Residenz in Aschau: Canard à la presse mit Hans-Peter Wodarz

Samstag, 27. April 2024

Seit dem Ableben des legendären Heinz Winkler am 28. Oktober 2022 durchlief die altehrwürdige Residenz Heinz Winkler einige prekäre Situationen, die hauptsächlich dem Umstand geschuldet waren, dass viele Besitz- und Erbschaftsverhältnisse sowie Zuständigkeiten wegen des unerwartet frühen Todes des Grand Chefs ungeklärt geblieben waren. Der seinerzeit schon zum Nachfolger für den Chefposten auserkorene Armin Karrer verließ das Haus angesichts dieser offenbar schwierigen Begleitumstände nach nicht einmal sechs Wochen schon wieder, wonach die Küche praktisch ohne echte Führung dastand. In dieser heiklen Lage entschied man sich nach fast sechs Monaten letztlich für eine Doppelspitze, die das Erbe Heinz Winklers antreten und die Residenz zu neuen Glanzzeiten führen sollte. Der unter den damaligen Gegebenheiten absehbare Verlust beider Michelin-Sterne im Frühjahr des letzten Jahres deutete dann endgültig an, dass hier ein großer Umbruch würde stattfinden müssen. Seit Mai 2023 bilden nun Stefan Barnhusen, der aus dem Münchner Mountain Hub Gourmet kam, und Daniel Pape, der zuletzt im Da Vinci in Koblenz aufkochte, das Duo, das fortan für die kulinarischen Erlebnisse verantwortlich zeichnet. Beide hatten sich allerdings schon zuvor 2009 in Christian Jürgens‘ Überfahrt im nahegelegenen Rottach-Egern kennengelernt, weshalb die Chemie offenbar von vornherein stimmte. Zum Amtsantritt der beiden neuen Chefs ließ sich übrigens kein Geringerer als Jahrhundertkoch Eckart Witzigmann persönlich blicken, der beiden Protagonisten viel Glück wünschte, ihnen aber auch nochmals die Ausnahmestellung Heinz Winklers in der deutschen Kochgeschichte und das Gewicht dieses schweren Erbes vor Augen führte. Seitdem Sohn Alexander Winkler als Geschäftsführer für die Residenz verantwortlich zeichnet, stabilisierte sich die Lage jedoch abermals um ein gutes Stück. Erste Triebe der unternommenen Anstrengungen sprossen dann Ende März, als es den ersten Michelin-Stern bereits wieder zurück gab. Knapp ein Jahr nach der Übernahme durch die beiden neuen Chefs sieht die Welt hier somit schon wieder um einiges freundlicher aus.

Die neue Ausrichtung der Küche bleibt allerdings ein Drahtseilakt, da es gilt, einer Vielzahl an voneinander abweichenden Vorstellungen und Wünschen seitens der Stammgäste gerecht zu werden. Unter diesen befinden sich mit Sicherheit etliche Habitués, die sehr konservativ denken, gegenüber Neuerungen nicht allzu aufgeschlossen sind und bisweilen allein wegen Heinz Winkler hier einkehrten. Andererseits darf die Küche nicht zu museal erscheinen, wenn man die dringend benötigten neuen, jüngeren Gäste akquirieren möchte, ohne die man über kurz oder lang nicht wird auskommen können – diese versucht man offenbar neuerdings mit attraktiven Angeboten zu Vorzugspreisen zu locken. Es scheint, dass in den letzten Monaten somit eine Art Mittelweg eingeschlagen wurde, mit dem man versucht, es möglichst vielen Gästen recht zu machen.

An einem speziellen Abend pro Jahr, der hier schon eine lange Tradition genießt, spielen derartige Überlegungen indes keine echte Rolle – nämlich dann, wenn es wieder soweit ist, die legendäre Entenpresse zum Einsatz kommen zu lassen. Bereits zu Heinz Winklers Lebzeiten hatte dieser Abend fast schon zeremoniellen Charakter und lockte Gäste an, die das altehrwürdige Utensil einmal persönlich beim Gebrauch erleben wollten. In den letzten Jahren fiel die Veranstaltung zwar öfters mal der Pandemie oder auch der Geflügelpest in Frankreich zum Opfer, aber heuer war es endlich wieder mal so weit. Im Vorfeld hatte man einen Abend ausgeschrieben, der einen Hauch vom legendären Pariser Restaurant La Tour d’Argent durch den Chiemgau würde wehen lassen: über ein halbes Jahrhundert hinweg hatte diese Institution der französischen Hochküche mit Paradeblick auf die Kathedrale Notre-Dame in Paris die drei Sterne gehalten und dank der Entenpresse illustre Gäste aller Art angelockt, darunter so weltbekannte Persönlichkeiten wie Königin Elisabeth II. von Großbritannien, Marilyn Monroe oder Maria Callas. Derzeit schmückt nur ein Macaron dieses Haus, aber der Weg in die Zukunft sieht nach einer dezenten Modernisierung trotz allem vielversprechend aus. Die berühmteste Illustration von Anno dazumal aus diesem Hause, die an diesem Abend auch ausgestellt ist, ziert der sichtlich angetane Salvador Dalí links.

Erhob sich also nur noch die Frage, welchen Ehrengast man zu dieser Veranstaltung einladen würde – die letztlich getroffene Wahl hätte sich kaum als schlüssiger und besser herausstellen können, denn mit Hans-Peter Wodarz ließ sich nicht nur ein jahrzehntelanger Freund des Hauses blicken, sondern auch derjenige Chef, dessen damalige Restaurants in München und später Wiesbaden die Ente ja sogar in ihrem Namen trugen. Da dieser Koch in der Branche außerdem für diverse launige Anekdoten sowie seine einnehmende und charmante Art bekannt ist, konnte man die Geschäftsleitung praktisch schon im Vorfeld zu diesem Coup beglückwünschen, zumal Hans-Peter Wodarz diese Stippvisite vermutlich als Ehrensache empfand und ohne Umschweife zusagte. Übrigens wäre angeblich auch Eckart Witzigmann zu der Veranstaltung gekommen, wenn es seine angeschlagene Gesundheit zugelassen hätte …

In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, bekam es der noch junge Hans-Peter Wodarz schon früh mit allerlei Posten und Aufgaben in der damals noch ganz anderen Welt der Kulinarik zu tun, doch zum Schlüsselerlebnis schlechthin wurde das erste denkwürdige Essen im Tantris unter Eckart Witzigmann. Die Erkenntnis, dass der Dosenöffner nicht das wichtigste Utensil des Kochs darstellen sollte, spielte dabei auch eine Rolle, aber vor allem der Ehrgeiz des unaufhaltsam nach oben strebenden Witzigmann und seine Präzision bei der Arbeit öffneten dem sieben Jahre jüngeren Jungkoch die Augen. Er heuerte schon bald im Tantris für zwei Jahre an, ehe er im Stadtteil Lehel im Münchner Osten sein eigenes Lokal Die Ente im Lehel eröffnete und dabei von der tatkräftigen Unterstützung seines ehemaligen Chefs im Tantris profitierte. Mit dem Aufkommen der Schickeria ab Mitte der 1970er-Jahre und dank der publizistischen Arbeit des an diesem Abend übrigens auch anwesenden Szenereporters Michael Graeter konnte sich das Lokal schon bald nicht mehr der gesamten Prominenz jener Zeit erwehren. Erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang natürlich auch das umfassende Schaffen von Wolfram Siebeck, ohne dessen fundierte, aber teils scharfzüngige Rezensionen die Entwicklung der Hochküche in Deutschland sicherlich anders verlaufen wäre. Daran sollte sich auch nichts Wesentliches ändern, als es Hans-Peter Wodarz 1979 in seine Heimatstadt Wiesbaden zurückzog, wo er im Grandhotel Nassauer Hof umgehend mit großem Erfolg Die Ente vom Lehel etablierte und die hessische Landeshauptstadt auf die damals noch dünne kulinarische Landkarte der Bundesrepublik setzte.

Schon zu jener Zeit war dem Ehrengast des Abends die oft spaßfreie und quasi gebetsähnliche Flüsteratmosphäre der damaligen Sternerestaurants zuwider, weil das Essen doch gute Laune vermitteln sollte – aus heutiger Sicht klingt dieses Credo freilich wie eine Vorwegnahme des allgegenwärtigen Modebegriffs Casual Fine Dining. Die Zustände, die Hans-Peter Wodarz in Frankreich oder Italien zu jener Zeit erlebte, inspirierten ihn, da die Mahlzeiten dort keinen Ritualcharakter mit todernster Atmosphäre verströmten, sondern Lebensfreude erkennen ließen. Schon bald wurde in Wiesbaden die große Freitreppe des Restaurants für Auftritte von Harald Juhnke, einer Showgirl-Truppe aus dem Crazy Horse in Paris oder für den Chor der russischen Armee genutzt – allesamt Episoden, über die der Stargast auch heute noch freimütig plaudert. Er bekämpfte das „Schweigen der Schlemmer“ und ersann schon bald eine Idee, die im Grunde genommen bis heute fortbesteht: die Kombination von Kulinarik mit Kunst aller Art (z.B. Variété) führte zur Gründung von Panem et Circenses, das die erste Show dieser Art werden sollte. Trotz nicht ausbleibender Fehlschläge und wechselhaften Erfolgs seiner Unternehmungen wäre das heute weithin bekannte Format des Palazzo, das Hans-Peter Wodarz noch immer zusammen mit Kolja Kleeberg in Berlin organisiert und durchführt, in dieser Form undenkbar. Das muss man erstmal schaffen, über Monate hinweg jeden Abend 350 Gäste in das Spiegelzelt am Bahnhof Zoo in Berlin zu locken!

Hans-Peter Wodarz bezeichnet sich zwar selbst in erster Linie als Koch, aber seine Reputation als Begründer der Erlebnisgastronomie überstrahlt sein Können in der Küche heute recht deutlich. Jedenfalls gehörte der charismatische Chef zu den großen Gestalten des deutschen Küchenwunders in den 1970er-Jahren – ein Umstand, der den Galaabend aus meiner Sicht noch um einiges attraktiver machte, weil ich unbedingt noch möglichst viele Größen aus vergangenen Zeiten kennenlernen will. Wer über den Stargast noch mehr erfahren möchte, dem seien die durchaus ergiebigen Recherchen im Internet oder auch ein Interview nahegelegt, das der Chef dem Magazin Effilée (Ausgabe #59) vor zwei Jahren gab.

Zu einem Preis von € 395 wurde also an diesem Abend ein sechsgängiges Galadîner samt korrespondierender Weine und sonstiger Extras wie Kaffee, Wasser, Amuses und Petits fours angeboten – offenbar fand diese Offerte weithin Anklang, denn mehr als 50 Gäste folgten dem Ruf nach Aschau, um Entenpresse und Hans-Peter Wodarz gemeinsam in Aktion zu erleben. Als ich den Chef an diesem Abend zum ersten Mal erlebe, bekomme ich umgehend bestätigt, dass ihm sein Ruf zurecht vorauseilt: er gibt sich geerdet, ist bestens gelaunt, unterhält das Publikum zwischen den Gängen mehrfach mit Episoden, die er in seiner unnachahmlichen Art zum Besten gibt, und trägt seine Kochjacke von damals mit dem aufwendigen und selten bunten Aufdruck aus den Zeiten der Ente im Lehel.

Bevor der Abend allerdings so richtig an Fahrt aufnimmt, werde ich zunächst mal überaus herzlich begrüßt und von Alexander Winkler gleich in die Küche geführt, wo ich die beiden neuen Chefs zum ersten Mal kennenlerne. Hans-Peter Wodarz ruht sich zu diesem Zeitpunkt noch etwas aus, aber der anstehende Abend sollte ja noch genug Gelegenheiten für Konversationen bieten. Bis zum offiziellen Auftakt nimmt man bei Kaiserwetter Platz auf der berühmten Terrasse der Residenz mit dem plätschernden Brunnen und dem Paradeblick auf die noch verschneite Kampenwand unter einem strahlend blauen Himmel. Dazu gibt es einen Apéritif und die ersten Apéros wie Räucherlachs und Ceta-Kaviar in einer Tartelette, Krapfen mit Lardo oder leicht geschäumtes Kohlrabisüppchen mit Olivenöl – das Verweilen an diesem zauberhaften Ort wirkt bisweilen so als könnte man die Zeit einfach anhalten …

Als es offiziell losgeht, stellt Alexander Winkler zunächst seine Mutter Eva Winkler vor, die zuvor auch schon ihre Runde an den Tischen machte. Dann ist das kochende Trio an der Reihe:

Die Chefs Stefan Barnhusen (links) und Daniel Pape (Mitte)
mit Hans-Peter Wodarz, der den Sakko kurz darauf
gegen die Kochjacke von damals tauschte

Sie hatten ein Menü ersonnen, welches – dem Rahmen angemessen – erwartungsgemäß recht altmodisch gehalten ist und so einen Einblick in die Errungenschaften der Hochküche aus vergangenen Zeiten gestattet. Der Stargast hatte die Menüfolge zuvor schon komplett verkostet und teilte den anwesenden Gästen mit, dass aus seiner Sicht der zweite Stern schon bald wieder erreicht sein könnte. Das vorab im Internet veröffentliche Menü sollte allerdings noch eine weitere kleine Überraschung parat haben, auf die noch gesondert eingegangen werden wird. Die überaus feudal eingedeckten Tische im Venezianischen Salon, der immer noch das Herzstück der Residenz darstellt, schaffen jedenfalls eine Atmosphäre, die einen absolut würdigen Rahmen für dieses seltene Event darstellen.

Brot und Aufstriche sind relativ profan gehalten und angesichts einiger „Hindernisse“ wie Gläser gar nicht so leicht im Bild festzuhalten, weshalb ich gleich ganz darauf verzichte. So bekommt eben der erste Gang mehr Aufmerksamkeit: klassischer kann man die Entenleber kaum interpretieren, denn das Gericht mit dem frittierten Brioche und dem Parfait der Innerei wird auch durch die in der Mitte ausgestochene Form, welche der Leber Platz macht, nicht wirklich moderner. Die Beigabe von Feige, Feigenkompott und Feigensenf sowie einem Süßweingelée hat sich seit mehreren Jahrzehnten bewährt und wird durch einen ausgesprochen lieblichen Riesling (Piesporter Goldtröpfchen 2018er Auslese) vom Weingut Rösch entsprechend begleitet. Man fühlt sich um weit mehr als ein halbes Jahrhundert zurückversetzt, denn während das Handwerk an sich untadelig ist, wirkt es aus heutiger Sicht so wohltuend zu wissen, um wie viel variabler, weniger zuckerlastig und kreativer die Innerei inzwischen eingesetzt wird: wer es modern mag, der sollte unbedingt bei Thomas Schanz (dessen Lokal ja in Piesport und damit dem Herkunftsort des Rieslings zu diesem Gang liegt) vorbeischauen, während Claus-Peter Lumpp im Baiersbronner Bareiss im klassischem Sektor für mich derzeit das Maß aller Dinge in Deutschland darstellt.

Gegen diesen historischen Einstieg erscheint selbst der etablierte Klassiker Hummermedaillons mit Zitronengrassauce topmodern, denn die auf Winklers Cuisine Vitale basierende Kreation wirkt um so vieles leichter, bekömmlicher und transparenter – frei nach Winklers Diktum, dass Essen beflügeln und nicht belasten sollte. Des Meisters Vorliebe für glasigen, halbrohen Hummer in Form von Carpaccio tragen die beiden Chefs Rechnung und tasten lediglich die Sauce durch die Beigabe von etwas Chili an, die dadurch kein bißchen von ihrer eleganten Seidigkeit einbüßt. Heinz Winkler war ja weithin bekannt für seine exzeptionellen Saucen, wobei diese zu seinen berühmtesten gehörte: die ungeheuer sorgsam ausgetüftelte Balance von Fischfond, Sahne und Butter einerseits sowie der alkoholische Feinschliff mit Noilly Prat und Weißwein andererseits wird hier in mustergültiger Perfektion zur Schau gestellt. Das Handwerk, welches oftmals wesentlich komplexer geartet ist als es die Optik nahelegt, wird hier so mühelos kaschiert, dass die wunderbare Konsistenz des knackigen Krustentiers voll zur Geltung kommt und durch die hinreißende Sauce noch bereichert wird. Die Beigabe von leicht bitterem Frisée nimmt dem Gericht den letzten Rest von Schwere, so dass jeder Gast nach dem Verzehr versteht, warum dieser Gang ein Klassiker des verstorbenen Hausherrn war. Einfach superb!

Angemerkt sei, dass ganz gemäß alter Tradition die Weine an diesem Abend aus Flaschen mit mindestens anderthalb Litern Fassungsvermögen ausgeschenkt werden. Den Riesling zu Beginn gießt man aus einer Magnum (1,5 Liter), während zum nächsten Gang der 2019er Purus (Grüner Veltliner) vom Weingut Weszeli im österreichischen Kamptal aus der 3 Liter fassenden Jéroboam eingeschenkt wird.

Im sichtlich angetanen Publikum sitzt übrigens auch Michael Brandner, bekannt aus der Krimiserie Hubert ohne Staller. Wie man sieht, hält die Prominenz auch in diesen schwierigen Zeiten weiter zu „ihrer“ Residenz und trägt auch auf diese Weise einen Hauch Nostalgie bei. Nostalgisch ist auch der nächste Gang, bestehend aus Steinbutt und leicht säuerlicher Kaviar-Hollandaise, die zusätzlich mit Schnittlauch verfeinert wurde. Dem saftigen, vor Geschmack strotzenden Plattfisch bleibt genügend Raum, um seine Qualitäten voll auszuspielen, während die Garnitur mit Erbsen, rotem Rettich und essbaren Blüten schwerlich an einem „normalen“ Abend so auf den Teller gelangen würde. Angesichts der besonderen Umstände macht aber auch diese aus heutiger Sicht ziemlich einfallslos und brav anmutende Beilage durchaus Sinn, denn vor der Entwicklung der Nouvelle Cuisine wussten selbst die besten Chefs zum Teil erschreckend wenig über die Vielseitigkeit von Gemüse. So geriet die Garnitur oftmals zu einem bedeutungslosen Begleiter, der bisweilen einfach nur den Teller auffüllte und kaum über eine Statistenrolle hinauskam.

Nun ist es jedoch Zeit für die eingangs angedeutete Überraschung, denn der Einschub vor dem Höhepunkt des Abends war im Vorfeld nicht annonciert worden: es handelt sich um das berühmteste Gericht des Stargasts, nämlich sein Dialog der Früchte. Es gehört zu den berühmtesten Kreationen der gesamten 80er-Jahre und wurde unzählige Male kopiert, zumal es nicht sehr schwer ist, diesen Einfall auf angemessenem Niveau nachzumachen: sechs bis sieben Obstsorten (können saisonal bedingt sein) werden einzeln fein püriert und durch ein Sieb gestrichen. Anschließend die Purées auf dem Teller verteilen und von unten mit der Hand gegen den Teller schlagen, damit sich alles verteilt und miteinander verbindet. Mit einem Holzstängel kann nach Belieben ein Muster erzeugt werden oder durch Beigabe eines Sorbets bzw. Beeren ein weiterer optischer und gleichzeitig geschmacklicher Effekt erzielt werden. Zweifelsohne hätte diesem Abend ein entscheidendes Element ohne dieses endlich mal erlebte Intermezzo gefehlt!

Dann ist es soweit: die Entenpressen aus dem Hause Christofle (welches auch die klassischen Käsewägen baut) werden zunächst zur Schau gestellt und erläutert. Nachdem die Ente im Ofen gegart und mit der Haut gebraten wurde, kommen in das Behältnis unter der Spindelpresse sowohl die Karkasse als auch die nach dem Filetieren übrigen Innereien der Ente. Durch das Auspressen entsteht eine Blutsauce, die anschließend mit Cognac, Butter und Entenleber gebunden wird – dies ist der Ursprung der Sauce Rouennaise. Ihren Namen verdankt sie Rouen, der zweitgrößten Stadt der Normandie, wo diese Methode zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde. Fraglos gehört diese Sauce zu den aufwendigsten und anspruchsvollsten Disziplinen auf diesem Gebiet überhaupt, denn typischerweise wird so manches Enten- oder Wildgericht erst durch die Beigabe dieser kongenialen Sauce abgerundet. Ich entsinne mich noch des Hauptgangs „Blueberry Hill“ von Christian Jürgens, der einen geschmorten Rehrücken lediglich mit etwas geschmolzener Blutwurst und Blaubeeren bedeckte, um diesen dann auf der allervorzüglichsten Sauce Rouennaise zu betten. Ähnliches darf man an diesem Abend wohl auch erwarten …

Der in der Saucière aufgefangene Extrakt wird wie oben geschildert gebunden und rundet den Hauptgang final ab. Natürlich dürfen die anwesenden Gäste sich auch selbst mal an der Presse versuchen, um festzustellen, dass nach einem leichten Auftakt schon bald viel mehr Kraft aufgewandt werden muss, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen.

Zum Hauptgang gibt es – na klar! – Ente à la mode „Tour d’Argent“ mit gleich dreierlei Spargel (grün, weiß und wild). Die deutlich unterschiedliche Konsistenz jeder Sorte bereichert das Gericht, dessen Mittelpunkt natürlich die Tranchen der Ente darstellen, ungemein. Die absichtlich ungleichmäßig rosa gebratene Ente schmeckt wunderbar zart und überzeugt durch ihre nicht zu festfleischige Konsistenz, doch auch das reizende Küchlein von Entenklein (ein frühes Beispiel für Nachhaltigkeit?!), die Spinatcrème, auf der die Tranchen ruhen, und die Kräuterseitlinge erweisen sich als aussagekräftige Begleiter mit wunderbar harmonischen Aromen. Natürlich würde diesem absolut hervorragenden Teller etwas fehlen, wenn nicht das Ergebnis der gemeinschaftlichen Anstrengungen noch auf den Teller gelangen würde: die Sauce Rouennaise schmeckt erwartungsgemäß herb und leicht bitter, aber zugleich ungemein aristokratisch. Für weniger erfahrene Esser stellt dies in jedem Fall ein Ausnahmeerlebnis dar, aber selbst der Stargast und ich sind spürbar angetan von soviel stilsicherer Exzellenz und hinreißendem Handwerk. Ein ganz großer Wurf und zugleich eine beeindruckende kulinarische Visitenkarte der beiden neuen Chefs!

Die größte Bouteille des Abends ist die 12 Liter umfassende Flasche namens „Balthasar“, die so schwer ist, dass sie auf einem Wagen an den Tisch geschoben wird. Der 2008er La Tarabelle von der Domaine Comte de Thun ist ein trockener, aber ausgesprochen körperbetonter Syrah, der vollendet zu diesem Hauptgang passt. Auch hier hat man sich nicht lumpen lassen!

Geradezu avantgardistisch wird es beim Käsegang, der in puncto Stilistik deutlich mit den bisherigen Darbietungen fremdelt. Dabei wird der Comté nicht nur geschäumt, sondern auch als hauchdünne, frittierte Scheibe auf Kartoffelmousseline gebettet, die noch mit Schnittlauch in Pulverform ansprechend und mit deutlichem Mehrwert veredelt wird. Die Mousseline ist geschmacklich dicht und von der Konsistenz her irgendwo zwischen einer Suppe und einer Sauce angesiedelt – die beiden Messlatten Joël Robuchon und Hertog Jan bleiben unerreicht, doch auch so überrascht der moderne Gang vor allem im Hinblick auf die Präsentation, der so überhaupt nichts Antiquiertes anhaftet …

Quasi zum Ausgleich führt die Reise beim Dessert abermals zurück in längst vergangene Zeiten: das Dessert rund um Schokolade, Aprikose und Mandel passt fraglos zum besonderen Anlass, wirkt ansonsten aber wie aus der Zeit gefallen: die meist zuckerlastigen und oft schwer verdaulichen Ausklänge jener Jahre (eine änhliche Erfahrung machte ich in der Auberge de l’Ill, wo man mir eines der gehaltvollsten Desserts aller Zeiten servierte) sind heutigen Vorstellungen praktisch diametral gegenüber positioniert und lassen erahnen, welche heute selbstverständlichen Techniken damals noch gar nicht bekannt waren. Die Küchlein aus Schokowürfeln (einem Brownie nicht unähnlich) sind mit filetierter Aprikose belegt und werden von einem Aprikosensorbet flankiert. Gebettet wird das simpel gestrickte Dessert auf einer massigen Mandelganache, die der Mehrzahl heutiger Gourmets sicherlich zu gehaltvoll erschiene. Der 2021er Goldmuskatelller Passito „Baronesse“ von der Kellerei Nals Margreid in Südtirol aus der Impériale mit einem Inhalt von 6 Litern ist ein ähnlich süßlicher Dessertwein wie das Piesporter Goldtröpfchen zu Beginn. Die abschließend gereichten Petits fours am Ende dieses langen Abends sind ziemlich banal und werden nicht abgelichtet, zumal meine gesamte Aufmerksamkeit ab sofort praktisch Hans-Peter Wodarz gilt.

Die ausgiebigen und erhellenden Gespräche gehen gut und gerne eine Stunde lang und führen in mir zu neuen Einsichten und Erkenntnissen en masse – fraglos eine bereichernde Erfahrung für mich! Den obligatorischen Fototermin gibt es natürlich auch noch, wobei Alexander Winkler den Ernst des Abends mit der Medaille des Ordre des Canardiers um seinen Hals unterstreicht.

Ich weiß bis heute nicht genau, woher mich Hans-Peter Wodarz schon kannte, aber bezüglich meiner Erwartungen hätte dieser Abend kaum besser verlaufen können. Schon zutreffend, es gab extrem museale Gerichte wie die Gänseleber oder das Dessert, welche einem bisweilen aufzeigen, dass das Diktum von der „guten, alten Zeit“ nicht immer nur positiv konnotiert sein muss. Es ist auch schwer vorstellbar, dass die beiden neuen Chefs diese Teile des Menüs an einem normalen Abend derart altmodisch interpretieren würden, weshalb dies eher als nüchterne Feststellung denn als Kritik zu verstehen ist. Die vorliegende Speisenfolge wird es in dieser Form ohnehin nicht wieder geben, weshalb an dieser Stelle lieber nochmals die wirklich gelungenen Highlights wie der Hummer, der Steinbutt und der Dialog der Früchte hervorgehoben seien. Der unangefochtene Höhepunkt war selbstredend der Hauptgang, der dieses Prädikat fraglos zurecht trug. Auch heute wird eine Sauce Rouennaise kaum anders hergestellt, selbst wenn die Entenpresse dafür kaum mehr zum Einsatz kommt; an diesem Abend wurde somit eine Tradition zelebriert, die im Grunde genommen bis heute Fortbestand hat.

Mindestens genauso großen Anteil am Gelingen des Abends hatte Hans-Peter Wodarz: die weit mehr als vier Dutzend Gäste genossen seine Ausführungen sichtlich und hatten an diesem Abend fraglos ihren Spaß. Heinz Winkler hat es von seinem Logenplatz im Himmel aus ganz bestimmt gefallen zu sehen, dass das langjährige Ritual des Abends „Canard à la presse“ weiterhin gepflegt wird und einmal pro Jahr ein besonderes Event im kulinarischen Kalender der Residenz darstellt. Es wird spannend werden zu verfolgen, wohin Markus Pape und Stefan Barnhusen den wuchtigen Dampfer in der Zukunft steuern, aber mit dieser kulinarischen Visitenkarte haben sie jedenfalls bewiesen, dass sie das französische Fundament der Küche voll respektieren und sicher handhaben.

Ente gut, alles gut!