„Schließlich muss nicht alles Unerwartete uns das Fürchten lehren.“ (Frank-Walter Steinmeier)
August 2022
Unser Nachbarland Luxemburg ist trotz seiner Weltoffenheit für die meisten Zeitgenossen noch immer so etwas wie ein blinder Fleck auf der Landkarte. Dabei hat das Großherzogtum neben einer (zugegebenermaßen relativ kleinen) Hauptstadt mit spektakulärer Lage jede Menge touristisches Potential zu bieten: eine Vielzahl an Burgen, schlichtweg atemberaubende Wanderungen in der Region Müllerthal und ehemalige Schwerindustrieareale, die zu modernen Unterhaltungszentren umgebaut worden sind – um nur mal ein paar zu nennen. Mit den Spitzenrestaurants verhält es sich kaum anders, denn während in anderen Nationen Lokale ihre Öffentlichkeitsarbeit mit viel Brimborium platzieren, bevorzugt man in Luxemburg offenbar eine weitgehend zurückhaltende Selbstdarstellung und generiert damit immer noch genügend Gäste. Insgesamt gibt es derzeit acht Sternerestaurants bei unserem Nachbarn, darunter ein Zweisterner.
Wir sind eben auf dem Weg zu besagtem Lokal, das Ma langue sourit. Seinen etwas merkwürdigen Namen („Meine Zunge lächelt“) verdankt es einem Ausspruch der damals vierjährigen Tochter des Chefs, als sie eines seiner Gerichte verkosten durfte und spontan mit jenem Satz kommentierte. Das Restaurant befindet sich an einer recht stark befahrenen Straße, die vom Lokal aus in etwa 20 Minuten in die Hauptstadt führt. Wenn man dagegen nach Südosten in die entgegengesetzte Richtung fährt, gelangt man letztlich in etwa derselben Zeit an den sehenswerten Grenzort Remich an der Mosel, von wo aus es nur noch ein guter Kilometer bis zum Dreisterner Victor’s Fine Dining von Christian Bau ist. Kein Wunder, dass dessen Sommelière Nina Mann mit dem Ma langue sourit vertraut ist und während unseres Besuchs bei Christian Bau eine uneingeschränkte Empfehlung für dieses Etablissement ausspricht.
Viel wissen wir über das Lokal nicht: Chefkoch Cyril Molard, Anfang fünfzig, gehört zu Luxemburgs erfahrensten Köchen und hat hier in einem schicken, modern eingerichteten Lokal, das drinnen keineswegs so bieder gerät wie die Außenfassade vielleicht vermuten ließe, sein Genussrefugium eingerichtet. Dass wir an diesem heißen Tag den Platz neben der Klimaanlage bekommen, empfinden wir als Glücksfall – selbstverständlich wird der Eindruck auf den Tellern den Abend nachhaltiger prägen. Fünf recht unterschiedlich gestaltete Apéros, die vom Chef persönlich am Tisch erläutert werden (in Französisch oder Englisch) läuten den Abend recht vielversprechend ein: im Vordergrund ein Knusperplätzchen mit Auberginenhumus (trotz der recht herben Füllung sehr fein), dahinter ein Rote-Bete-Baiser mit Rettichcrème als Füllung (geniale Konsistenz, da das Baiser regelrecht auf der Zunge schmilzt) und rechts ein Makrelenplätzchen mit Kaviar ein Eigelb-Miso (ein delikater Happen). Den Reigen komplettieren eine mit Kakao ummantelte Praline von Gänselebercrème sowie ein Schwarzbeeren-Joghurttörtchen mit feiner Sahne, bei dem Säure und Süße eine gelungene Balance eingehen. In Abwandlung des Tortenklassikers Gateau Pomme-Sarrasin gibt es noch ein fruchtiges Brötchen aus Apfel und Buchweizen, welches von Butter, Kräuterbutter und Olivenöl flankiert wird. Diese kleine Parade mit nur wenig gewöhnlich anmutenden Einfällen rundet ein Fruchtcocktail gelungen ab – wir sind angekommen!
Die Servicekräfte beherrschen zumindest jeweils zwei Sprachen, so dass Deutsch, Englisch und Französisch die gängigsten Optionen darstellen, aber an einem Nebentisch hören wir auch eine Kellnerin Russisch sprechen – seinem Ruf als polyglotte Nation ist Luxemburg jedenfalls schon jetzt mehr als gerecht geworden. Erfreut sind wir auch über die geforderten Preise, denn trotz spürbar höherer Lebenshaltungskosten im Großherzogtum offeriert man hier ein achtgängiges Menü namens Menu Signature zu € 175, das bei Bedarf auch auf sechs oder gar vier Gänge reduziert werden kann. Abgesehen von hohen Getränkepreisen bei Cocktails und dem Apéritif steht einem einigermaßen erschwinglichen Abend nichts im Wege, zumal ein genauerer Blick auf die Karte eine gewisse Gemüselastigkeit zwar nahelegt, diese aber teils von recht hochpreisigen Produkten flankiert wird. Jedenfalls muss man in der Bundesrepublik auf Zwei-Sterne-Niveau lange suchen, bis man Lokale findet, die noch solche Preise aufrufen – mir fallen jedenfalls spontan nicht viel mehr als drei, vier Lokale ein. In Anbetracht dieser Faktoren ist die Entscheidung für das komplette Programm schnell getroffen, zumal die schwer einzuordnende Stilistik der Häppchen zu Beginn uns nur noch neugieriger macht.
Im Mittelpunkt des Entrées steht sanft geräucherte Lachsforelle, doch ein dezenter Erbsensud, Bohnen und etwas Blutampfer setzen präsente grüne Akzente; für den aromatischen Feinschliff sorgen erfrischende Spritzer von Limequat sowie markige Schärfe von Galanga (Thai-Ingwer). Kleiner hätte die Portion nicht geraten dürfen, aber auch so beeindruckt die transparente, doch nie vordergründige Aromatik dieses aufgeräumten Tellers. Das wirkt sehr durchdacht und zielt auf eine gewisse Noblesse ab, die bescheiden anmutet, aber zu überzeugen vermag – ein starker Auftakt.
So stark wie praktisch nie mehr danach in diesem Menü tritt die Küche dann im nächsten Gang aufs Gaspedal: nicht zu übersehen in dem ansonsten praktisch flach gehaltenen Arrangement des nächsten Tellers ist die Zucchiniblüte, die völlig überraschend mit Pinienkernen, gezupftem Pulpo und Bouchotmuschel gefüllt ist. Die unerwartete Meeresaromatik wird durch ein mediterran anmutendes Bouquet aus verschiedenen Saucen noch verstärkt, denn Paprika (recht säuerlich), Kresse (einigermaßen bitter) und der sparsam dosierte Fleischfond (sehr körperbetont) fügen sich zu einem komplexen Geflecht an Aromen, welches Gemüse und Kräuter bewusst betont: der ungewöhnliche Hauptdarsteller darf dabei in diesem exzellenten Gewand schwelgen. Mit diesem kühn konzipierten Einfall fesselt Monsieur Molard unsere Aufmerksamkeit endgültig!
Etwas konservativer und weniger knallig wird es bei Langustine: im Gegensatz zum Vorgänger kann dieses Prachtexemplar von einem Hauptprodukt seine Qualitäten auch ohne Effekte ausspielen: mehr als einen zauberhaften Krustentiersud braucht es dafür nicht. Zusätzlich zu einer Nocke Royal Belgian Kaviar und einem minimal scharfen Geltropfen (ich tippe auf Passionsfrucht) gesellen sich ein Sabayon mit Haselnussbutter sowie Artischocke mit einer Jakobsmuschelfarce und einer Note Estragon hinzu. Die betont markige Begleitung legt den Fokus auf herbe und bittere Akzente, was letztlich zu einer wenig vorhersehbaren und durchaus spannenden Begleitung einer qualitativ hochwertigen Langustine führt – wieder ein Teller mehr, dem man nur einen gelungenen Eindruck attestieren kann.
Der als Fang des Tages annoncierte Fisch entpuppt sich als Lieu jaune (Steinköhler) von vorzüglicher Zubereitung: saftig, bekömmlich und doch von einer bemerkenswerten aromatischen Fülle. Sehr körperbetont gerät dagegen der Fenchelsud, der in dem Bouquet aus Salicorn-Algen, Schalotten, Anis und Frühlingszwiebeln eine verbindende Rolle einnimmt. Kleinteilige, gepickelte Komponenten sorgen für einen zusätzlichen Säurekick, doch trotz aller Komplexität bleibt die Entourage angemessen demütig. Dank einer unnachahmlichen Balance wird der Steinköhler so zum Primus inter Pares in einem Gang, dessen Harmonie und Demut tief beeindrucken.
Als eine Art salziges Intermezzo vor dem Hauptgang angekündigt: dreierlei Tomaten, essbare Blüten, Burrata und ein Sud von Salatgurke vereinen sich zu einem reizenden Einschub, mit dessen Stilistik sich die Küche treu bleibt. Nicht zuletzt durch einen Schuss Essig im Sud wirkt das Ganze handwerklich durchdacht und sicher umgesetzt, doch mit der Klasse der allerbesten Gerichte auf diesem Gebiet (wie etwa im Hertog Jan) kann das etwas harmlose Gericht dann doch nicht ganz mithalten. Trotz allem ein leichter, mehr als gern gesehener Einschub!
Zum Hauptgang bereitet die Küche Black Angus als eine Art Striploin zu: das „medium rare“ gebratene Rindfleisch mit dezenten Rauchnoten labt sich an einer kräftigen Rinderjus und wird ansonsten nur von roter Bete und schwarzer Johannisbeere begleitet, wobei die Produkte trotz höchst variabler Texturen immer gut erkennbar bleiben. Einen willkommenen Bonus stellt das aparte Gourmettartelette dar, aus welchem durch Cassis, Blaubeeren und Mandeln eine stimmige und kunstvolle Begleitung wird, die vielleicht zu einem Wildgericht noch besser gepasst hätte, aber auch so einen ziemlich puristisch inszenierten Hauptteller kongenial veredelt.
Dass wir bislang ein derart homogenes und hohes Niveau erleben durften hatten wir so im Vorfeld nicht unbedingt erwartet, zumal das Lokal von der öffentlichen Wahrnehmung her zumindest außerhalb Luxemburgs trotz seiner dort herausragenden Stellung ein mehr oder weniger unbeschriebenes Blatt zu sein scheint. Einheimische und die wenigen ausländischen Gäste scheinen dagegen unisono Bescheid zu wissen, denn das gut 40 Plätze fassende Lokal ist an diesem ersten Tag nach den Betriebsferien, der zudem auf einen gewöhnlichen Werktag unter der Woche fällt, bis auf den letzten Platz gefüllt. So oder so hatte unser Besuch schon vor dem Ende des Menüs unseren kulinarischen Horizont gehörig erweitert. Wo andere auf vordergründige Effekte setzen, besticht Monsieur Molards Küche durch Tiefgründigkeit und einer weitgehenden Verweigerungshaltung gegenüber allzu konventionellen Strömungen. Würde sich diese Ästhetik auch auf die Desserts übertragen lassen?
Zunächst einmal muss diese Frage hinten anstehen, denn gemäß einer Tradition wie sie in Benelux und Frankreich durchaus üblich ist steht als nächstes eine Stippvisite in der Küche an: bereitwillig gewährt der Chef Einblicke in sein Reich und seine Arbeit, erzählt unprätentiös von den Räumlichkeiten und lässt uns spüren, dass ihm das Urteil seiner Gäste wichtig ist (zumal er bei den Petits fours am Ende nochmals an den Tisch kommen wird und wir am Ende persönlich verabschiedet werden).
Nach dem erkenntnisreichen kleinen Rundgang nehmen wir wieder Platz und erwarten nun das Pré-Dessert: von der Konsistenz her ist einiges vertreten: ruhend auf einer Ganache, umspielt mit etwas Gel und darüber als Sorbet interpretiert, ist dieser Nachtisch voll und ganz auf Aprikose zugeschnitten, die auf einem Kranz aus Hippenteig ruht und mit der Zitrusfrische von etwas Agastache (ein Gewächs, das mir dato überhaupt nicht geläufig war) verfeinert ist. Das nur mäßig anspruchsvolle Dessert entpuppt sich als kleiner und kompakter Happen, der nicht zu süß gerät und ordentlich gelingt.
Bei „Sandrines Gartentartelette“ (vermutlich eine Anspielung auf den Namen der Pâtissière, aber sicher bezeugen können wir es nicht) beansprucht das Tannensorbet einen gehörigen Teil der Aufmerksamkeit, doch das einem Macaron nicht gänzlich unähnliche Tartelette aus zwei Meringuescheiben wartet mit gänzlich ungewöhnlichen Aromen auf: so schmeckten wir beispielsweise rote Johannisbeere, Zitrone und Sellerie (!) heraus. Seinen Reiz bezog dieses Dessert nicht nur aus der kreativen und zeitgemäßen Präsentation, sondern auch aus der trotz aller Ungewohntheit nicht fehlenden Bekömmlichkeit mit genau dosierter Süße. Fraglos ein würdiger Ausklang eines unkonventionellen, aber über weite Strecken wirklich ausgezeichneten Menüs, das durchaus Lust auf eine Wiederholung dieses Erlebnisses macht.
Die Petits fours bestehen aus einem Schoko-Meringue-Macaron, einem Aprikosentörtchen, einer Haselnuss-Schnitte, einem Himbeersorbet mit geeisten Stiften von weißer Schokolade (von links im Gegenuhrzeigersinn) und einer Knusperkugel mit Vanillefüllung – kaum überraschend, dass das bislang dargebotene Niveau bis zum Schluss durchgezogen wurde und ein eindrücklicher Abend würdig abgeschlossen wurde.
Da sicherlich so mancher Zeitgenosse einen Besuch bei Christian Bau auf dem Zettel stehen hat, lohnt sich der Blick über den Tellerrand – in diesem Fall die Mosel – durchaus: der Abstecher ins Großherzogtum wird mit einem Erlebnis belohnt, dessen Qualität und Individualität uns mehr als nur einmal fasziniert hat. Cyril Molards zeitgemäße Küche ist reich an Überraschungen und versteht es meisterhaft, hochpreisige Produkte souverän in Kreationen einzubauen, die tendenziell den Fokus stark auf Gemüse und Kräuter richten, aber niemals radikal wirken oder aus reinem Selbstzweck heraus konzipiert worden sind. Obwohl die ausgetretenen Pfade mehr als nur einmal an diesem Abend verlassen wurden, haftet diesem Stil nichts Gekünsteltes an: der Verzehr der Gerichte erfordert keine ausgeprägt verkopfte oder intellektuelle Attitüde, um aus ihm einen Genuss ziehen zu können. Bei alledem halten verblüffende kleine Effekte, subtile Eingebungen und zauberhafte Einfälle die Aufmerksamkeit des Gastes aber stets hoch. Hier wird des öfteren eine Vorfreude auf den nächsten Gang erzeugt, die mit der Zeit eine gehörige Erwartungshaltung schürt – und doch praktisch immer eingelöst wird.
Eine emsige und kompetente Servicetruppe, die sich geschickt über alle Sprachbarrieren hinwegsetzt, trägt dazu bei, den Abend zusätzlich angenehm zu gestalten. Wir fühlten uns bestens aufgehoben und verweilten mehr als gerne an diesem Ort des gehobenen Genusses und wünschten uns sogar, dass man hier auch übernachten könnte.
Cyril Molard war uns bis zu dieser Stippvisite keinerlei Begriff – hinterher fragten wir uns verwundert, warum eigentlich. Die Darbietung dieses Abends hatte uns vor Augen geführt, dass es dieses Versäumnis dringend nachzuholen galt. Bei aller Erfahrenheit ist dem Chef die Lust am Experiment schon deutlich anzumerken – dabei weiß er jederzeit ganz genau, was möglich ist und in welchem Rahmen er sein Kulinarium verändern kann. Forciert oder gekünstelt wirkte hier nichts, sondern bestenfalls ungewöhnlich. Stimmig blieb es praktisch immer, so dass unterm Strich ein absolut geglückter Abend stand. Wir können die Nachahmung dieses Abends dem geneigten Leser dieser Rezension jedenfalls genauso vorbehaltslos empfohlen wie dies Frau Mann uns gegenüber getan hatte. Ein echter Geheimtipp!
Mein Gesamturteil: 18 von 20 Punkten
Ma langue sourit
1 Rue de Remich
5331 Contern (Luxemburg)
Tel.: 00352-26352031
www.mls.lu/fr/
Guide Michelin 2022: **
Gault&Millau 2022 (Luxemburg): 18 Punkte
8-gängiges Menu Signature: € 175