Die Lyrikerin Gertrude Stein („Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose ist eine Rose“) hätte möglicherweise an diesem ausgefallenen Exemplar auch ihren Gefallen gefunden. In diesem Fall versteckte der neue Chefkoch des „Tantris“, Benjamin Chmura, Texturen von Jakobsmuschel zwischen Rettich sowie rote Bete und bettete das Ganze auf einer Nage Sancerre. Mit Kreationen wie diesen erlangte er auf Anhieb die zwei Sterne zurück, die das Lokal bis zuletzt unter Hans Haas gehalten hatte – und auf meine Liste hätte er es auch fast geschafft!
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Wie schon in den vergangenen Jahren handelt es sich auch diesmal wieder um ein fiktives Menü, welches die kulinarischen Höhepunkte eines zwar verkürzten Jahres darstellt, aber keineswegs arm an herausragenden, ja denkwürdigen Momenten geriet. Wie immer haben dazu die unterschiedlichsten Restaurants beigetragen, wobei wie schon in den Jahren zuvor darauf geachtet wurde, dass alle 15 Beiträge von unterschiedlichen Restaurants stammen.
Die Zusammenstellung beginnt mit den Apéros, gefolgt von je einem kalten und warmen Gruß aus der Küche. Nach der Brotauswahl folgt eine Zusammenstellung unterschiedlichster Vorspeisen über Gänseleber, Fisch, Krustentiere und Gemüse, bevor das Hauptgericht mit Fleisch die Krönung der Folge darstellt. Nach einem Käsegang bilden ein Dessert und die Petits fours den würdigen Abschluss dieser Parade.
Dass dieses Menü trotz der Wiederöffnung der allermeisten Lokale erst im Juni 2021 so üppig und hochwertig geriet, spricht Bände über die Qualität der Restaurants heutzutage.
Wer hat es nun auf die Liste geschafft? Die Auflösung folgt …
Menü des Jahres 2021
1. Tim Raue: Apéros (Restaurant Tim Raue, Berlin)
Der Großmeister in Sachen asiatische Aromenwelten aus Berlin-Kreuzberg zeigte mit seinen Apéros gleich in eindrucksvoller und doch extrem abwechslungsreicher Konzentration auf, was seinen Küchenstil ausmacht und welch großartigen Geschmack er auch vermeintlich einfachsten Viktualien zu entlocken vermag. Dies ist wohl kaum der üppigste Reigen des Jahres, aber einer, der ein Statement setzt und nicht ein Sammelsurium an Beliebigkeiten auffährt.
2. Klaus Erfort: Carpaccio von Langustine mit Impérial-Kaviar und Koriander
(GästeHaus Klaus Erfort, Saarbrücken)
Trotz der überraschenden (und für uns letztlich nicht nachvollziehbaren) Aberkennung des dritten Michelin-Sterns zeigte uns ein Klaus Erfort in Bestform an diesem Tage auf, was er zu leisten imstande ist. Sein kaltes Amuse war – wie so manch anderer Gang an diesem Tag – nicht von dieser Welt: wie immer bestechende Frische und Produktqualität, vereint in vollkommener Harmonie mit angemessener Würze und dekadentem Luxus. Das gezeigte Handwerk machte deutlich, weshalb dieses Lokal schon lange zu den Klassikern der hiesigen Gastroszene zählt.
3. Felix Schneider: Schlachtschüssel (etz, Nürnberg)
In einem Jahr mit auffällig wenig warmen Apéros gebührt der Titel meines Erachtens dem Signature Dish von Felix Schneider, das er glücklicherweise aus den Zeiten beim Sosein in sein neues Lokal mitnahm. In dieser unfassbar intensiven Miniatur thront eine ganz frisch gekochte Quarta-Kartoffel auf einem Sud von Blaukraut, während neun Monate konservierte Schweineleber ganz fein darüber gerieben wird – im Widerlegen von Erwartungshaltungen (das soll eine Schlachtschüssel sein?!) ist Felix Schneider fast schon eine Klasse für sich!
4. Hendrik Otto: Brotauswahl (Lorenz Adlon Esszimmer, Berlin)
Auf die Brotauswahl war in diesem Lokal noch immer Verlass: während die begleitenden Aufstriche durchaus in den letzten Jahren öfters variierten, bleibt die ansprechende und praktisch unveränderte Selektion zwischen den warmen Steinen besonders lange frisch. All das würde bei einer mittelmäßigen Auswahl nicht viel bewirken, doch der Maßstab des Hauses auf diesem Gebiet ist bundesweit zur Spitze zu zählen und stets ein Höhepunkt hier!
5. Dirk Hoberg: Jakobsmuschel, Dill, Fenchel, Buttermilch und Kaviar (Ophelia, Konstanz)
Schwüle Hitze umfängt den Bodensee an diesem Tag – da kommt eine federleichte, aber keineswegs harmlose Kreation von Dirk Hoberg gerade recht. Der Jakobsmuschel bereitet er eine phantastische Bühne rund um säuerliche und salzige Produkte in einem selten aufregenden Spannungsfeld zueinander. Grandios auch die Optik, welche hier selten zu kurz kommt!
6. Marc Haeberlin: Froschschenkelmousseline (Ikarus, Salzburg)
Vorhang auf für einen Klassiker unter Klassikern: bereits in den 1960er-Jahren von Paul Haeberlin entworfen, steht dieses legendäre Gericht der Hochküche seit sechs Jahrzehnten ununterbrochen auf der Speisekarte der Auberge de l’Ill im Elsaß. Anlässlich des Jubiläumsmenüs zu Eckart Witzigmanns 80. Geburtstag im Salzburger Ikarus setzte Marc Haeberlin, der Sohn des inzwischen verstorbenen Mentors von Eckart Witzigmann, das Gericht selbstverständlich auf die Menüfolge. Es wurde der Höhepunkt in einem Feuerwerk denkwürdiger Gerichte – auch ohne bisher im Stammhaus der Haeberlins eingekehrt zu sein, wurde mir der Status dieses ikonischen Gerichts vollkommen vor Augen geführt.
7. Silio del Fabro: Gänseleber, Gurke und Apfelcidre (Esplanade, Saarbrücken)
Eine selten farbenfrohe Inszenierung rund um Gänseleber, die trotz allem ausgesprochen gut gelingt? Es kommt selten vor, aber es kann gelingen – wie Klaus Erforts ehemaliger Souschef Silio del Fabro eindrucksvoll gleich zum Auftakt seines Menüs bewies. Die völlig ungewöhnliche Kombination mit einem Gurkeneis, einem Gelée von Apfelcidre und weiteren pfiffigen Details machten aus diesem Entrée einen unvergesslichen Beitrag.
8. Christian Bau: Steinbutt, Stabmuschelsud, Algenöl und Kaviar
(Victor’s Fine Dining, Perl-Nennig)
Mein Gericht des Jahres: ansonsten eher für komplexe Tellergemälde bekannt, tischte Christian Bau hier eines seiner puristischsten Gerichte auf – und überzeugte damit über alle Maßen. Die Konsistenz des Fischs und der edle Geschmack des Kaviars waren nicht von dieser Welt, doch die Krönung des Gerichts stellte der mit Algenöl verfeinerte Stabmuschelsud dar. Ich vermag nicht, mir auszumalen, wie viel Aufwand und auch geistige Durchdringung notwendig waren, bis dieser Sud so gelingen konnte – selten habe ich so etwas Einmaliges verkostet! Wie sagte doch schon Jahrhundertkoch Paul Bocuse: „Das Einfache ist das Schwierige.“
9. Peter Maria Schnurr: Rochenflügel, Jakobsmuschel, Jalapeños, Maggikraut und
Pomelo-Salsa (Falco, Leipzig)
Ein Koch mit Ecken und Kanten ist Peter Maria Schnurr schon immer gewesen. Ein Produkt, bei dem ihm keiner das Wasser reichen kann, ist sein Rochenflügel – mit spielerischer Selbstverständlichkeit ersinnt er immer wieder neue Begleiter, die stets einen spannungsreichen Kontrast eingehen und den Hauptdarsteller in bestem Lichte präsentieren. Wer hier einkehrt, sollte sich den Rochenflügel auf keinen Fall entgehen lassen, wenn er auf der Karte steht!
10. Boris Rommel: Gartenkarotte, Koriander und Mascarpone (Le Cerf, Zweiflingen)
Meine eher spontante Stippvisite hier geriet zu einem überragenden Besuch, den ich so nicht für möglich gehalten hätte – zumal meine Wahl auf das vegetarische Menü fiel, das eher nicht das Aushängeschild diese Luxusetablissements alter Schule darstellen sollte. Stattdessen zerstreute Boris Rommel gleich mit seinem ersten Gericht fulminant alle Zweifel: ein derart farbenfroh inszeniertes und gleichzeitig so umwerfend austariertes Gericht hätte ich hier niemals erwartet. Nennen Sie es, wie Sie wollen: ein Geniestreich, eine Eingebung, eine Sternstunde …
11. Torsten Michel: Thunfisch, Muscheln, Spitzkohl, Krause Glucke und Shoyumarinade (Schwarzwaldstube „temporaire“, Baiersbronn)
Das bekannteste Gourmetrestaurant der Republik ist wie Phönix aus der Asche aufgestiegen: trotz aller Widrigkeiten rund um die Pandemie und den verheerenden Brand des Stammhauses im Januar 2020 zauberten Torsten Michel und sein Team ein Menü auf die Teller als wäre nichts Besonderes geschehen. Höhepunkt der wie immer bis ins mikroskopische Detail umgesetzten Menüfolge war die Kreation rund um Thunfisch, die im leicht japanisch anmutenden aromatischen Gewand gekleidet war. Speziell die Tiefe der Marinade beeindruckte außerordentlich.
12. Christoph Rainer: Kagoshima-Rind, schwarzer Knoblauch, Bernstein, Oxtail und Pistazie
(Luce d’Oro, Elmau)
Trotz prominenter Konkurrenten war dies das bisher beste Stück Wagyu, das ich je verkosten durfte. Was Christoph Rainer an minutiös ersonnener Begleitung dazu präsentierte, setzte dem Gang allerdings erst die Krone auf: ohne die überirdische Qualität des Fleischs zu relativieren hielt sich das begleitende Quartett demütig zurück und setzte doch die notwendigen Akzente, um dauerhaft im Gedächtnis zu bleiben. Wenn es nach mir ginge, dann dürfte der Grand Chef diesen Gang sofort zu einem Signature Dish küren! Ich war den Tränen nahe – absoluter Wahnsinn!
13. Philipp Kovacs: Camembert, Aprikose, Haselnuss und Feldsalat (Goldberg, Fellbach)
Quasi auf den letzten Drücker (an Silvester!) gab es einen der besten Käsegänge des Jahres zu bewundern: Camembert als cremiges Eis zu servieren fiele auch nicht jedem Koch ein! Das Defilée aus Selleriepurée, Pekannüssen und Aprikosengelée rechtfertigte die mutige Entscheidung des frisch gebackenen Zwei-Sterne-Kochs Philipp Kovacs jedoch voll und ganz. Das launige Spiel um abwechslungsreiche Texturen und Temperaturen machte einfach Spaß – das Kalkül des Chefs war somit aufgegangen! Stark!
14. Thomas Yoshida: Aprikose, Mango, Zitrusfrüchte, Joghurt und Cashew (Facil, Berlin)
Der Ehrenplatz beim Dessert gebührt schon zum zweiten Mal einem alten Bekannten. Thomas Yoshida gehört aber so was von eindeutig zu den besten Pâtissiers des Landes, dass es nicht leicht fällt, ihn zu übertrumpfen! Auch heuer setzte er mit einem kraftvollen Aprikosendessert Maßstäbe: verblüffende Aromatik, abwechslungsreiche Texturen und versteckte Schärfe durch Wasabi machten aus diesem Ausklang einen unberechenbaren und exzellenten Beitrag!
15. Stefan Leitner: Petits fours (Bareiss, Baiersbronn)
Die Elogen über Opulenz und Qualität der Petits fours von Stefan Leitner könnten einen ganzen Band füllen: dem Ausnahmepâtissier gehen die Ideen offenbar niemals aus. Dennoch ist jeder neue Einfall mit einer Präzision und einem Gespür für genau ausgelotete Süße umgesetzt, das nahezu beispiellos ist. Den lange etablierten Klassikern kann man ebenso blind vertrauen – ein Verzicht auf diese Ausklänge käme jedenfalls einer echten Sünde gleich! Kein Wunder, dass Stefan Leitner schon zum dritten Mal meinen finalen Ehrenplatz in dieser Menüfolge belegt!
Vor einem Jahr hatte ich noch gehofft, meinen Schlusstext im Laufe des Jahres 2021 zu den Akten legen zu können, doch leider hat uns der Verlauf der Pandemie eines Besseren belehrt. Daher übernehme ich den Text des vergangenen Jahres nochmals in unveränderter Form.
Schade, dass es diese Menüfolge in dieser Form nirgendwo gibt!
Und dennoch: wie schon im letzten Jahr gilt auch heuer mein Dank erneut all den Köchen, die stets mit ungebremster Energie versuchen, die Gäste zu beglücken und deren kulinarischen Horizont zu erweitern!
Dass ihnen dieses Kunststück sogar immer wieder in diesen außergewöhnlich belastenden Zeiten überzeugend gelang, darf dabei aus meiner Sicht als die größte Überraschung überhaupt gelten. Demütig ziehe ich daher meinen Hut vor all den rastlosen und umtriebigen Gastronomen, die mit unbändiger Energie und neuen Konzepten dieser Krise trotzen. Hoffen wir, dass ihnen als „Belohnung“ nicht auch noch die Schließung winkt – das hätten sie wahrlich nicht verdient.
In der aktuellen Situation sind wir der Gastronomie gegenüber daher in noch stärkerem Maße zu besonderer Anerkennung verpflichtet. Ein einziges Schlusswort möge symbolisch dafür stehen.
!!! DANKE !!!