„Je länger ich koche, umso mehr lasse ich weg.“ (Sven Wassmer)
März 2023
Das jüngste Schweizer Mitglied der inzwischen vier Lokale umfassenden Drei-Sterne-Liga ist Sven Wassmers Memories. Es war mir bis drei Wochen vor unserem Besuch noch überhaupt kein Begriff gewesen und geriet überhaupt nur wegen eines Zufallstreffers bei einer Internetrecherche zu einem anderen Restaurant in mein Blickfeld. Ein Besuch im Weltklasselokal Schloss Schauenstein bei Andreas Caminada war zu dem Zeitpunkt aufgrund der langen Vorlaufzeit bereits fest eingeplant, als ich beglückt feststellte, dass das Memories in Bad Ragaz liegt und damit praktischerweise genau auf dem Weg zum anderen Lokal. Rasch intensivierte ich meine Bemühungen um einen Tisch und wurde angenehm überrascht: zwei Tage vor dem Besuch in Schauenstein ließ sich diese Stippvisite bei Caminadas ehemaligem Schüler Sven Wassmer ganz geschickt einrichten!
Das riesige und insbesondere auf finanzkräftige Kurgäste abzielende Resort im mondänen Bad Ragaz erweist sich dabei nicht nur als die Heimstätte für diesen neuen Dreisterner, sondern auch noch für Sven Wassmers einfach besterntes Zweitrestaurant Verve sowie eine der zweifach besternten Filialen des IGNIV (das rätoromanische Wort für „Nest“) von Andreas Caminada. Der geschäftstüchtige Starkoch von Schauenstein betreibt unter seinem Namen ein ganzes Netz an Restaurants mit dem Namen IGNIV: zwei davon in der Schweiz (Zürich und Bad Ragaz) und eines in Bangkok. Jedenfalls beherbergt das Resort Bad Ragaz damit nicht weniger als sechs funkelnde Michelin-Sterne unter einem einzigen Dach und dürfte damit einen Weltrekord aufstellen. Den beiden anderen Sternerestaurants außer dem Memories statten wir aufgrund eines eng getakteten Zeitplans keinen Besuch ab, doch ein Nachholen dieses Versäumnisses zu einem späteren Zeitpunkt ist keineswegs ausgeschlossen.
Weitere kurzfristige Recherchen ergaben dann, dass Chefkoch und Mittdreißiger Sven Wassmer offenbar eine Stilistik bevorzugt, welche derjenigen von Jesper Koch aus dem dänischen Syttende (welchem ich vor einiger Zeit eine überschwängliche, ja geradezu frenetische Rezension widmete) sehr zu ähneln schien. Durch äußerste Reduktion und Purismus sollten offenbar die allerbesten alpinen Produkte der Region mit modernsten Küchentechniken veredelt und ins beste Licht gerückt werden. Genau wie im Syttende findet man aufgrund der hohen Abhängigkeit vom tagesaktuellen Marktgeschehen keine Speisekarte eingestellt, aber dafür eine ausführliche Erläuterung der hauseigenen Philosophie. Die Gestaltung der Homepage in ansprechendem und voll im Einklang mit der hauseigenen Ästhetik stehendem Gewande verstärkte meine Neugier nur noch zusätzlich. Als ein erster kleiner Wermutstropfen erwiesen sich dann die aufgerufenen Preise, aber wirklich überraschend kommt so etwas bei den Eidgenossen ja eher selten …
Endlich ist es dann soweit: schon der überaus freundliche Empfang mit Valet-Parking und an der Rezeption bestärkt uns in dem Eindruck, als Gast wirklich willkommen zu sein. Da wir noch ein paar Minuten zur Verfügung haben, inspizieren wir das Innere des Resorts und finden nicht nur die beiden anderen besternten Restaurants, sondern auch etliche kleine Boutiquen und den zur Tamina-Therme gehörenden Spabereich mit großzügigem Pool. Der geräumige und etwas verwinkelte Grundriss des Gebäudes wirkt auf uns recht diskret, da die verschiedenen Bereiche des Hauses dadurch klar voneinander getrennt bleiben und nirgendwo ein sonderlich hoher Lärmpegel herrscht. Kurz vor 20 Uhr lenken wir unsere Schritte dann Richtung Memories: nach einem erneut sehr aufmerksamen, fast herzlichen Empfang geleitet man uns durch das geräumige Lokal zu unserem Tisch, der in einer Art Nische steht. Obwohl es in dem Lokal zugunsten einer großen Fensterfront und Marmorböden weder Vorhänge noch Teppiche gibt, sorgen die kunstvoll gestalteten, zeitgemäßen Holzwände zwischen den jeweiligen Tischen für eine etwas gedämpfte Lautstärke und auch Privatsphäre. Das Prunkstück des Lokals ist allerdings die offene Schauküche, die gut und gerne ein Drittel der gesamten Fläche des Lokals einnimmt. Wer möchte, kann auch einen Platz auf einem Barhocker an dem Tresen zur Küche reservieren und dem emsigen Treiben dort den ganzen Abend lang zusehen. Zu entdecken gibt es einiges, denn ein gutes Dutzend Mitarbeiter (ein gar nicht so kleiner Anteil daran sind Frauen) richtet hier vor allem das Essen an, doch auch andere handwerkliche Abläufe wie das Grillen auf offenem Feuer finden hier teils öffentlich statt.
Bevor man uns die Karte reicht, serviert man vorab die ersten Apéros, die in ihrer Konzentration schon verdeutlichen, dass die oben geschilderte Ästhetik keineswegs zu weit hergeholt ist. Zu einem Extrakt von alpinen Kräutern, der mit Tonic Water allerbester Qualität aufgegossen wird, genießen wir der Reihe nach die regionale Spezialität Bündnerfleisch mit fermentierter Apfelcrème zwischen zwei halbkreisförmigen Scheiben von altem Brot, dann ein Gougère mit Kürbisfüllung, gefolgt von einer Pilztartelette mit fermentiertem Lauch und schließlich eine säuerlich eingelegte Kohlrabi-Rose mit Sonnenblumenkernen und Cassispulver. Zugegebenermaßen könnte die reduzierte Optik ahnungslose Gäste in die Irre führen, doch spätestens beim Verzehr merken auch diese, wie filigran, direkt und kraftvoll die Aromen herausgearbeitet sind. Hohe Trennschärfe und der Verzicht auf jedwede Schnörkel machen unerwarteterweise schon aus diesem Auftakt ein Erlebnis der Extraklasse. Das zur Zeit offenbar hoch im Kurs stehende Sauerteigbrot verdrängt die Mehrzahl der Konkurrenten auf diesem Gebiet ebenfalls mühelos, selbst wenn es lediglich mit selbst geschlagener Butter – allerdings ebenfalls von herausragendem Geschmack – gereicht wird.
Nach diesem verheißungsvollen Auftakt erklärt man uns, dass die Küche die Gäste ganz gerne überraschen möchte und daher, falls genehm, nur wissen möchte, ob sie den geneigten Gast mit sieben, neun oder elf Gängen beglücken darf, ohne dem Gast gleich im Voraus zu verraten, woraus die einzelnen Beiträge bestehen. Ein Preis von CHF 375 für das volle Programm ist beileibe kein Pappenstiel, doch angesichts der langen Anreise und meiner Hochstimmung schon zu Beginn ist meine Entscheidung praktisch alternativlos und daher schnell gefällt. Aus der Küche ist zudem immer wieder mal ein gemeinsam angestimmtes und authentisches „Jawoll!“ zu hören, was für die Motivation spricht, unter dem Teamplayer Sven Wassmer arbeiten zu dürfen. Da die Schauküche von unserem Platz aus problemlos einsehbar ist, werden wir jedenfalls den ganzen Abend staunen, wie fokussiert und zugleich motiviert dort zu Werke gegangen wird.
Den Auftakt macht ein sehr beachtlicher Einsteiger: Brotcrème platziert die Küche in einer Pilzessenz aus fermentiertem Steinpilz und toppt die Kreation mit Schweizer-Alpen-Kaviar aus dem Hause Oona. Trotz einer beträchtlichen Portion Umami schmeckt man in jedem Bissen die unfassbare Verfeinerung heraus: optimale Temperaturen, angenehme Mundfülle durch die weichen Texturen und eine recht fordernde Salinität bei gleichzeitig kraftvoll erdigen Aromen. Hier wirkt nichts verfälscht oder gekünstelt, sondern auf das Wesentliche reduziert und höchst harmonisch ohne jede Forciertheit. Was für eine Visitenkarte!
Durch meine Recherchen im Vorfeld war ich auf ein Signature Dish des Hauses gestoßen, von dem ich hoffte, dass es ein Teil der Menüfolge sein würde. Glücklicherweise lag ich richtig, denn in der Rückschau hätte ich unter keinen Umständen auf den nächsten Beitrag verzichten wollen. Der leicht glasige Bergsaibling würde in seiner buttrigen Zartheit und Saftigkeit schon eine eigene Eloge rechtfertigen, doch im Verbund mit der gebrannten Rahmsauce, die mit Tannenöl veredelt wurde, hievt die Küche das zarte Fischlein geradezu in den Olymp. Allein der Duft dieser Sauce, die in mir den Wunsch eines Schläfchens auf einer frisch gemähten Bergwiese evoziert, ist regelrecht betörend, doch die ausgeprägt herben Aromen von Heu, Nadelhölzern und alpinen Kräutern sprengen die Grenzen des erwartbaren Geschmacks nochmals. Die Konsistenz der Sauce bleibt zudem wegen ihres minimal körnigen Charakters noch lange im Gedächtnis haften, doch am faszinierendsten ist und bleibt für mich die Tatsache, dass hier gerade mal zwei Komponenten ausreichen, um überragende geschmackliche Ausdruckskraft von enormem Nachhall zu erlangen. Ein Geniestreich für die Ewigkeit!
Lange Zeit verpönt, gehört die Rote Bete heute nicht zuletzt dank der damaligen Bemühungen von Eckart Witzigmann wie selbstverständlich zum Repertoire aller großen Chefs wie Sven Wassmers Lehrmeister Andreas Caminada, der sie ausdrücklich als seinen Favoriten unter allen Gemüsesorten bezeichnet. Dass so eine Haltung fast zwangsläufig auf seine Schüler abfärben muss, überrascht niemanden, doch was die junge Generation daraus inzwischen zaubert, dringt in neue und geradezu ungeahnte Sphären vor. Waren es beim Gang zuvor noch zwei Komponenten, so gerät die nächste Eingebung gar fast vollständig monothematisch. Der optisch nicht einmal sonderlich ansprechende und etwas unförmig wirkende Hauptdarsteller wurde vier Stunden in ein Calciumbad eingelegt und verströmt einen ungeheuer facettenreichen Geschmack, der in seiner Vielfalt atemberaubend ist. Dem vermeintlich langweiligen Gemüse entlockt Sven Wassmer einem Zauberer gleich völlig ungeahnte Geschmackserlebnisse, die von herber Fruchtigkeit bis hin zu tiefer Erdigkeit reichen und den Gast fast an seinem Verstand zweifeln lassen, ob es möglich ist, einem einzigen Produkt so unterschiedliche Aromen zu entlocken. Die lediglich mit etwas Cassis verfeinerte Hühnerjus sowie das Crumble aus roter Bete und Hühnerhaut in winzigen Texturen als Beigabe erweist sich ebenfalls als starke und berechtigte Idee. Einmal mehr besteht die Kunst dieser Küche darin, die Kunst dahinter zu verbergen. Dieser Gang ist bis ins letzte winzige Detail durchdacht und setzt für mich fortan den Maßstab, an dem sich alle anderen zu messen haben, wenn sie der roten Bete huldigen wollen. Absolut phänomenal!
Kaum weniger beeindruckend gerät auch die in Salzlake eingelegte und geschmorte Kalbsbacke, die mit einer hauchdünnen Haut von Paprika bedeckt ist. Nicht zuletzt dank des Einreibens mit Sanddorn tendiert der Geschmack fast ein wenig in Richtung Tomate, während die wunderbar tiefe, karamellisierte Kalbsjus mit genuinen Aromen von Paprika enorme Tiefe erreicht. Das virtuose Changieren zwischen süßlichen und bitteren Aromen gelingt jedenfalls ausgezeichnet.
Die in Käsewasser gekochten Knöpfli warten mit enormem Schmelz auf, sind sie doch mit Schweizer Parmesan sowie leicht geschmolzenem Gruyère verfeinert und zudem von perfekter Konsistenz. Die generöse Portion an schwarzen Trüffeln sowie die subtile Veredelung mit Wiesenkräutern hievt diesen Gang erneut an den Rand des kulinarischen Olymps. Uns dämmert allmählich, was man heutzutage aus einfachsten Lebensmitteln zaubern kann, wenn man es wie Sven Wassmer mit seinem Team kann. „Spätzli“ und „Knöpfli“ werden in der Schweiz wie in Schwaben übrigens aus demselben Teig hergestellt und unterscheiden sich nur in der Form bzw. der damit verbundenen Herstellung, während allerdings auf der Ostalb die regionale Spezialität Hefeknöpfle und Spätzle natürlich etwas Grundverschiedenes darstellen. Jedenfalls fragt der Service – der längst herausgefunden hat, dass wir Schwaben sind – unschuldig, wer denn nun die besseren „Spätzli“ bzw. „Knöpfli“ macht (und sich damit natürlich nicht auf die Hefeknöpfli der Ostalb bezieht): die Schwaben oder die Schweizer? Wir geben uns diplomatisch und weichen der Frage aus, erkennen aber natürlich neidlos an, dass wir sie noch nie in dieser Referenzqualität gegessen haben.
Als nächstes staunen wir nicht schlecht, wie eine Regenbogenforelle „Müllerin“ in diesem Hause interpretiert wird: zwischen zwei saftigen und butterzarten Lagen des Fischs verteilt die Küche eine dünne Schicht von Bärlauchcrème, die diesem Einfall einen unerwarteten, aber sehr harmonischen geschmacklichen Twist verleiht. Was zunächst nur wie ein Texturgeber wirken mag, entpuppt sich als raffinierte Akzente von Mandeln und Bärlauchkapern auf dem Fisch, doch die Krönung stellt fraglos einmal mehr die Sauce dar, die aus einer himmlisch cremigen, in Koji gereiften Heu-Mayonnaise besteht. Äußerste Reduktion in Perfektion – fraglos ein weiterer Beitrag für das kulinarische Pantheon!
Den ausladendsten Teller genehmigt sich die Küche bei koji-gereifter Taube in mit Pfeffer gewürzter Taubenjus. Um die kraftstrotzende Umami-Wucht etwas abzufedern, gibt man in genau richtiger Dosierung Radicchio und Bittersalate hinzu. Mehr ist da erneut nicht zu erkennen, und doch sind die vorzüglichen Röstaromen und die sagenhafte Konsistenz des Fleischs, das so angenehm zu kauen ist, so hinreißend, dass mich auch dieser an Zauberei grenzende Gang sprachlos macht.
Dass sich die Küche ausgerechnet beim Hauptgang nun der ultimativen Schlichtheit bei der Präsentation und der Auswahl der Produkte bedienen würde, setzt der Menüfolge fraglos die Krone auf. Würde man nämlich das Foto des nächsten Gangs, der bekanntlich aus einem Drei-Sterne-Restaurant stammt, isoliert und ohne Kenntnis des weiteren Kontexts betrachten, so hätte man allen Grund zur Annahme, dass ein Affront hier unausweichlich scheint. Drei dünne Scheiben vom Braunvieh, Kartoffelmousseline und etwas Bratenjus – das soll alles sein? Wie grandios müsste diese maßlos profan anmutende Kreation schmecken, damit das Ganze nicht in einem Eklat endet?! Die Antwort lautet: so wie bei Sven Wassmer! „Wieder schmecken als wäre es das erste Mal“ – so vollmundig verkündet die Homepage des Lokals, was den Gast erwartet. Das ist beileibe keine Übertreibung, die nirgends deutlicher wird als an diesem Gericht!
Das fast zwei Monate lang im Dry-Ager abgehangene Fleisch stammt von einem dem Chef persönlich bekannten Züchter nahe am Bodensee. Die Vorzüge einer solchen Beziehung schmeckt man auf dem Teller: da der Produzent im sicheren Wissen um angemessene Bezahlung für seine Akribie auf die präzise formulierten Wünsche des Chefs eingeht, ist das Grundprodukt schon von einer unfassbaren Qualität. Dieses wird ganz zum Schluss sehr langsam über Binchotan in der offenen Schauküche gegrillt und mit einer süchtig machenden Jus auf den Teller gelegt. Dass Sven Wassmer trotz seiner eigenständigen Stilistik mit dem kulinarischen Erbe großer Chefs vertraut ist, beweist er mit der Mousseline: Kartoffeln allerbester Qualität werden in einem Mischungsverhältnis von 1:1 mit Butter verarbeitet. Damit wurde der inzwischen verstorbene Jahrhundert-Chef Joël Robuchon vor gut fünfzig Jahren berühmt – was damals funktionierte, klappt auch heute noch prächtig. Wir staunen einmal mehr ob der nicht für möglich gehaltenen Qualität – und der Souschef wiederum, der uns diesen Gang erläutert, staunt nicht schlecht, als ich ihn mit dem Wissen um Robuchons Mousseline konfrontiere …
Vor den beiden Desserts werden die Geschmackspapillen mit einem Brombeersorbet gereinigt. Was jedoch anderswo als reine Routine abgetan werden könnte, verdient hier ebenfalls einen eigenen Kommentar: nicht nur, dass das Sorbet mit einem fassgereiften Negroni (!) oder alternativ einem alkoholfreien Wermut aufgegossen wird, sondern auch dessen unfassbare Qualität verblüfft. Eines der wenigen Beispiele für Sorbets, das für mich bisher über den Status einer Randnotiz hinauskam, ist das ikonische Ruinart-Rosé-Sorbet von Sven Elverfeld aus dem Wolfsburger Aqua, das für mich bislang die Referenz auf diesem Gebiet darstellte. Doch selbst diese Hürde wird im Memories übersprungen: eine Cremigkeit, die nicht von dieser Welt ist, Fruchtigkeit und Säure in perfekter Balance, sowie eine Konsistenz, die ungeahnten Schmelz mit Körper verbindet sind nur ein paar Attribute, die verdeutlichen, dass Sorbet nicht automatisch Sorbet ist und es selbst auf diesem Gebiet noch immense Qualitätsunterschiede geben kann. An der Spitze der Pyramide steht jedenfalls dieser Beitrag!
Auch beim Dessert bleibt die Pâtisserie fokussiert und gönnt sich kein Nachlassen: ein raffiniert zwischen süßen und herben Aromen changierendes Sauerkleesorbet wird ganz puristisch mit etwas durch Noten von Holunder verfeinerter Meringue begleitet. Allein wie diese auf der Zunge ohne jede Klebrigkeit zergeht fällt schon auf, doch erweist sie sich als vollendeter Begleiter für den Hauptdarsteller, der auf einer mit Tannennadelöl verfeinerten Crème Chantilly eine würdige Basis bekommt. Es ist jedoch ein unscheinbares Detail, welches dieses Dessert perfekt abrundet: der winzige, ein volles Jahr lang in Melasse eingelegte junge Tannenzapfen gehört in seiner ungeheuren geschmacklichen Dichte zu den intensivsten Erlebnissen, die mir jemals bei einem Dessert zuteil geworden sind. Allein der ätherische Duft dieser Kreation erinnert schon an einen Aufenthalt in der Birkensauna, doch der Zapfen verleiht diesem Gang eine nussige Herbheit, die ihm alles Schwere oder Süße austreibt. Ein Meisterwerk von ungeahnter geistiger Durchdringung! Bravo!
Da muss es das zweite Dessert fast zwangsläufig schwer haben, selbst wenn es bei objektiver Betrachtung nur unmerklich abfällt: im Gegensatz zu vielen vorangegangenen Beiträgen liegt der Fokus diesmal nicht so sehr auf einem einzigen Produkt in demütiger Begleitung, sondern auf dem Gleichklang zwischen mehreren gleichberechtigten Komponenten. Doch auch in diesem Fall gibt es keinen Grund für übertriebene Optik, denn in einem tiefen Schälchen harmonieren ein Traubenkerneis, Milchschaum-Chip und Cheesecake-Crème mit falscher Vanille. Die Abrundung mit etwas Quittensaft sorgt für einen gelungenen Abschluss einer unvergesslichen Menüfolge mit einer selten ausgeprägter Handschrift. Was für die Menüfolge galt, gilt auch für diesen Ausklang: ohne jede Forciertheit bemüht sich die Küche stets um ein natürlich anmutendes Geschmackserlebnis, das seinen Reiz aus geschmacklicher Tiefe, dem Verzicht auf überkomplexe Zubereitung und dem Spiel mit natürlichen Texturen bezieht.
Ich habe an diesem Abend der rauschhaften Eindrücke übrigens so gut zu tun, dass ich kein Foto vom letzten kleinen, inoffiziellen Ausklang habe, an den ich keine Erinnerung mehr habe und der vom Souschef überreicht wird. Wir kommen noch eine ganze Weile gut ins Gespräch, denn Sven Wassmer selbst hatte sich schon vorher aufgrund einiger noch anstehender Tätigkeiten höflich verabschiedet – natürlich nicht ohne Einwilligung in ein gemeinsames Foto!
Der Service unter der Leitung der Ehefrau des Chefs, Amanda Wassmer-Bulgin, verdient sich ebenfalls ein Sonderlob: kompetent, herzlich, authentisch und nah am Gast. So etwas erlebt man in dieser Konsequenz auch nicht allzu häufig, denn wir haben uns rundum wohlgefühlt (zumal das Lokal eine fast wohnliche Atmosphäre bietet) und fanden uns bei den Getränken beim Service jederzeit bestens aufgehoben. Den Abend haben wir übrigens mit einem Glenfiddich 23 ausklingen lassen, der für Schweizer Verhältnisse gar nicht so kostspielig geriet und den Abend würdig abrundete.
Bestmögliche Ausgangsqualität bei den Produkten, die stets einen starken Bezug zur Region haben, ist ein unverzichtbarer Bestandteil einer solchen Ästhetik wie sie im Memories zelebriert wird. Sven Wassmer geht es darum, die Schätze seiner Heimat in authentischer und natürlich anmutender Form zu präsentieren – während sich jedoch auch viele andere Chefs eine derartige Ästhetik auf ihre Fahnen geschrieben haben, ist es letztlich der Verzicht auf ausladende Optik und forciert anmutende Effekte, welcher seine Küche so unverwechselbar macht. Sven Wassmer bezieht seine Inspiration eindeutig aus der Natur und veredelt seine Teller lieber auf subtile Weise mit Kräutern, Beeren oder Pilzen anstatt sie mit befremdlich anmutenden Techniken oder Einfällen ihrer Natürlichkeit zu berauben. Dass seine Teller dabei bis ins kleinste Detail durchdacht und geplant sind, könnte man dabei angesichts ihrer Schlichtheit glatt vergessen, doch wer sie einmal verkostet hat, der wird schnell anerkennen, dass die Vorzüge dieser Küche eben in ihrem perfekten Handwerk liegen, das seinesgleichen sucht.
Es ist kaum zu glauben, wie viel Mut man aufbringen muss, um über die Dauer eines elfgängigen Menüs hinweg konsequent eine derart reduzierte und doch ausdrucksstarke Aromatik anbieten zu können. In einer Mischung aus Purismus, Minimalismus und Konzentration auf das Essentielle gelingt es dem Team um Sven Wassmer, mit jedem weiteren Gericht den Gast auf eine fordernde, aber auch höchst gewinnbringende und erkenntnisreiche Reise mitzunehmen. Ein Eintrag auf meiner Top25-Liste ist diesem Lokal auch sicher – das steht fest. Ein Besuch hier ist in faszinierendes, wenngleich kostspieliges Erlebnis, das man sich mal gönnen sollte und es in dieser Form nicht häufig zu bestaunen gibt. Halten wir fest, dass ein Restaurant selten auf einen treffenderen Namen getauft worden ist, denn die mit diesem Besuch verbundenen „Memories“ werden mich noch lange Zeit aufs Angenehmste begleiten!
Mein Gesamturteil: 20 von 20 Punkten
Memories
Bernhard-Simonstraße 14
7310 Bad Ragaz (Schweiz)
Tel.: 0041-81303-3036
www.memories.ch
Guide Michelin 2022: ***
Gault&Millau 2023: 18 Punkte
FEINSCHMECKER 2023: 4 F
11-gängiges Menü: CHF 375