzehnten gehen den beiden Gemüsepäpsten die Ideen nicht aus. Dass sie dabei ihr selbst gestecktes Niveau immer wieder abermals übertreffen können, mag dabei die vielleicht größte Überraschung darstellen. Jüngster Beweis für diese Theorie war das grandiose vegetarische Gericht rund um eine Kartoffelmousseline von ungeahnter Cremigkeit, die auf unvergleichlich subtile Art mit Wacholderzucker, Rhabarber, Schnittlauch, Kaffee und Kardamom – um nur ein paar Zutaten zu nennen – verfeinert wurde. Worte können dieser Kreation kaum angemessen huldigen.

 

8. Stephan Krogmann: Seezunge mit grünem Spargel und Nussbutter
(Gutshaus Stolpe, Stolpe)

Eine der großen Unbekannten in diesem Jahr war das vorpommersche Gutshaus Stolpe, das kaum einsamer liegen könnte. Umso überraschter waren wir über das allgemeine Niveau der Küche und insbesondere dieses Beitrags, der uns zwar 45 Minuten Wartezeit kostete, sich aber vollauf rentierte! Das puristisch inszenierte Gericht lebte voll und ganz von der überragenden Qualität seines Hauptdarstellers: saftig, zart und von umwerfender Konsistenz. Grandios!

 

9. Benjamin Gallein: Gazpacho, Makrele, Tomate, Falafel und Koriander
(Ole Deele, Burgwedel)

Die meist recht komplexen Gerichte hier laufen bisweilen Gefahr, überfrachtet zu wirken. Besser ausbalanciert als dieser phänomenale Beitrag geht es allerdings kaum: die zum Zerstechen gedachte Sphäre in der Mitte ergießt sich über einen Gang, dessen virtuoses Spiel rund um mediterrane Aromen unvergleichlich geriet. Das ungeheuer filigrane Aromengeflecht beeindruckte uns nachhaltig und klingt noch lange im Gedächtnis nach.

 

10. Andreas Döllerer: Weiße Aubergine in Buttermilch, Paprika, Hahnenkämme und Ribisel
(Döllerers Genießerrestaurant, Golling an der Salzach)

Definitiv und unangefochten mein „Gericht des Jahres 2020“! Man könnte meinen, Grand Chef Andreas Döllerer hätte von Eckart Witzigmann eine mehrstündige Vorlesung über dessen Lieblingsfrucht erhalten, ehe er sich an dieses Gericht heranwagte. Die Konsistenz der vermeintlich langweiligen Frucht war nicht von dieser Welt und harmonierte so perfekt mit den Begleitern, dass mir kein vergleichbares Gericht einfiele. Ich hätte weinen können vor Glück!

 

11. Nils Henkel: Makrele „Marrakesch“ (Burg Schwarzenstein, Geisenheim)

Ein weiteres Lokal, das der aktuellen Situation bedauerlichweise zum Opfer fiel, ist Nils Henkels Restaurant Burg Schwarzenstein. Am Beispiel seines immer wieder leichten Modifikationen unterzogenen Klassikers wird deutlich, weshalb dieser Verlust nur zu bedauern ist. Immer wieder verblüfft der elegante Geschmack des bei Nils Henkel gar nicht penetrant geratenen Fischs. Die nordafrikanisch und mediterran inspirierte Begleitung spannt einen ungeheuer weiten aromatischen Bogen auf und fordert den Gast bis zum letzten köstlichen Bissen. Hoffen wir, das Nils Henkel an neuer Wirkungsstätte („Das Bootshaus“ im Bingener Hotel „Papa Rhein“) bald wieder voll durchstarten kann.

 

12. Clemens Rambichler: Kagoshima-Rind, Gänseleber, schwarzer Trüffel und Blumenkohl
(Waldhotel Sonnora, Dreis)

Groß war die Zahl der Skeptiker, die es Clemens Rambichler nicht zutrauten, das mächtige Erbe seines viel zu früh verstorbenen Mentors Helmut Thieltges im Juli 2017 erfolgreich antreten zu können. Er strafte sie alle Lügen und übertraf letztlich die Erwartungen sogar noch.
Eines von vielen überwältigenden Beispielen ist dieses Hauptgericht, das nicht aristokratischer und luxuriöser sein könnte. Allein schon die Farbe des sündhaft teuren und traumhaft sicher zubereiteten Rindfleischs verdient eine Würdigung, doch die fast schon dekadente Umgebung mit gebratener Gänseleber und schwarzen Trüffelstiften setzt dem Gericht die Krone auf. Es sind legendäre Gerichte wie die Kleine Torte von Rinderfilet und Impérial-Kaviar oder dieses, deretwegen Gourmets weite Strecken in die Eifel auf sich nehmen.

 

13. Benjamin Peifer: Stilton und Nashi-Birne (Intense, Kallstadt)

In einem Jahr, in welchem es nur wenige auskomponierte Käsegänge zu bewundern gab, stach dieser Avantgarde-Beitrag, der auch in optischer Hinsicht alle liebgewonnenen Konventionen kurzerhand zur Seite fegte, deutlich heraus. Der geeiste (!) Käse versteckt sich unter getrocknetem Milchschaum und entfaltet im Verbund mit der Birne und Walnüssen eine ungewohnt spannungsgeladene Aromatik – fraglos ein gewagtes Gericht, doch das Kalkül geht glänzend auf.

 

14. Pierre Nippkow: Geeister Sauerampfer, griechischer Joghurt, Holunder, Gurke und Minze
(Ostseelounge, Dierhagen)

Von allen Gängen enttäuschten heuer die Desserts am häufigsten. Die mancherorts offenbar als lästige Pflicht empfundene Disziplin hatte allzu häufig nur Durchschnittskost zu bieten. Dass es auch ganz anders geht, bewies man hier an der Ostsee: ein bis zum letzten Bissen spannungsgeladenes Dessert mit unterschiedlichsten Temperaturen, animierender und straffer Säure sowie mit souveräner Einbeziehung von atypischen Viktualien wie Gurke und Sauerampfer. Dieses gleichermaßen individuelle wie ungewöhnliche Dessert verzückte die Geschmacksknospen zum Ende des Menüs nochmals und ließ sie regelrecht jubilieren!

 

15. Stefan Leitner: Petits fours (Bareiss, Baiersbronn)

Nach wie vor ist der Pâtisserie-Wagen im Baiersbronner Schlaraffenland das Maß aller Dinge in der klassischen Küche. Dieser süße Wirklichkeit gewordene Kindheitstraum ist nicht nur bestückt mit einer überbordenden Fülle an grandiosen Verführungen, sondern punktet jedes Mal aufs Neue mit überragender Qualität. Mag der Sättigungsgrad am Ende eines Menüs auch noch so hoch sein – dieser Ausklang ist einfach Teil des Rituals eines Besuchs im Bareiss. Dass man hier immer wieder Gäste beobachten kann, die darauf verzichten, bleibt mir schlichtweg schleierhaft.

 

Schade, dass es diese Menüfolge in dieser Form nirgendwo gibt!
Und dennoch: wie schon im letzten Jahr gilt auch heuer mein Dank erneut all den Köchen, die stets mit ungebremster Energie versuchen, die Gäste zu beglücken und deren kulinarischen Horizont zu erweitern!

Dass ihnen dieses Kunststück sogar immer wieder in diesen außergewöhnlich belastenden Zeiten überzeugend gelang, darf dabei aus meiner Sicht als die größte Überraschung überhaupt gelten. Demütig ziehe ich daher meinen Hut vor all den rastlosen und umtriebigen Gastronomen, die mit unbändiger Energie und neuen Konzepten dieser Krise trotzen. Hoffen wir, dass ihnen als „Belohnung“ nicht auch noch die Schließung winkt – das hätten sie wahrlich nicht verdient.

In der aktuellen Situation sind wir der Gastronomie gegenüber daher in noch stärkerem Maße zu besonderer Anerkennung verpflichtet. Ein einziges Schlusswort möge symbolisch dafür stehen. 

!!!   DANKE  !!!