„In Preußen gibt’s noch Patrioten. Dort sind sie aber auch am nötigsten. Nur Patrioten und Philosophen dorthin, so soll Asien wohl nicht über die Grenzen von Kurland vorrücken.“ (Georg Christoph Lichtenberg)
UPDATE (September 2021)
Nein, die Berliner Spitzengastronomie ist nicht gerade dafür bekannt, dass die Mehrzahl ihrer Köche zu den Leisetretern ihrer Zunft zählt. Auch der „Kreuzberger Junge“ Tim Raue ist alles andere als ein schüchterner und zurückhaltender Zeitgenosse, doch tanzt er unter all den Köchen, die sich sonst so regelmäßig im Fernsehen selbst produzieren müssen, in einer Hinsicht ganz klar aus der Reihe: während landläufige Namen wie Klink, Schuhbeck, Lafer, Henssler und Mälzer bestenfalls nur durchschnittliche Sterneküche oder gar ein Niveau darunter anbieten, muss Tim Raue zu den besten Köchen der Republik gezählt werden. Da wäre zum einen seine ständige Nominierung auf der renommierten und wegen seiner Praktiken leider genauso umstrittenen Pellegrino-Liste „50 Best Restaurants of the World“, aber zum anderen eben auch die Tatsache, dass alle Profiguides mindestens die dritthöchste Wertung vergeben.
Lichtenbergs Eingangszitat stammt natürlich aus einer anderen Zeit und scheint eine gewisse Angst vor asiatischen Einflüssen erahnen zu lassen – wer schon einmal Park Sanssouci in Potsdam besucht hat, der kann bestätigen, dass das Chinesische Haus ein gutes Beispiel für den asiatischen Einfluss auch schon im 18. Jahrhundert darstellt. Das überschaubare Angebot an Hochküche in Potsdam ist eher klassisch geprägt – dabei würde ein derartiges, asiatisches Spitzenetablissement natürlich auch dem damaligen Zentrum preußischer Macht gut zu Gesicht stehen. Angst vor Tim Raues Küche braucht nun wirklich keiner zu haben, denn die handwerklich auf den Punkt gebrachten Kreationen überfordern niemanden.
Apropos Überforderung: der wahnsinnig romantische Hinterhofeingang (siehe Foto) tarnt auf vortreffliche Weise, welches Refugium sich dahinter verbirgt. Auch ich erinnere mich noch noch lebhaft an meinen ersten Besuch vor sieben Jahren, als ich den Eingang lange Zeit vergeblich suchte. Dabei gehört ein solch nichtssagender oder gar schäbiger Eingang für die meisten Berliner Lokale doch inzwischen sogar schon zum guten Ton! Der Eingang zum Sternerestaurant Cookies Cream beispielsweise führt ebenfalls durch einen Hinterhof, vorbei an Mülltonnen und versteckt im hintersten Winkel. Bei Tim Raue prangt hingegen ein freches Müllsack-Bild an der Wand – wer eine Etage tiefer die Toilette aufsucht, findet dort nicht mehr das lichte Ambiente und das Preußisch-Blau des Erdgeschosses vor, sondern eine wirklich knallbunte Lounge-Atmosphäre, die man einmal erlebt haben sollte. Urban, modern, provozierend – das ist eben heutzutage der Standard in Berlin!
Die Küche hingegen folgt einer genuin asiatischen Stilistik und bringt das Beste aus Japan, China, Thailand und Vietnam auf den Teller. Die allermeisten Gerichte sind hier zwar sparsam portioniert, entpuppen sich aber trotz ihrer leichten Fassbarkeit und auch Verdaulichkeit meist als Umami-Bomben ersten Ranges, die durchaus fordernd geraten können. Dennoch sind sich die meisten Gäste einig, dass dies möglicherweise das beste asiatische Restaurant der Welt außerhalb Asiens sein könnte. Nach dreieinhalb Jahren, in denen sich bis auf den Abgang von Sommelier André Macionga nur wenig geändert zu haben scheint, ist es also mal wieder höchste Zeit für eine Bestandsaufnahme. Außerdem erhoffen wir uns vom ersten abendlichen Besuch hier ein noch aussagekräftigeres Urteil als beim Mittagessen. Legen wir los!
Die Entscheidung zwischen den zwei Menüs Koi und Kolibri fällt nicht leicht, da erstgenanntes Menü eher den aktuellen Stand wiedergibt, während letzteres etwas konservativer gerät und teils langjährige Klassiker auffährt – trotzdem sind beide Menüs siebengängig und jeweils mit € 208 bepreist. Eine Entscheidung muss aber nun einmal her, so dass wir uns schweren Herzens für die Kolibri-Variante entscheiden und gespannt der Dinge harren, die uns in den nächsten Stunden erwarten.
Los geht es wie immer mit einem ausladenden Bouquet an kleinen Gaumenkitzlern, die die Philosophie des Hauses gut widerspiegeln: fast keine Kohlenhydrate, Konzentration auf das Wesentliche und keine Angst vor angemessener Schärfe. Wir staunen (im Uhrzeigersinn, beginnend bei 7 Uhr) nicht schlecht über Portulak mit Crème fraîche, karamellisierte Walnüsse, den klassischen Schweinebauch mit Sesam und Chili, dann Pulpo, gefolgt von Grapefruit mit einer Art Meringue obenauf und Zuckerschote mit Edamame. Der genaue Inhalt des säuerlich-würzigen Schälchens in der Mitte entging mir leider akustisch, doch auch so machte dieser fraglos sehr sauber gearbeitete und vielfältige Einstieg wieder einmal gehörig Eindruck. Der Quitten-Secco aus dem Hause Ellwanger rundet diesen kleinen Rundgang durch ganz unterschiedliche Aromenwelten gekonnt ab und stimmt prickelnd auf einen hoffentlich gelungenen Abend ein. Stark!
Fast schon ungewöhnlich viele Komponenten für diese Küche vereint der erste Gang in sich: Imperial Gold Kaviar thront auf einem Tatar von Hamachi, welches federleicht von Crème, Öl und Milch von der Mandel umspielt wird. Die hellgrüne Fabre rührt von einer Tellersülze aus Gurken her, während Eisenkraut und Dillblüten dem Gang den letzten aromatischen Feinschliff verpassen. Dieses kompakte Aromenpaket kommt ganz ohne Chichi aus und setzt stattdessen auf großen Geschmack. Warum auch nicht? Dezente Schärfe, belebende Säure sowie die Jodigkeit des luxuriösen Kaviars gehen hier eine praktisch perfekte Liaison ein und machen aus diesem Einstieger ein kleines, aromensattes Meisterwerk wie es für dieses Haus kaum typischer sein könnte. Das lässt sich gut an! Dass man zu diesem Gang allerdings zwecks Verzehr einen rosafarbigen Plastiklöffel bereit stellt, empfinden wir dagegen als krampfhaft provokativ. Zum Glück bleiben weitere derartige zweckfreie Spielereien im Laufe des Abends aus …
Ähnlich bekömmlich bleibt das Mahl auch bei Ikarimi Lachs mit Tomate und Sternanis, doch bescheidener könnte dieser Gang kaum gestaltet sein. In Wirklichkeit entpuppt sich dieser Teller als der stärkste des gesamten Abends, denn allein das in Öl confierte Filet, das auf einem gut versteckten Süsskartoffelpüree mit einer Prise Estragon gebettet ist, muss schlicht und ergreifend als traumhaft bezeichnet werden. Dennoch wäre dieser Gang ohne den gebutterten und höchst vielschichtigen Tomatensud (der mit Reisessig veredelt wurde) und das Tomatenkompott mit Anis nicht halb so attraktiv. Wir sind regelrecht ergirffen, mit welcher Perfektion hier aus ultimativer Schlichtheit ein denkwürdiges Gericht gezaubert wurde.
Auch der im Ofen gegarte Kaisergranat bekommt lediglich etwas Crème von Kohl, Wasabi, Mayonnaise sowie ein Nuc-Man-Dressing mit Mango und Koriander ab. An der mustergültigen Konsistenz des knackigen und glasigen Hauptdarstellers gibt es nicht das Geringste auszusetzen, und doch erweisen sich die falschen Blätter aus Wasabi und Limettensaft (wie stellt man so etwas überhaupt her?!) nicht nur als die echten Hingucker, sondern auch als eine aromatisch sinvolle Bereicherung ersten Ranges. Ihre leichte Süße verleiht dem schlicht inszenierten Gang weitere Komplexität ohne dabei das transparente Aromengeflecht im Geringsten zu stören. Auch das vermag uns absolut zu überzeugen.
Dim-Sum-Reisteig mit schwarzem Trüffel und marinierter Topinambur schlägt hingegen deutlich kräftigere, fast schon herbstlich anmutende Töne an. Entenbrühe und Nussbutterschaum stellen das aromatische Fundament dieses Gangs der, der nicht nur ausgesprochen süffig gerät, sondern auch einen enormen Tiefgang durch seine prägnante Erdigkeit und seine aromatische Dichte erzielt. Ein reizender Einfall ist der Gedanke, dem Gericht mittels Piemonteser Haselnüssen neben wohltuendem Biss noch eine ganz leichte Süße zu verleihen, die ein ohnehin schon facettenreiches Gericht würdig abrundet.
Eine Eingebung ist die Begleitung des Wagyu, doch dazu gleich noch mehr. Das unwahrscheinlich mürb geschmorte Bäckchen von Wagyu weist natürlich keine Marmorierung auf, belegt aber eindeutig, dass nicht nur die üblichen Teile des Tieres gewinnbringend genutzt werden können: sein Geschmack ist grandios und hätte sogar ohne den begleitenden Beeftea mit Orange und Sternanis, Trevisano-Püree sowie dem gerösteten Quinoa seine volle Strahlkraft erlangen können. Dennoch nimmt man dies sehr gerne zur Kenntnis, zumal die Begleitung auf der linken Seite qualitativ dort weiter macht, wo man zuvor rechts aufgehört hatte: das filigrane Konstrukt aus Papaya, Kumquats, Kürbispüree und Kurkuma tritt als formvollendeter Begleiter auf, der mit seiner Diversität den Hauptdarsteller umschmeichelt. Fraglos der zweite Höhepunkt des Abends!
Für die Mehrzahl der Gäste (uns eingeschlossen) wäre ein Besuch hier ohne den Klassiker Peking-Ente Interpretation Tim Raue einfach unvollständig, selbst wenn dafür ein geringer Aufpreis zu berappen ist und der Gang meist leichten Modifikationen unterworfen ist. Beständig bleibt die Tatsache, dass dieses Signature Dish stets als Trilogie interpretiert wird und das ganze Potential, das dem Gericht innewohnt, demonstriert. So auch diesmal: der erste Teller besticht mit einer Terrine von der Entenleber, die mit gezupftem Salat von Entenfleisch, Kopfsalat, Gurke, Lauch und Ingwer umspielt wird. Die süßlich-herbe Auslegung der Terrine gefällt uns gut, da die Cremigkeit der Leber und die vegetabilen Begleiter stimmig miteinander harmonieren und alles andere als eine routinierte Darbietung darstellen.
Der mittlere Teil besteht aus einem Sud von der Entenkarkasse mit Zitronenblatt, Eierstich (Chawanmuschi), Entenklein, Bambuspilzen, Wintermelone, Staudensellerie und Schnittlauch-Öl. Die herzhafte Würze dieses harmlos anmutenden Schälchens kaschiert gekonnt, welch gigantischer Aufwand hinter dieser opulenten Entenbrühe steckt.
Der letzte Teil schließlich stellt Entenbrust in den Mittelpunkt und umspielt diese mit Jus von Entenfüßen (Sachen gibt’s …), Crème von Pfannkuchen (hinten links) und Apfelkompott mit Lauch (hinten rechts). Fraglos rechtfertigt der Geschmack das aufwendige Prozedere, doch allen kopierfreudigen Enthusiasten sei hier ein Wort der Warnung ausgesprochen: in Tim Raues Kochbuch findet man zwar das Rezept zu diesem Gericht, doch der immense Aufwand muss meiner Meinung nach selbst ambitionierte professionelle Köche an den Rand ihrer Fähigkeiten (und Nerven!) bringen. Amateure lassen am besten gleich ganz die Finger davon und kehren stattdessen hier ein, damit man vom Meister das fertige Endergebnis demonstriert bekommt. Klarer Fall: lieber verzehren als selbst zubereiten!
Mut zur Schärfe beweist die Küche auch beim Pré-Dessert, denn das Feigenbaiser obenauf verschleiert den wahren Gehalt dieses (schon so an den Tisch gekommenen und bewusst in zerbrochener Form inszenierten) Gangs: wer erst einmal das Sake-Eis, den Gurkenschaum und insbesondere den Sellerie darunter entdeckt, dem wird die Außergewöhnlichkeit dieses Einschubs schnell bewusst. Das ausgelassene Spiel um Konsistenzen und Temperaturen gelingt ausgezeichnet, doch gleichzeitig ist dies für meine Begriffe der Gang, der dem geneigten Gast angesichts seiner fordernden Intensität und seiner Würze am meisten abverlangt.
Mit dem offiziellen Dessert fällt das Niveau ganz zum Schluss ein wenig ab, denn verglichen mit früheren Beiträgen kann mich dieser Ausklang nur bedingt überzeugen: der Koi-Karpfen aus „blonder“ Dulcey-Schokolade (Valrhona) ist mit einer Cheesecakemousse und einer gesalzenen Karamellbutter gefüllt. Das Yuzu-Sorbet links steht auf etwas Crunch von Dulcey und bekommt noch koreanische Zitronenkonfitüre mit Limettenkresseblättern zur Seite gestellt. Ich kann nicht verhehlen, dass einige der begleitenden Komponenten nichts Wesentliches zu diesem Teller beitrugen und der Gehalt an Süße nicht ausreichend durch die Säure der Yuzu kompensiert wurde. Insgesamt wirkte das simpler gestrickt als manch anderes Dessert hier, doch die Rechtfertigung dafür blieb im Hinblick auf die zu eindimensionale Süße aus – so fiel der offizielle Ausklang im Vergleich zur übrigen Menüfolge doch etwas ab. Schade drum!
Originell wurde es jedoch nochmals bei den praktisch komplett in Grün gehaltenen Petits fours: links Pâte de fruit aus Melone und Basilikum, in der Mitte ein Bergamotte-Gelée und rechts Pralinen aus Kardamom und Kokos – ein kreatives und augenzwinkerndes Ende eines über weite Strecken imponierenden Abends.
Der Kreuzberger Großmeister gehört zu den umtriebigen Vertretern seiner Zunft und hat schon in der Vergangenheit – mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg – die eine oder andere Dépendance in der gesamten Republik eröffnet. In seinem Stammhaus isst man jedoch fraglos am besten, denn hier gibt es nicht nur die besten Arbeitsbedingungen, sondern auch die größte Menge an Klientel, die bereit ist, im Sinne des maximalen Genusses den Preis für den geleisteten Aufwand zu bezahlen. Wo andernorts Sparzwänge den Inhalt von so mancher Speisekarte maßgeblich mitgestalten, so muss man sich hier definitiv keine Sorgen vor solchen Erscheinungen machen. Einen Tisch zu bekommen ist bei geringem Vorlauf in der Tat kein ganz leichtes Unterfangen mehr, denn längst haben sich die Qualitäten dieses Lokals auch bei internationalen Gästen herumgesprochen. Dieses urban-moderne Lokal am Checkpoint Charlie hat schließlich neben der herausragenden Küche auch noch ein nüchternes Flair, das dem Zeitgeist huldigt und vielen Gästen die Scheu davor nimmt, nur in entsprechender Garderobe ein derartiges Lokal aufzusuchen – wenig überraschend gestaltet sich der Altersdurchschnitt des Publikums hier um einiges jünger als anderswo üblich. Einen nicht unerheblichen Anteil an diesem Ambiente hat auch die junge Servicetruppe, die trotz des Abgangs von Maître André Macionga ihren betont lässigen, aber jederzeit kompetent anmutenden Job verrichtet.
Dass die Küche in den meisten Fällen trotz immensen Aufwands leicht zugänglich bleibt, erweist sich als weiterer Trumpf des Hauses. In ihren stärksten Momenten punktet Tim Raues Küche mit aromensatten Gerichten von teils ergreifender Schlichtheit, mit bekömmlichen Kreationen bei gleichzeitig beachtlichem Tiefgang, mit unverfänglicher Heiterkeit bei der Gestaltung der Teller und schließlich mit einfach großem, unverfälschtem Geschmack. Dennoch würde ich dieser Küche nicht wie der Gault&Millau die Höchstnote verleihen (die in diesem Guide derzeit nur sechs Köche in der Republik haben), weil in seltenen Fällen (wie beim Dessert) nicht alles immer gleichermaßen durchdacht wirkt und die eine oder andere Spielerei davon abzulenken scheint. Freilich handelt es sich dabei nur um vereinzelte Ausrutscher, die den Gesamteindruck nur geringfügig trüben und die durch das geschärfte und unverwechselbare Profil dieser Küche weitgehend aufgefangen werden. Weiteren Besuchen meinerseits steht auch angesichts fairer Nebenkosten kaum etwas im Wege, wenngleich das Mittagsmenü (derzeit nur freitags und samstags) bei praktisch gleicher Qualität um einiges erschwinglicher gerät und daher noch stärker empfohlen sei.
Mein Gesamturteil: 19 von 20 Punkten
Restaurant Tim Raue
Rudi-Dutschke-Straße 26
10969 Berlin
Tel.: 030/25937930
www.tim-raue.com
Guide Michelin 2021: **
Gault&Millau 2021: 19,5 Punkte
GUSTO 2021: 9,5 Pfannen
FEINSCHMECKER 2021: 4,5 F
7-gängiges Menü „Kolibri“: € 208
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Mai 2018
Es ist noch keine zehn Jahre her, dass Berlin für ehrgeizige Gourmets eine weitgehend entbehrliche Adresse darstellte. Die im kulinarischen Dornröschenschlaf befindliche Hauptstadt wurde dann alsbald von einer Welle erfasst, in der viele junge kreative Köche neuartige Konzepte entwarfen, um aus der Hauptstadt eine kulinarische Visitenkarte zu machen, die sich zehn Jahre später wahrlich sehen lassen kann. Heute reicht die stilistische Bandbreite von Klassik bis Avantgarde und das Interieur von edlen Speisezimmern (Lorenz Adlon Esszimmer) bis zu ehemaligen Produktionshallen in Fabriken (reinstoff). Wie man sieht hat sich Berlin durchaus nicht zu seinem Nachteil gemausert und offeriert heute nun eine ganze Palette der unterschiedlichsten Restaurants mit stark individuellem Charakter, der gegen den Mainstream gebürstet ist und immer wieder neue Trends zu setzen versteht.
Einen Steinwurf vom Checkpoint Charlie in Berlin-Kreuzberg entfernt gibt es ein solch außergewöhnliches Lokal, das es selbst mittags in aller Regel schafft, alle Plätze belegen zu können. Das Restaurant Tim Raue, das nach seinem Chefkoch benannt ist, erfreut sich eines ungewöhnlichen Rufs und lockt jede Menge internationales Publikum in das Lokal. Und dann diese Überraschung für alle Neulinge …
Ja, dieser nichtssagende und alles andere als einladend wirkende Eingang (siehe Foto) führt tatsächlich zu einem Restaurant, das in der (zugegebenermaßen hochgradig umstrittenen) San-Pellegrino-Liste der 50 Best Restaurants in the World im Jahre 2017 auf Rang 48 geführt wurde. Chefkoch Tim Raue, der inzwischen zwei weitere Dépendancen in Berlin (eine davon, das Sra Bua, befindet sich im Hotel Adlon) sowie eine Brasserie in Konstanz eröffnet hat, steuert hier sein Flaggschiff. Die vordere Front des Lokals zur Straßenseite hin ist so unscheinbar, dass praktisch jeder Erstbesucher fast zwangsläufig daran vorbeischlendert, ehe er dessen gewahr wird, dass der Eingang zum Lokal durch einen schäbigen Hinterhof führt. Da dies mein dritter Besuch war, wusste ich zwar Bescheid, doch aufgemotzt wurde der Eingang gegenüber früheren Tagen auch nur durch ein mit Graffiti besprühtes Originalsegment der Berliner Mauer. Außerdem prangen zwei unscheinbare Michelin-Sterne an der Wand sowie die bereits oben erwähnte Auszeichnung – ansonsten deutet aber auch gar nichts darauf hin, welch kulinarischer Sesam sich hinter der weißen Tür rechts im Bild offenbart.
Die Bewertung des Lokals unter Gourmets ist einigermaßen umstritten, denn manche sehen in diesem Lokal das weltbeste asiatische Restaurant außerhalb Asiens (Gault&Millau) oder einen Kandidaten für den dritten Michelin-Stern, während andere ihm zwar Spitzenniveau, aber doch nicht Weltklasse-Format bescheinigen (Guide Michelin, Gusto und DER FEINSCHMECKER).
Das Interieur des Lokals ist angenehm dezent gehalten. Klare Kanten in den Farben weiß, türkis und preußisch-blau lassen eine sachliche und schnörkellose, aber keinswegs kühle Atmosphäre aufkommen. Andererseits gibt es ein unartiges, überdimensionales Müllsack-Gemälde an der einen Wand, während an der gegenüberliegenden zwei Portraits im Pop-Art-Stil prangen. Auch das ist eben Tim Raue: sein Lokal gibt sich eher bescheiden puristisch und ließe vielleicht auf einen Leisetreter seiner Zunft in der Küche schließen, doch das genaue Gegenteil ist der Fall: Tim Raue tritt durchaus selbstbewusst auf, polarisiert durch sein Auftreten gehörig und gehört definitiv zu den umtriebigsten und PR-süchtigsten Vertretern seiner Zunft in Deutschland. Insofern drängt sich eine weitere interessante Parallele auf, denn das Lokal liegt in der Rudi-Dutschke-Straße. Der Bürgerschreck und Studentenführer der 68er-Bewegung war ja bekanntlich auch kein angepasster und bequemer Zeitgenosse gewesen …
Trotz aller Widersprüche fällt der Service dagegen keineswegs unangenehm auf: die durchweg jungen Kräfte mit dunkelblauen Polos sowie Hosen und Chucks gehen flink und aufmerksam zu Werke. Randnotiz: in all den Jahren ist es mir aber auch noch nirgends untergekommen, dass man hier sogar einen dreiwöchigen Praktikanten im Service einsetzt. Dieser agiert natürlich hin und wieder noch ein wenig unbeholfen, doch zumindest trägt man hier offenbar dem Nachwuchsmangel in der Gastro-Branche Rechnung. Sommelier und Restaurantleiter André Macionga hingegen trägt nicht nur Anzug, sondern auch Krawatte und Einstecktuch der feinsten Sorte. Seine Weinempfehlungen kommen durchweg gut an, was angesichts der Vielseitigkeit der Kreationen seines Chefs beileibe keine Selbstverständlichkeit ist. Dabei wird die gesamte Menüfolge trotzdem ohne einen Anflug von Hektik in lockeren anderthalb Stunden abgewickelt. Alle Achtung …
Das Mittagsmenü listet insgesamt 18 Gänge, aus denen bis zu sechs zur freien Auswahl stehen. Ich entscheide mich für zwei Vorspeisen, zwei Hauptgänge und zwei Desserts. Zum Einstieg gibt es langjährige Klassiker des Hauses: Schweinebauch mit Sesam in einer mit Chili verfeinerten Sojasauce, Pak Choi mit Limettenöl und einem Klecks Sauerrahm oder auch eine marinierte Senfgurke. Außerdem gesellen sich die karamellisierten Nüsse hinzu, die quasi die Brotauswahl ersetzen. Eine weiteren Gruß aus der Küche gibt es mittags jedenfalls nicht – aber auch so passt das Glas roter Traubensecco von Ashton Kelder gut dazu.
Makrele, Shiso und Ponzu als Einstieg gelingt trefflich: die in winzige Segmente geschnittenen und kreisrund angeordneten Stückchen von Makrele, Shiso und frittiertem Topinambur harmonieren prächtig mit dem kräftig-würzigen Ponzusud – Purismus und großer Geschmack müssen sich keineswegs ausschließen.
Weniger gefällt mir Dim Sum „Hühnerbrühe, Jakobsmuschel und Bambuspilz“. Die gedämpfte Jakobsmuschel ist bereits unangenehm weich in der Konsistenz und wenig geschmacksintensiv. Galgant und Selleriesegmente in der Brühe sowie der Schnittlauch, der die Muschel einwickelt, steuern gottlob intensivere Akzente bei, können aber nicht verhindern, dass dieses Gericht doch arg blass bleibt und in meinen Augen als eine der schwächeren Eingebungen des Chefs anzusehen ist.
Kalb, Erbse und 10 jahre altes Kamebishi-Sojaöl ist fraglos das beste Gericht des Tages. Der geschmorte Schweinenacken ist unbeschreiblich mürb und mit schwarzem Quinoa getoppt. Hochspannende Kontraste steuert das grüne Apfelgel bei, das erstaunlich gut mit dem Erbsenpüree kooperiert. Ein kleines Sellerieröllchen mit weiteren Apfelstückchen darin setzt dem wunderbaren Gericht die Krone auf, das auch in farblicher Hinsicht mit nur zwei Farben auszukommen versteht: Grün und Braun (sieht man vom Quinoa ab).
Peking-Ente „Interpretation Tim Raue“ ist das langjährige Signature Dish des Hauses, das allerdings immer wieder mal leicht modifiziert wird. Heuer war die Variante eine der weniger gelungenen: die puristisch mit etwas Haselnuss begleitete Tranche fiel nicht weiters durch überragenden Geschmack auf, während die Terrine von Entenleber insgesamt besser abschnitt. In der Brühe schließlich waren Innereien der Ente zu finden (Herz, Leber und Niere), die delikate Nuancen beisteuerten. Trotzdem denke ich mit Wehmut an meinen Premierenbesuch zurück, als ich von diesem Gericht regelrecht überwältigt war – eine Erfahrung, von der diese Variante doch ein gutes Stück entfernt war.
Yuzu-Käsekuchen und gesalzene Karamellbutter geriet zu einem Dessert in Fischform. Das Innere desselben war mit der Karamellbutter gefüllt und mit weißer Schokolade ummantelt, während der Käsekuchen separat auf dem Teller von allerlei winzigen Tupfen (z.B. Apfel) umspielt wurde. Der Aufforderung des Service, die Komponeten möglichst zu mischen, komme ich gerne nach und stelle dabei fest, dass dieses Dessert durchaus Überraschungsmomente offenbart und Originalität sowie Geschmack in angemessenem Verhältnis zueinander stehen. Trefflich gelungen!
Ein erstaunliches zweites Dessert war dann Kalapaia-Schokolade, Birne und Koji. Aus dem kreisrund angerichteten Türmchen ragten kleine Äste von geeister Schokolade heraus, während die übrigen Komponenten sich dicht gedrängt nebeneinander tummelten. Mir war es jedenfalls nicht möglich, alle Geheimnisse dieser Kreation zu enträtseln, die offenkundig wesentlich mehr Arebitsaufwand erforderte als man dies von der Optik her zunächst vermuten konnte. Auffällig war jedoch, dass die fehlende Süsse der Bitterschokolade aus Papua-Neuguinea offenbar auch für das ganze Dessert den Maßstab für die Aromatik dieses Ausklangs darstellen sollte. Mit anderen Worten: interessant allemal, aber selten habe ich ein derart herbes Dessert vorgesetzt bekommen. Auch die zum Schluss gereichten, mit Schokolade ummantelten Obststücke machten dort weiter, wo das Dessert zuvor aufgehört hatte.
Machen wir uns nichts vor: in den besten Momenten ist Tim Raue ein leidenschaftlicher und fraglos hochbegabter Meister seines Fachs. Das wissen auch andere Gäste, die scharenweise in sein Lokal von ganz weit her strömen, so dass bisweilen vom Service mehr Englisch als Deutsch in dem Lokal gesprochen wird. Raues Markenzeichen sind kräftige Aromen, die durchweg asiatisch inspiriert sind und in den besten Momente Allianzen entstehen lassen, die den geneigten Gast wahrlich in andere Dimensionen hieven können. Das alles habe ich selbst auch schon so erlebt, doch diesmal konnte die Menüfolge nicht ganz an die überragenden Leistungen der zwei vorausgegangenen Besuche anknüpfen – auch wenn das Ergebnis immer noch weit von einer Enttäuschung entfernt war und speziell der dritte Gang Raues Fähigkeiten in voller Blüte erahnen ließ. Ich möchte den aktuellen Eindruck daher nicht überbewerten, stelle aber auch fest, dass ich für diesen Besuch keine 19 Punkte, sondern nur 18 Punkte im G&M vergeben hätte. Speziell das etwas diffuse Aromenbild des Dim-Sum-Gerichts und die fehlende Aromentiefe bei der Peking-Ente überraschten mich doch ein wenig. Mit den zwei Michelin-Sternen ist das Lokal angemessen bewertet, denn das Potential für einen dritten Stern konnte ich – offen gestanden – noch nie hier ausmachen. Beim nächsten Mal wird es jedoch sicher wieder besser …