sein**, Karlsruhe

„Sein oder Nichtsein – das ist hier die Frage!“ (Hamlet in William Shakespeares gleichnamiger Tragödie)

Dezember 2023

Es ist kurz vor Heiligabend, aber es fühlt sich nicht so an – Tief Zoltan sorgt mit windigem und nasskaltem Schauerwetter für alles andere als weihnachtliche Stimmung. Es passt jedoch ganz gut zu dem eher spröden Charme, den das nicht sonderlich attraktive Wohngebiet ein paar Kilometer westlich der Altstadt von Karlsruhe vermittelt, welches ich durchstreife. Mein Ziel ist das Restaurant sein, das der vielleicht am wenigsten erwartbare Preisträger unter all den neuen Zweisternern des Jahres 2023 war. Dank dieses Erfolges von Chefkoch Thorsten Bender kann sich nun auch die badische Großstadt rühmen, erstmals in ihrer Geschichte ein Lokal mit solch einer Auszeichnung anbieten zu können. Vieles auf dem Weg dorthin und auch das Lokal selbst erinnert mich stark an Berlin, wo nach außen völlig unscheinbare Lokale in alles andere als glamourösen Gegenden ja inzwischen eher schon den Regelfall als die Ausnahme darstellen. Als ich vor dem sein stehe, stelle ich zwar einigermaßen erleichtert fest, dass die Fassade des kleinen Lokals nicht annähernd so schäbig wie bei vielen Berliner Lokalen ist, aber offenbar hat man sich ansonsten auch hier voll und ganz dem Understatement verschrieben. Jedenfalls scheint die Mehrzahl der wenigen Passanten noch keinerlei Notiz von dem unscheinbaren Restaurant genommen zu haben, das zusammen mit dem Mannheimer Opus V die kulinarische Spitze Nordbadens bildet. Da ich deutlich zu früh eintreffe und mir der Einlass erst um 12 Uhr gewährt wird, stelle ich beispielsweise fest, dass das nebenan gelegene und seit anderthalb Jahren geöffnete Bistro Margarete ebenfalls durchaus gehobene Kost zu fairen Preisen anbietet und sich nach außen hin um einiges auffälliger gibt. Eine absolute Premiere stellt auch die Tatsache dar, dass ich Thorsten Bender beobachte, wie er, kurz bevor es ernst wird, noch seinen Hund Gassi führt – wenn das eine entspannende Gegenmaßnahme zum nervenaufreibenden Job darstellt, dann soll es mir nur recht sein. Ob die Teller wohl davon profitieren können?!

Als es dann soweit ist, führt mich der herzlich agierende und durchaus lebhafte Service ohne Umschweife an meinen sorgsam ausgeleuchteten, blanken Holztisch. Das Ambiente ist insgesamt von dunklen Farben wie Grau und Schwarz dominiert, wirkt aber keineswegs abstoßend. In zwei Gasträumen von fast schon intimer Größe empfängt man selbst abends hier maximal 16 Gäste, doch wegen des attraktiven Angebots habe ich zur Premiere eine Visite zum Mittag vorgezogen: vier Gänge inklusive Wasser für € 100 stellen für eine Großstadt sicherlich einen fairen und vernünftigen Preisrahmen dar, wenn die Küche hält, was sie verspricht. Eine ganze Zeit lang sitze ich alleine in dem Gastraum, genieße die ziemlich entspannte Atmosphäre bei lässiger Jazzmusik und frage mich allerdings schon, ob es sich für die Betreiber wirklich rentiert, mittags in einem spürbar vom Zentrum entfernten Gebiet regelmäßig zu öffnen. Meine Bedenken zerstreuen sich im Laufe der nächsten Stunde schnell, denn nach und nach trudeln solange Gäste ein, bis das Lokal auf einmal doch komplett gefüllt ist. Offenbar scheint diese feine Adresse zumindest in der Region doch schon um einiges etablierter zu sein als ich es zunächst vermutet hatte.

Thorsten Bender ist trotz allem in der Branche erst seit Kurzem weithin bekannt, zumal die ganz großen Namen unter seinen Ausbildern und Stationen zuvor einfach fehlen. Obwohl er wohl schon als Kind davon geträumt hatte, Profikoch zu werden, traf er die Entscheidung, diesen Berufsweg einzuschlagen, erst nach einer abgeschlossenen Ausbildung zum Kaufmann, weshalb man hier wohl von einem Spätzünder sprechen darf – dem es als Vierziger nun doch gelungen ist, einen zweiten Stern zu erkochen. Mit anderen Worten: allzu viel Bemerkenswertes gab es in seiner Vita bisher noch nicht, aber das kann ja durchaus noch werden …

Zum Start reicht man jedenfalls ein erfreulich heißes Erfrischungstuch, was angesichts des Schmuddelwetters vor der Tür einen hochwillkommenen Einstieg darstellt. Der Service empfiehlt mir einen mit Tonic aufgegossenen Apéritif von Yuzu und Hibiskus aus dem Hause Dr. Jaglas. Da dieser Einsteiger sehr gut gelingt, mir aber der Hersteller bisher nicht geläufig ist, hake ich beim Service nach: die Berliner Apothekerfamilie hat sich als zweites Standbein auf die Produktion von hochwertigen Kräuterspirituosen spezialisiert und offeriert auch zwei flüssige Begleiter ohne Umdrehungen. Neben dem eingangs erwähnten Getränk werde ich im Laufe des Tages auch noch den San Limello, die alkoholfreie Variante eines Limoncello, verkosten. Apropos Berlin: wie in der Hauptstadt vielerorts üblich, duzt der Service den Gast auch hier, wenn dieser keine Einwände hat. Offenbar soll sich der Gast voll und ganz entspannen können, was zum Beginn schon mal mit Sicherheit zutrifft.

Den Auftakt bildet ein Reigen aus fünf recht unterschiedlich gestalteten Apéros, die offenbar die ganze Bandbreite des Schaffens von Thorsten Bender andeuten sollen: besonders interessant gerät das auch von anderen Lokalen her bekannte Ei, das hier allerdings mit einer ziemlich ungewöhnlichen Füllung aus Karotte, Minze, Ei, Raz el Hanout und Joghurtschaum aufwartet. Das erinnert von der Textur und vom Geschmack her an einen würzigen Coleslaw und ist sehr diffizil ersonnen. Ein Fagotini aus Kohlrabi mit einer von Reisessig veredelten Farce von Meerrettich und Wasabi entfaltet dabei ähnlich viel Kraft wie das säurebetonte Taco von Sauerkraut, Pico de Gallo und Chipotle (geräucherte Jalapeños). Ein erdiges Kontrastprogramm dazu bietet die Croustade mit einer Füllung von Blumenkohl, Laura-Kartoffel und Périgord-Trüffel obenauf, während die Tartelette von delikater Balance mit Frischkäse, Kimchi und Dashi asiatische Akzente setzt. Trotz der bemerkenswerten stilistischen Bandbreite zeugen sämtliche Petitessen von profundem Wissen rund um unterschiedlichste Techniken und sicheres Handwerk.

Ein euroasiatisches Duett geleitet sanft ins Menü hinüber, wenn eine Velouté mit feinen Noten von Orange im Verbund mit Buchenpilzen, Knoblauch und Miso ordentlich aromatische Spannung aufbaut. Ihr zur Seite wird eine japanische Chawanmuschi mit Haselnüssen, Schnittlauchsud und einer Trüffelvinaigrette gestellt, die aufgrund ihrer Reduktion ausgesprochen stilvoll auftritt und dank schöner Konsistenz sowie gedämpfter Intensität einen gelungenen Compagnon zur Velouté darstellt.

Beim Brot liebt man es hier eher herzhaft und rustikal: Bockshornkleebrot wird im Verbund mit Allgäuer Fassbutter, Olivenöl und Meersalz präsentiert und sorgt für ein abwechslungsreiches Begleitprogramm – was mir jedenfalls auch im Gedächtnis blieb, ist die skurrile Tatsache, dass ein Nachschlag bei der knapp bemessenen (und offenbar streng rationierten) Butter nicht möglich zu sein scheint. Nun denn …

Mit einer reduzierten und am Rande des Plakativen wandelnden Inszenierung läutet der in zwei Varianten interpretierte Atlantik-Taschenkrebs das Menü ein: in gezupfter Form dient er als Farce für das mit Mango ummantelte Cannelono, während sich auf einem roh marinierten Medaillon winzige Segmente von Jalapeño in einem Mangochutney verstecken. Zusammengehalten werden die beiden Ausführungen mit einem Thaibasilikumsud von animierender, aber nicht überdosierter Schärfe – ein Umfeld, in dem die Aromen deutlich und glasklar hervortreten dürfen. Dieses schnörkellose und aufs Wesentliche beschränkte Entrée punktet mit Einfachheit und einer klaren Struktur, die nichts verwischt – ein gelungener Auftakt!

Das optisch deutlich komplexere Arrangement rund um Island-Kabeljau bedient viele farbliche Schattierungen auf der Grauskala, gerät aber keineswegs fad. Im Gegenteil: der sanft gegarte Fisch wird von Streifen aus geschmortem Lauch und einer Julienne von Lauch mit schwarzen Périgord-Trüffeln dazwischen umspielt. Darf die Verjus selbst in Form von Espuma noch als vergleichsweise verlässlicher und bewährter Begleiter gelten, so kann dies von Nashi-Birne schwerlich behauptet werden. Erneut zeigt sich Thorsten Benders Gespür für trennscharfe Aromen und feine Harmonie in den schönsten Farben trotz recht greller aromatischer Kontraste. Die Tatsache, dass das Gericht bei der Ankündigung potentiell überfrachtet klang, tritt angesichts der gedrängten und sehr gelungenen Präsentation schnell in den Hintergrund. Vom Konzept her erinnert mich die mutige Kombination von Kabeljau und Nashi-Birne an ein Gericht vom ikonischen Landgasthof Adler in Rosenberg, wo Chefkoch Michael Vogel unlängst mit Zander experimentierte, indem er ihn kontrastreich mit Ananas und Kokos begleitete. Trotz der gelungenen Experimente liegt die größte Stärke dieses Tellers jedoch in seiner bemerkenswerten Transparenz, die es allen Viktualien gestattet, ihre Wirkung frei und ungehindert zu entfalten. Hinzu kommt die individuelle, hauchzarte Obstnote mit belebender Säure, die ein erneut ausgezeichnetes Gericht stimmig veredelt.

Geradezu ernst wird es dagegen zum Hauptgericht, denn bei Miyazaki Wagyu stellen Demut und Reinheit angezeigte Tugenden dar. Textur und mineralische Frische des kurz gebratene Striploin bewegen sich fast schon auf dem überragenden Niveau von Christoph Rainer im IKIGAI, während die Vorzüge des Fleischs in einer weiteren Auslegung nicht ganz so überzeugend zur Geltung kommen: geschmorte Schulter wird dafür etwas üppiger mit frittierter und cremiger Sellerie an Brokkoli, Papaya und Ingwer umspielt, wobei der geforderte Pursimus nie ernsthaft gefährdet ist. Die Rinderjus mit Szechuan-Pfeffer als stilechter Begleiter erfüllt ihre Aufgabe als verbindendes Element, ohne dabei das kreative, variable und ohne jede Allüren auskommende Arrangement zu kaschieren. Mit dieser überzeugenden Visitenkarte zum Hauptgang deutet die Küche jedenfalls souverän an, dass die Aufwertung auf zwei Sterne nicht umsonst erfolgte.

Das winterlich gehaltene Dessert drapiert einen von etlichen herben Chips umspielten Grießknödel auf Quittenchutney und einem Sud von Holunder. Die Quitte wird auch à part als Sorbet auf einem Crumble von Piemonteser Haselnuss interpretiert, doch unterm Strich ist dies wohl der schwächste Beitrag des Tages: bekömmlich und auch fehlerfrei umgesetzt gerät dieser Ausklang allemal, aber in Summe ist mir das trotz eher seltener Produkte für das Niveau von zwei Sternen etwas zu simpel gestrickt, zumal die Qualität der Viktualien diesmal schwerlich als herausragend zu bezeichnen war.

Ein ähnlicher Eindruck drängt sich mir auch bei den Petits fours auf, die vergleichsweise gewöhnlich geraten oder wegen anderer kleine Mängel nicht vollständig überzeugen können: Chaux au craquelin (Brandteigkrapfen) mit einer kompakten, aber nicht zu massigen Kaffeefüllung, Zartbitterkugel mit Yuzu sowie eine Haselnusscrème mit Krokanthülle halten das Niveau auf durchschnittlichem Level, während das Sauerrahmsorbet mit Honigchips so eiskalt gerät, das die Geschmackspapillen regelrecht betäubt werden und der Geschmack darunter massiv leidet. Alles in allem hatte dieser Ausklang leider nur wenig Bemerkenswertes zu bieten und rundete den ansonsten gelungenen Eindruck des Tages etwas unterkühlt ab. Da bleibt also noch am deutlichsten Luft nach oben.

Bislang flog das sein vermutlich unterm Radar der meisten Gourmets durch – den Schreiberling dieser Zeilen inkludiert. Mit der jüngsten Auszeichnung dürfte sich dies sprunghaft ändern, selbst wenn es hier aufgrund der Lage abseits vom Zentrum keine große Laufkundschaft geben dürfte; dennoch scheinen speziell abends die nur wenigen verfügbaren Plätze immer rasch ausgebucht zu sein. Vermutlich lockt das ungleich geräumigere Bistro nebenan deutlich mehr Gäste an, die sich nicht gleich trauen, in einer Stadt ohne große kulinarische Tradition auf dem Niveau von zwei Michelin-Sternen zu essen. Man würde ein solches Etablissement in einer solch nüchtern anmutenden Gegend auch schwerlich erwarten, doch offenbar eilt dem Lokal in einschlägigen Kreisen längst eine Reputation voraus, die für volle Gästebücher sorgt. Es wäre auch nicht verwunderlich, denn das in der Region fast schon konkurrenzlose Lokal punktet mit einer klaren Vision: Essen frei von Zwängen in einer fast schon heimeligen, wenn auch leicht dunklen Atmosphäre, das keine verkopften Herangehensweisen erfordert und auf schnörkellosen Genuss setzt. Unter der Woche offeriert das sein abends ein verkürztes fünfgängiges Menü zum Preis von € 140, womit offenbar kurz entschlossene Gourmets an den weniger attraktiven Werktagen unter der Woche geködert werden sollen. Mit diesem Ansatz hat Thorsten Bender offenbar schon dauerhaften Erfolg vorweisen können, selbst wenn der Aufwand in der Küche trotz der geringen Gästezahl hoch bleibt: um den Fokus auf die Küche nicht zu sehr schleifen zu lassen, scheint der Chef außer bei Stammgästen eher schmallippig aufzutreten und beschränkt sich auf das Wesentliche bei seinen Auftritten im Gastraum. Als gleichberechtigte Teammitglieder dürfen auch andere Köche Gerichte präsentieren oder überlassen diese Aufgabe eben Franziska Dufner, der umtriebigen Servicechefin des Hauses. Einen weiteren Pluspunkt stellen die fair bepreisten Getränke dar, die den Geldbeutel nicht allzusehr belasten.

Dass das sein fürs erste noch knapp an 18 Punkten in meiner Gunst vorbeischrammt, ist vor allem den etwas mauen Eindrücken zum Finale hin geschuldet, welches mit einem unerwarteten Spannungsabfall einherging und noch das größte Verbesserungspotential erkennen ließ. Schwer tue ich mich zwar auch, den Stil von Thorsten Bender klar zu umreißen, weil die einzelnen Gänge kaum gemeinsame Nenner aufwiesen, doch spielte dieser Umstand eine geringere Rolle bei meiner Urteilsfindung: es tat ihrer Qualität nämlich keinen Abbruch, zumal isoliert betrachtet praktisch jeder Beitrag mit Ausnahme des Desserts zu überzeugen vermochte. Außerdem möchte man es dem Chef, der für ihn selbst überraschend mit zwei Sternen ausgezeichnet wurde, kaum verdenken, dass er derzeit noch mit einigen divergierenden ästhetischen Ansätzen experimentiert, bevor er sich möglicherweise schon bald endgültig einer bestimmten Stilrichtung zuwendet. Die Urteile der anderen Guides klingen mitnichten so optimistisch wie die Auffassung des Guide Michelin, weshalb eine stärkere Fokussierung auf einen bestimmten Ansatz früher oder später durchaus anzuraten wäre. Damit muss beileibe kein Verzicht einhergehen auf all das, was Thorsten Benders Küche schon jetzt auszeichnet: kraftvolle und doch schnörkellose Gerichte rund um unterschiedlichste Luxusprodukte, die mit überraschenden Akzenten punkten und den spürbaren Mut erahnen lassen, Grenzen auch mal sanft zu verschieben und neu auszuloten.

Das charmante kleine Lokal lockt bevorzugt all jene an, denen etwas an casual fine dining liegt, da man hier ohne jede Steifheit oder korrekte Attitüde dinieren kann und Zeuge einer möglicherweise bislang unterschätzten Darbietung werden kann, die fraglos ihren Reiz hat. Wohin der Weg des Thorsten Bender führt? Eine gute Frage, deren Antwort momentan in den Sternen steht, doch am Ende der Entwicklung ist dieser Chef mit Sicherheit noch nicht angekommen. Wer hier einkehrt, hält es am besten mit Goethe: hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!

Mein Gesamturteil: 17 von 20 Punkten

 

sein
Scheffelstr. 57
76135 Karlsruhe
Tel.: 0721/40244776
www.restaurant-sein.de

Guide Michelin 2023: **
Gault&Millau 2023: 3 Toques
GUSTO: 8 Pfannen
FEINSCHMECKER 2024: 3,5 F

4-gängiges Mittagsmenü (inkl. Wasser): € 100