Landhaus Scherrer*, Hamburg

„Es gibt keinen großen Künstler, der nicht eine maßlose Liebe zum Leben besäße.“ (Henry Bordeaux)

März 2024

Die von ungewöhnlich breiten Schichten der Öffentlichkeit registrierte Sonderausstellung zum 250. Geburtstag von Caspar David Friedrich bescherte der renommierten Hamburger Kunsthalle im Winter einen der größten Zuströme an Besuchern in ihrer langjährigen, ruhmreichen Geschichte. Schon bei der Ankündigung erschien ein Besuch dieser raren und außergewöhnlichen Exposition absolut alternativlos, denn trotz eines regen Interesses an diesem Künstler hatte ich beispielsweise die berühmten Kreidefelsen auf Rügen noch nie in echt gesehen, da dieses weltbekannte Gemälde im Gegensatz zu der Mehrzahl seiner Meisterwerke normalerweise eben nicht in Hamburg, Berlin oder Dresden, sondern in Winterthur in der Schweiz hängt. Da fügte es sich ganz ausgezeichnet, dass die Sternerestaurants in Hamburg, deren Besuch mir drei Wochen zuvor aus Zeitgründen nicht möglich gewesen war, noch Kapazitäten an diesem Märzwochenende zur Verfügung hatten. Eine der beiden Adressen, die ich auf dem Schirm hatte, war zudem noch eine der wenigen ausstehenden Premieren in Hamburg: das Landhaus Scherrer ist nicht nur im Norden, sondern in der ganzen Republik eine Institution in der Geschichte der deutschen Hochküche.

Es ist wohl kaum vermessen zu behaupten, dass das Landhaus Scherrer mit dem Aufstieg der Nouvelle Cuisine für Hamburg das verkörperte, was das Tantris für München darstellte. Ende der 1970er-Jahre stand hier mit Armin Scherrer ein vielseitig begabter und wissensdurstiger Chef am Herd, der allerdings viel zu früh nach einem Schlaganfall im Jahre 1982 verstarb. Seit diesem Zeitpunkt wird das Restaurant von seinem damaligen Mitarbeiter Heinz Otto Wehmann geleitet, der fortan Küchenchef, Geschäftsführer und Inhaber in Personalunion werden sollte. Somit steht er dieser Institution schon seit über vierzig Jahren vor und führte sie zu ihrer absoluten Blütezeit in den 1990er-Jahren sogar zwischenzeitlich zu zwei Michelin-Sternen – eine gewaltige Lebensleistung, die ihm viel Anerkennung und einen breiten Gästekreis eingebracht hat. Auch der ehemalige Chef des Landgasthofs Adler in Rosenberg, Josef Bauer, gehört zu seinen langjährigen Freunden und Weggefährten. Dem Wunsch Josef Bauers, seine Grüße Heinz Wehmann bei passender Gelegenheit auszurichten, kam ich bei dieser Stippvisite natürlich nur zu gerne nach.

Eine Art Rivalität entbrannte ab Ende der 1980er-Jahre mit dem Restaurant Le Canard, das damals von Josef Viehhauser geleitet wurde und praktisch schräg gegenüber ebenfalls an der Elbchaussee lag. Die moderne Architektur des Lokals oberhalb von Oevelgönne ging den denkbar größten Kontrast zum Landhaus ein, doch in der Rückschau erwies sich die altehrwürdige Adresse eindeutig als die langlebigere. Das Le Canard geriet nach der Jahrtausendwende in Zahlungsschwierigkeiten, wurde später nochmals vom umtriebigen Ali Güngörmüs unter dem Namen Le Canard Nouveau weitergeführt und schien nach einem Brand endgültig von der Bildfläche verschwunden. Ali Güngörmüs kocht inzwischen im Pageou in München auf, doch erst jüngst wurde in Hamburger Medien eine Meldung publiziert, die wohl einige aufhorchen ließ: ein junger Gastronom plant offenbar eine Wiedereröffnung dieses Lokals. Mal sehen, was daraus noch werden wird …

In der Gegenwart angekommen muss das Landhaus Scherrer wieder mit einem Stern Vorlieb nehmen. Natürlich war mir im Vorfeld bewusst, um welch traditionelle Adresse es sich hier handelte, aber mit dem Betreten des Lokals offenbart sich mir rasch ein ganzes Füllhorn an Impressionen, die aus der Mehrzahl heutiger Lokale längst verschwunden sind. Im Laufe des Abends werden außerdem noch einige weitere Gepflogenheiten dazukommen, die heutzutage absoluten Seltenheitswert genießen und vielleicht allein schon deshalb eine Einkehr zu einer lohnenswerten Angelegenheit machen könnten. Der Flur, der sich hinter der Eingangstür befindet, teilt das Lokal praktisch in zwei ungleich große Gasträume: zur linken ein deutlich intimerer gestalteter Bereich, der – so auch an diesem Abend – für private Anlässe ausgerichtet zu sein scheint, während der eigentliche Speisesaal sich zur rechten Seite befindet. Und was für ein Speisesaal das ist: riesig dimensioniert (die Gästezahl erinnert irgendwie auch ans Tantris), hanseatisch-gediegen mit schweren Vorhängen ausgestattet und mit einer selten gewordenen Tischkultur – etwa in Form von Präsentiertellern, Silberbesteck, Stoffservietten, Leintüchern und Blumengesteck mit Kerzenständern. Der weitaus größte Teil des Publikums gehört zu der eher betagten Fraktion, ist aber entsprechend elegant gekleidet und scheint mit einer präzise umrissenen, erzkonservativen Erwartungshaltung eingekehrt zu sein, die natürlich bestmöglich vom Lokal bedient werden soll. Es ist ja, mit Verlaub, beileibe nicht alles schlecht daran: so verdient die Speisekarte in diesem Etablissement noch fraglos ihren Namen, weil sie eine fast schon beispiellos große Auswahl an Gerichten à la carte offeriert und der weithin grassierenden Ein-Menü-Politik heutiger Zeiten den Kampf angesagt hat. Dennoch stehen neben gut und gerne 30 Gerichten auch zwei Menüs zur Auswahl, wobei das eine davon sogar vegan gehalten ist!

Einerseits möchte man hier offenbar die Habitués um keinen Preis verstören, schafft es aber andererseits dennoch irgendwie, für den jüngeren (sehr überschaubaren) Anteil im Publikum attraktiv genug zu bleiben. Den Gipfel der Experimentierfreude erklomm das Lokal im Jahre 2014, als man hier mit einem Menü rund um Innereien in jedem Gang (außer zum Dessert) ein Alleinstellungsmerkmal geschaffen hatte. Auf meine Anfrage im Vorfeld hin teilte man mir kurz und knapp mit, dass eine Wiederholung der Darbietung von damals derzeit nicht angedacht sei, was ich als einigermaßen bedauerlich empfinde, mich aber natürlich nicht von meinem Besuch abhält. Der Weg zur Toilette führt übrigens im Untergeschoss am Weinkeller vorbei, der einen nicht geringen Anteil an der damaligen Reputation als eines der führenden Häuser Deutschlands hatte. Erst beim Rückweg zu meinem Tisch werde ich übrigens gewahr, dass direkt an der Wand hinter meinem Platz ein großflächiges, ziemlich hedonistisches und geradezu freches Gemälde hängt, woran sich auch schon mancher Moralapostel gestört haben dürfte! Inhalt des Gemäldes? Streng geheim – nicht fragen, vorbeikommen! Oder mit einer Internetrecherche spoilern …

Kommen wir nach dieser umfänglichen Ouverture zum eigentlichen Punkt des Abends, nämlich den lukullischen Darbietungen. Ich entscheide mich für eine viergängige Zusammenstellung à la carte, um einen möglichst weit gespannten Bogen an Eindrücken und über zumindest einen Klassiker des Hauses zu bekommen. Zu einem alkoholfreien Aperol Spritz, der später mit überaus stolzen € 14,50 auf der Rechnung stehen wird, serviert man zunächst ein Amuse bouche, das mich nicht gerade vom Stuhl haut: ein Kartoffelstampf auf einem Pilzsud mit Morchelschaum wirkt auf mich wie gehobene, aber letztlich trotzdem eher behäbige Hausmannskost ohne große Raffinesse. Vielleicht durfte man angesichts der Zahl an zu bewirtenden Gästen und der Größe des Lokals nicht viel mehr an Aufwand zum Beginn erwarten, aber beeindrucken kann mich damit wahrlich nicht. Nahtlos in diesen Eindruck fügt sich auch die Brotauswahl ein, die derart profan gerät, dass sie mir kein eigenes Bild wert ist.

Weitere Extras sind offenbar keine zu erwarten, weshalb es ohne Umschweife mit dem ersten Gang des Abends weiter geht. Diesen habe ich für € 25 der veganen Menüfolge entnommen, um zu sehen, inwieweit das Vordringen dieser klassischen Institution auf eher ungewohntes Terrain gelingen kann: jedenfalls wirkt die Präsentation dieses Gerichts rund um Carpaccio von Kohlrabi schon mal um einiges moderner als man es erwarten durfte. Der Teller hat fraglos seinen Reiz, da Senf, Skyr (seit wann ist das ein veganes Produkt?!) und veganer Kaviar als Begleiter einiges hermachen. Letzteres Produkt wird aus Algen, die auch in der Nordsee vorkommen, gewonnen und tritt in ähnlich großer Vielfalt wie die „echte“ Variante auf. Einerseits freut man sich über die vibrierende Frische, das norddeutsch anmutende Kolorit sowie das Experiment an sich, ein solches Gericht an altehrwürdiger Stelle zu kreieren; andererseits täuscht dies dennoch nicht darüber hinweg, dass das farbenfrohe Gericht eher simpel gestrickt ist und aufgrund seiner massigen Portionierung mit der Zeit deutlich an Reiz verliert.

Den denkbar größten Kontrast dazu geht einer der unumstößlichen Klassiker des Hauses ein, nämlich die Oevelgönner Fischsuppe (€ 26). Dieser Teller wird nicht nur von geröstetem Brot mit klassischer Sauce Rouille begleitet, sondern beinhaltet auch so ziemlich alles, was das Herz höher schlagen lässt. Man spürt unwillkürlich, dass die Küche hier ganz bei sich ist und ihre Stärken in dieser Disziplin voll ausspielen kann: Temperierung, Portionierung und Konsistenzen gehen hier eine wundervolle Harmonie miteinander ein. Die mit zahlreichen Nordseefischen und Muscheln (zum Beispiel Lachs, Jakobsmuschel und Stabmuschel) angereicherte Suppe erfährt eine prägnante Würze durch Safran und kann in puncto Opulenz jeder Bouillabisse Konkurrenz machen – zurecht eine hinreißende Variante des mediterranen Klassikers im norddeutschen Gewand, die in diesem Haus Kultstatus genießt, den aufgerufenen Preis vollauf rechtfertigt und fraglos zum besten Teller während dieses Besuches wird. Man ahnt, wie sehr solche Beiträge Anno dazumal zur herausragenden Position dieses Restaurants beigetragen haben mögen.

Zum Hauptgang habe ich einen weiteren norddeutschen Klassiker gewählt, den ich allerdings gemeinhin nicht mit Hochküche in Verbindung bringen würde: schon allein deshalb war ich auf Königsberger Klopse (€ 17) als kleine Portion besonders gespannt. Mag schon sein, dass Kartoffelpurée und rote Bete ein überdurchschnittliches Niveau erkennen lassen und die edle Kapernsauce geradezu vorzüglich abgeschmeckt ist, aber dennoch muss hinterfragt werden, inwieweit ein solches Gericht für Hochküche taugt. Die limitierten Ausdrucksmöglichkeiten bei Königsberger Klopsen lassen mich jedenfalls zum Schluss kommen, dass ich dieses Gericht so schnell nicht wieder in einem Sternerestaurant brauche (wenn es überhaupt auf der Karte stehen sollte).

Das Dessert zu € 19 ist hingegen wieder ein Beweis dafür, dass in manchen Bereichen die Zeit in diesem Haus stehengeblieben zu sein scheint: mit einem Michelin-Stern erwartet man heutzutage gerade bei den Ausklängen einfach mehr als ein in jeder Hinsicht braves und vorsehbares Dessert ohne großen Esprit. Die gratinierte Limettentarte (à la Crème brûlée) bekommt in Form von Mascarpone einen bewährten, aber biederen Begleiter zur Seite gestellt, während Rhabarber als Sorbet, in eingelegter Form darunter und als Gel zusammen mit Waldmeister wenigstens einen Anflug von Inspiration erkennen lässt. Dennoch bietet dieser mehr oder weniger fade Abschluss vom Niveau her nichts, was ich nicht schon unzählige Male erlebt hätte und den geforderten Preis gerechtfertigt hätte. Zumindest reiht man sich mit diesem Problem in eine Reihe mit anderen konservativen Häusern ein, die mit demselben Phänomen zu kämpfen haben – seien es beispielhaft die elsässische Auberge de l’Ill der Familie Haeberlin oder die Residenz Heinz Winkler, wo man seit geraumer Zeit damit zu rechnen hat, aus der Zeit gefallene Desserts präsentiert zu bekommen. Ach ja: wie passend, dass im Landhaus Scherrer bisweilen der Klassiker La Pêche Haeberlin serviert wird …

Damit geht ein Abend voller unsteter Eindrücke schon zu Ende, denn wie zur Manifestation des soeben Gesagten gibt es auch keine Petits fours, die den Abend würdig ausklingen lassen würden. Das bringt mich schon zu einem grundsätzlichen Menetekel dieses Hauses: betuchte Gäste mag es nicht allzusehr stören, aber „normalen“ Gästen dürfte es nicht entgehen, dass das gebotene Preis-Leistungs-Verhältnis alles in allem als problematisch angesehen werden kann. Das betrifft zwar in besonderem Maße die Getränke, aber auch äußerst spartanische Extras (wie die Brotauswahl, ein einziges Amuse), nicht gerechtfertigte Preise beim Dessert oder gar gänzlich fehlende Gepflogenheiten wie Apéros oder Petits fours verstärken diesen Eindruck zusätzlich.

Auch die Serviceleistung muss letzten Endes als überaus fahrig angesehen werden, denn trotz dieser recht kurzen Menüfolge wuselte ein halbes Dutzend Kellner um den Tisch herum, ohne aber dabei koordiniert zu wirken: doppelte Anfragen beim Apéritif bzw. Kaffee sowie vergessene Getränke sollten doch in einem solchen Etablissement zumindest nicht mehrfach pro Abend vorkommen. Höhepunkt der Tristesse war die fehlende Verabschiedung: nach dem Bezahlen der Rechnung, deren Auftragen sich ebenfalls hinzog, trollte sich der Kellner wieder seines Weges und nahm den Gast fortan nicht mehr zur Kenntnis. Als ich das Lokal verlasse, scheint es ergo niemandem aus der Equipe wirklich aufzufallen. Deutlich ausgenommen von dieser Kritik sei allerdings der Chef selbst, denn Heinz Wehmann lässt es sich nicht nehmen, mit dem ihm ureigenen norddeutschen Charme die klassische Vierländer Ente persönlich am Tisch der Gäste zu tranchieren. Es sind Rituale wie diese, deretwegen die Mehrzahl der Gäste herkommt. Da ich das Gericht nicht bestellt habe, bleibt dies an meinem Tisch zwar aus, aber eine kurze Stippvisite des Chefs erfolgt trotzdem. Wer also auf konservative Tafelfreuden steht und sich an am Platz tranchierten Enten oder flambierten Crêpes erfreuen kann, der is(s)t hier goldrichtig. Wer dagegen aufs Geld achtet oder bahnbrechende Erkenntnisse über neueste Entwicklungen der Haute Cuisine erwartet, wird ziemlich sicher enttäuscht nach Hause gehen.

Es wurde offenkundig, dass die Küche in diesem Haus die besten Ergebnisse erzielt, wenn sie sich auf all die Klassiker, die das Haus seit jeher ausgezeichnet haben, besinnt und in mustergültiger Weise zubereitet. Auf diese Weise hält sie die Habitués, die erfüllt nach Hause gehen, bei Laune und sorgt so weiter für einen treuen Gästestamm. Wer von einem Besuch in einem Sternelokal allerdings zurecht mehr erwartet, dem dürften sporadische Besuche hier vollkommen ausreichen – allzu viel versäumt man dabei nicht. Die Glanzzeiten des Landhauses sind nun einmal vorbei, denn ohne die Fischsuppe hätte ich sogar den verbliebenen Stern in Gefahr gesehen. Es ist wahr, dass ich die Vierländer Ente nicht verkostet habe, aber ein Urteil fällt man nun mal daran, was man verzehrt hat und nicht daran, was man nicht bestellt hat.

Was bleibt, ist der Ruhm und die Erinnerung an vergangene Tage – die kann dem umgänglichen Chef auch keiner nehmen.

Mein Gesamturteil: 15 von 20 Punkten

 

Landhaus Scherrer
Elbchaussee 130
22763 Hamhburg
Tel.: 0157/92352009
www.landhausscherrer.de

Guide Michelin 2023: *
Gault&Millau 2023: 2 Toques
GUSTO 2024: 7 Pfannen
FEINSCHMECKER 2024: 3 F

4-gängiges Menü à la carte: ca. € 100