„Kochen ist wie Malen oder Songs schreiben: man muss seinen eigenen Stil finden, Neues kreieren und nicht einfach nur fremde Ideen kopieren oder imitieren – das funktioniert nämlich nur in den seltensten Fällen.“ (Wolfgang Puck)
Juli 2020
Zu den besten Adressen auf der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst gehört die ziemlich gut versteckte Hotelanlage Strandhotel Fischland, die etwas außerhalb des kleinen Orts Dierhagen in einem Waldgebiet eingebettet ist. Das geräumige Areal mit privatem Strandzugang zur Ostsee existierte aber auch schon zu DDR-Zeiten und wurde im Laufe der Jahrzehnte immer wieder akkurat modernisiert und den neuen Zeichen der jeweiligen Zeit angepasst. Logische Konsequenz: unter den besten Hotels im nordöstlichsten Bundesland der Republik spielt dieses Etablissement weiterhin in der höchsten Liga mit. Wesentlichen Anteil an diesem Umstand hat auch das Sternerestaurant Ostseelounge, das nicht nur mit einem weiten Blick über die Ostsee punktet, sondern auch durch rasch sich steigernde Küchenleistungen auf sich aufmerksam gemacht hat. Am Herd steht Mittdreißiger Pierre Nippkow, der bereits bei Sternekoch Ralf Haug auf Rügen als Souschef agierte und sich immer wieder bei hochdekorierten Kollegen wie Joachim Wissler (Vendôme, Bergisch Gladbach) oder Christian Bau (Victor’s Fine Dining, Perl-Nennig) weiterbildet. Das bleibt nicht ohne Auswirkungen, denn der Große Restaurant & Hotel Guide (der schwerlich der renommierteste aller Restaurantführer ist) zeichnete Pierre Nippkow im Herbst 2019 zum „Aufsteiger des Jahres“ aus. Ein Michelin-Stern und 17 Punkte im Gault&Millau haben aber auch eine gewisse Aussagekraft, so dass unsere Erwartungshaltung durchaus nicht die geringste an diesem sonnigen Abend war.
Man geleitet uns bei der Ankunft zunächst auf die Terrasse, um dort den Apéritif und die Kleinigkeiten zum Beginn einzunehmen – ein Angebot, von dem wir angesichts blauen Himmels und idealer Temperaturen gerne Gebrauch machen. Schnell stellt sich heraus, dass dieser grandiose Balkon ausgesprochen kommunikationsfördernd ist, denn auch im weiteren Verlauf des Abends wird dieser immer wieder von den meisten Gästen aufgesucht. Doch auch der Start mit einem Apfelsecco aus dem Hause Raumland und Tatar von norwegischer Jakobsmuschel mit Yuzu-Miso, Shiso, Shiso-Öl, Kokoswasser und Kokosessig erweist sich als gelungener Einstieg. Nicht zuletzt die überraschende Liaison mit den Kokosaromen gelingt besser als erwartet und macht aus diesem kleinen Entrée einen federleichten, sommerlichen Einstieg, der uns gut gefällt.
Danach führt man uns zum Tisch drinnen, wo der eigentliche Reigen an Amuses mit nicht weniger als fünf Beiträgen serviert wird: karamellisiertes Wachtelei mit Trüffel und Störkaviar ist eine bewährte Kombination, schmeckt aber immer wieder opulent. Bisontatar mit Räucheraal und Eigelbcrème paart dagegen ungewöhnliche Komponenten, doch auch diese Kombination sagt uns angesichts schöner Kontraste gut zu. Ein Algencracker mit Hamachi und Wasabi regt mit dezenter Schärfe die Geschmacksknospen an, während ein Kartoffel-Tarte-Tatin mit Mimolette eher cremig und dezent gerät. Den stärksten Eindruck unter all diesen gelungenen Häppchen hinterlässt jedoch das bildschöne Türmchen mit Macaron von grünem Apfel auf Blutwurst und Senfsaat: eine intensive, ungeheuer dichte, kleine Aromenbombe mit präsenter Säure und pikanter Würze. Ein starker Auftakt, der uns auf noch mehr Höhenflüge hoffen lässt!
Das Brot in diesem Hause stammt aus einer nahen Bäckerei in Ribnitz und wird serviert mit Kamille-Fenchel-Salz, Butter und einer Bärlauchcrème. Auch das gerät bemerkenswert gut.
Die Menüauswahl ist schnell erklärt, da ein einziges siebengängiges Menü, das auf bis zu vier Gänge reduziert werden kann, zum Preis von erstaunlich günstigen € 114 angeboten wird. Die Wahl ist schnell getroffen: das volle Programm inklusive Getränkebegleitung (einmal alkoholisch, einmal alkoholfrei). Bei dem Preis kann man doch nicht viel falsch machen, oder?!
Beim Betreten betrachten wir die Räumlichkeit noch etwas genauer: neben der bereits erwähnten Terrasse fällt die lichte Gestaltung des Raumes auf, der sommers durch die offene Terrassentür abgekühlt und im Winter durch ein Kaminfeuer beheizt werden kann. Schick auch die Vitrinen, die einen Teil der Spirituosen im Speisesaal ausstellen. Wem dieses Angebot jedoch nicht ausreicht, der findet draußen an der Bar weitere Angebote.
Jetzt wird es aber Zeit für den ersten Gang: roh marinierter Gehlsbach-Saibling wird getoppt von weißem Spargel und umspielt von Kokosmilch (als Schaum und Gel) und Tahiti-Vanille. Der Fisch punktet mit schönem Schmelz, während die Gewürze (Pfeffer und Quinoa) nicht nur etwas Biss beisteuern, sondern auch einen zu milden Geschmack verhindern. Trotzdem entbehrt das Gericht durch die Vanille nicht einer gewissen Eleganz und stellt somit einen gelungenen Start ins Menü dar. Passend dazu: eine hausgemachte Limonade aus Rhabarber und Granatapfel.
Beim nächsten Gang schlägt die Küche dann für meine Begriffe einen Irrweg ein: geflämmter Müritzhecht wird trotz der eher rustikalen Zubereitung (wieder einmal) von viel zu dominanter Erbsencrème zugekleistert. Der ganz unten versteckte Chorizosud fremdelt zudem mit dem Hauptdarsteller, so dass keine echte Spannung oder Harmonie entsteht. Daran ändert auch der Lardo nichts, während die krossen Schuppen wohl als Texturgeber fungieren sollten, aber im Grunde genommen ohne Mehrwert beim Verzehr nur in die Schleimhäute pieksen. Dieser Gang geriet mir zu einem Buch mit sieben Siegeln: mir blieb schlichtweg schleierhaft, was die Intention dahinter sein sollte. Schnell vergessen, zumal auch der Begleiter, ein äußerst bitterer japanischer Sencha-Tee aus geröstetem Braunreis, nichts mehr herauszureißen vermochte.
Es sollte glücklicherweise der einzige Ausrutscher bleiben, denn fortan wurde das vorherige Niveau mindestens wieder bestätigt oder gar deutlich getoppt. Deutlich simpler gestrickt, aber trotz allem erheblich besser als der Vorgänger geriet Ikejime-Stör aus Boek, der sich an einer intensiven Flusskrebs-Jus laben durfte. Die Sandkarotten waren erfreulich weich, und auch die Estragoncrème fügte sich organisch ein, zumal neben der dezenten Inszenierung auch eine harmonische Balance der Aromen gut zur Geltung kam. Obenauf noch etwas gerösteter Panko – und fertig ist ein aromatisch dichtes und fast schon begeisterndes Gericht! Als Begleiter reicht man diesmal „Inspiration 4.5“ (Traube, Lapsang-Souchong-Tee) von Jörg Geiger, wobei diese Teevariante mir erheblich besser zusagt.
Noch besser gerät rosa gebratene Entenbrust, die lediglich von etwas brauner Butter und diversen Texturen von Blumenkohl umrahmt wird. Die einwandfreie Zubereitung des manchmal sperrigen Gemüses gelingt hier ausgezeichnet, und doch wird dem saftigen Hauptdarsteller eine fast schon puristische Bühne bereitet, die sich ausgesprochen positiv auf die Entfaltung der Geflügelaromen auswirkt. Der Schaum hat dennoch ordentlich Umami, so dass „Inspiration 4.3“ von Jörg Geiger (Apfel, Staudensellerie und Essig) gerne einen herben Kontrapunkt setzen darf.
Jetzt wird es ernst: trotz des eher niedrigen Menüpreises steht nun Schulter vom Wagyu-Rind als Hauptgericht an. Was soll ich sagen? Keinerlei Abstriche bei der Qualität, denn das Fleisch ist unfassbar mürb, fettarm und so aromatisch dicht wie man es sich nur wünschen kann. Dass so ein Produkt keine polternden Begleiter braucht, weiß auch Pierre Nippkow: etwas cremige Polenta, Rinderjus und Grillgemüse reichen schon aus, um große Ausdruckskraft zu erlangen. Im Gegenteil: vielleicht hätte sogar eine schonendere Zubereitungsart des Gemüses (z.B. Blanchieren oder Einlegen) noch mehr Dividenden eingebracht. Wie dem auch sei – ein starkes Hauptgericht ohne viel überflüssiges Chichi, das ganz in sich ruht. Für diesen Gang kredenzt die Küche übrigens eine Tomaten-Basilikum-Essenz, die sich mit fruchtig-herben Noten vollendet anschmiegt.
Beim Käsegang kann eine recht rustikale Interpretation von Palmziner Schafskäse mit Rhabarber, Mispelketchup und Brioche auch nicht verhindern, dass der optische Eindruck in diesem Fall länger haften bleibt als der Geschmack. Die verschiedenen Varianten verraten ein gewisses Maß an Kreativität, doch die aromatische Vielfalt geht in dem herzhaften Mispelketchup ein wenig verloren. Immerhin bemühte man sich um eine Komposition anstelle eines Käsewagens, aber das Ergebnis geriet recht durchschnittlich. Sehr erfreulich dagegen der hocharomatische Cox-Orange-Apfelsaft, der qualitativ in der Oberliga mitspielte.
Und nun? Das Dessert noch schnell nachschieben und dann einen Knopf ans Menü dran machen? Pustekuchen! Was jetzt aufgetischt wird, klingt bei der Lektüre schon exotisch, doch beim Auftragen wird uns erst richtig bewusst, welch ausgelassenes und hochgradig individuelles Dessert uns da erwartet: geeister Sauerampfer, griechischer Joghurt, Holunderblüte, Gurke und Minze ist umwerfend drapiert und schmeckt sensationell. Der Gast sollte sich hier trotz der Zutaten vorbehaltslos auf ein verblüffendes Spiel rund um Texturen, Konsistenzen und Temperaturen einlassen, denn das Ergebnis ist umwerfend. Ein gut verstecktes Granité von Sauerampfer bildet das aromatische Fundament dieser keineswegs zipfelsauren Komposition – eingelegte Essiggurken, Holunder und Minze steuern zwar herbe, aber doch leicht süßliche Akzente bei, die keine Sekunde vorhersehbar sind und bis zum letzten Löffel spannend bleiben. Weichere Komponenten und bissfestere Vertreter gehen hier Hand in Hand, doch gerade die Vielfalt bei den Temperaturen macht aus diesem mutigen Dessert ein unvergessliches Erlebnis, das Herr Nippkow unserer Meinung nach ganz schnell zu einem seiner Signature Dishes küren sollte! Als weiterer Beleg dieser Courage dient der säuerliche Granny-Smith-Apfelsaft, der mit etwas Gurke und Petersilie veredelt wurde.
Nach diesem fulminanten Ausklang verkraften wir die Tatsache, dass die Petits fours alles in allem ordentlich, aber nicht berauschend gerieten, locker. Das Müsli, bestehend aus Pecanuss, Cornflakesmilch und gepufftem Wildreis gefällt uns am besten, obwohl jetzt weiß Gott nicht die Zeit für ein Frühstück sein sollte. Der essbare Stein aus Mandelmilcheis, das gebackene Malzblättchen und den SpongeBob aus weißer Schokolade verbuchen wir als normale Eingebungen am Ende eines Menüs mit vielen Höhen und wenigen Tiefen.
Der Service geleitet insgesamt unaufgeregt und angenehm durch den Abend, wobei Sommelière Vanessa Riedemann (bis auf eine kleine Ausnahme, wie sich gleich zeigen wird) einen kompetenten Eindruck macht und meiner Begleitung stilsicher die jeweiligen Weine zur Begleitung des Menüs erläutert und einschenkt. Einen witzigen Moment gab es dann doch, da wir uns, jedes Mal wenn wir in einem Sternerestaurant außerhalb Baden-Württembergs einkehren, inzwischen einen kleinen Scherz nicht verkneifen können, sollten Produkte von Jörg Geiger angeboten werden: wir fragen Frau Riedemann unschuldig-naiv, wo dieser Produzent beheimatet wäre – Hintergrund ist, dass auch in der Vergangenheit seitens diverser Servicekräfte in verschiedensten Lokalen der Erzeuger Jörg Geiger schon mal nach Baden oder Franken verlegt wurde. Frau Riedemanns Antwort übertraf jedoch all unsere Erwartungen: zuerst bot sie „südliches Österreich“ an, doch als wir den Kopf schüttelten, verbesserte sie sich umgehend und legte sich dann auf „Brandenburg“ fest! Gut, dann eben irgendwo dazwischen! Die Antwort auf unsere „Heimspielfrage“: Jörg Geiger ist natürlich in Schlat am Fuße der Schwäbischen Alb beheimatet, worüber wir auch Frau Riedemann informierten. Sie nahm es jedoch absolut mit Humor sowie professionell auf und präsentierte den PriSecco am Nachbartisch umgehend als „Erzeugnis von der Schwäbischen Alb“, was uns zum Schmunzeln brachte. Schön, dass auch wir Sommeliers manchmal noch etwas beibringen können!
Flankiert wird die Restaurantleiterin zudem von zwei Kellnerinnen gebürtig aus Eritrea, die jedoch absolut sicher Deutsch sprechen und keinerlei falsche Scheu an den Tag legen – leider muss man so einen Fakt ja immer noch als relativ großes Wagnis der Geschäftsleitung hervorheben. Es ist noch gar nicht so lange her, dass beispielsweise auch Thayarni Kanagaratnam, die damalige Lebensgefährtin des Chefs Thomas Bühner und Serviceleiterin im ehemaligen Drei-Sterne-Restaurant La Vie in Osnabrück ob ihrer Herkunft verunglimpft wurde. Diesem vorbildichen Mut der Restaurantleitung in der Ostseelounge zolle ich meinen Respekt.
Kommen wir abschließend zur Küchenleistung: mit Ausnahme des „Ausritts“ im zweiten Gang konnte uns vieles wirklich überzeugen. Die meisten Portionen hätten mengenmäßig nicht kleiner ausfallen dürfen, doch schafften es die Kreationen auch so immer wieder, überraschende Geschmacksbilder an den Gaumen zu zaubern, die von bloßer Routine weit entfernt waren. Speziell die genialen Ausreißer im Hauptgericht und beim Dessert ließen uns erahnen, dass Pierre Nippkow sein Potential noch längst nicht ausgereizt hat und inzwischen bereit ist, mutige Akzente zu setzen und die ausgetretenen Pfade zu verlassen. Die meisten Produkte, die auf den Teller gelangten, hatten keine allzu lange Reise hinter sich und punkteten neben bestechender Frische auch mit erstaunlicher Qualität. Aparte Optik bei gleichzeitiger Reduktion auf wenige Zutaten, die bisweilen verblüffend vielfältig dargeboten werden, machen den Reiz dieser Küche aus – sofern die Gäule nicht mit ihr durchgehen und das Geschmacksbild gar zu wild gerät. Seine eigene kulinarische Handschrift hat der Chef inzwischen fast vollständig etabliert und somit den Ratschlag seines österreichischen Kollegen beherzigt. Das Ende der Fahnenstange ist noch längst nicht erreicht, weshalb ein erneuter Besuch hier in nicht allzu ferner Zukunft durchaus nicht auszuschließen ist. Alles in allem wird zudem durchweg ein mehr als faires Preis-Leistungs-Verhältnis angeboten, zumal auch die Nebenkosten erfreulich gering ausfallen. Ich denke, eine erneute Stippvisite würde sich schon lohnen – nur der FEINSCHMECKER mit seinem für meine Begriffe zu niedrigem Urteil hat das noch nicht wirklich gemerkt!
Mein Gesamturteil: 17 von 20 Punkten
Ostseelounge
Ernst-Moritz-Arndt-Straße 6A
18347 Dierhagen
Tel.: 038226/52666
www.strandhotel-fischland.de/ostseelounge
Guide Michelin 2020: *
Gault&Millau 2020: 17 Punkte
GUSTO 2020: 8 Pfannen
FEINSCHMECKER 2020: 2,5 F
7-gängiges Menü: € 114