Söl’ring Hof**, Rantum (UPDATE)

„Wenn bange, unruhige und böse Gedanken kommen, so gehe ich ans Meer, und das Meer übertönt sie mit seinen großen, weiten Geräuschen, reinigt mich mit seinem Lärm und legt einen Rhythmus allem in mir auf, was verstört und verwirrt ist.“ (Rainer Maria Rilke)

UPDATE (September 2023)

Ein Besuch hier war eigentlich rund um den 21. Februar zur Biike, dem heimlichen Nationalfeiertag Nordfrieslands, fest eingeplant, aber Recherchen im Vorfeld hatten ergeben, dass das Haus in den ersten Monaten des Jahres 2023 einer gründlichen Renovierung unterzogen würde, die in einer neuen Reetabdeckung für das Dach gipfelte. Am Ende einer Wanderung über den Deich des Rantumer Vogelbeckens am Rosenmontag war nicht nur das stattliche Haus in der Ferne, sondern auch das fehlende Dach bereits gut zu erkennen. Meine Begeisterung darüber hielt sich natürlich in Grenzen, aber hätten das Bodendorf’s und das JM nicht auch geschlossen gehabt, dann wäre ich wohl nie im dänischen Syttende gelandet, wo der Abend zu einer echten Sensation geriet. Dann musste der Besuch in den genannten Lokalen eben warten …

So kreuze ich also am Ende der Sommerferien nochmals hier auf, um das leidige Versäumnis nachzuholen und mir einen frischen Eindruck von einem der ambitioniertesten Zweisterner der Republik zu verschaffen. Seit sich Johannes King hier vollständig zurückgezogen und seinem ehemaligen Souschef Jan-Philipp Berner das Ruder vollständig überlassen hat, weht buchstäblich eine frische Brise durch das noble Etablissement, das seit jeher zu den besten Adressen der Insel zählt. Johannes King selbst betreibt übrigens einen kleinen und gut frequentierten Genuss-Shop in Keitum, wo er hausgemachte Produkte verkauft und immer wieder auch seine Leidenschaft für Portwein in sehr gefragten Seminaren und Tastings auslebt. Er war übrigens Ende November als Gastkoch bei Jockl Kaiser in Nördlingen zu einem Four-Hands-Dinner eingeladen und trat mit Leichtigkeit den Beweis an, dass er nichts verlernt hat – Bericht folgt.

Der noch recht junge Jan-Philipp Berner ist sich der Tragweite seiner neuen Rolle als Chef, Gastgeber und Geschäftsführer voll bewusst – dass hier mittelfristig der dritte Stern angepeilt wird, steht für mich außer Frage. Im FEINSCHMECKER bekommt sein Lokal bereits die Höchstnote verliehen, doch auch die zwei Michelin-Sterne und 9,5 Pfannen im GUSTO sind nicht zu verachten. Nur der Gault&Millau agiert noch etwas zurückhaltender, weshalb mir sehr an einem eigenen Urteil gelegen ist. Natürlich stelle ich sicher, dass ich bei diesem Besuch sehr zeitig eintreffe, um mir an diesem Spätsommerabend ja den Platz auf der rückseitig gelegenen Million-Dollar-Bench zu sichern: dieser Blick über die Dünen hinweg auf das endlose Meer relativiert unsere Vorstellung davon, was wichtig ist und lässt die Zeit scheinbar stillstehen. Selbst der FEINSCHMECKER widmete dem Blick von dieser Bank vor ein paar Jahren ein doppelseitiges Bild in einer seiner Ausgaben, denn ein besseres Plätzchen zur Einnahme der Apéros ließe sich angesichts der leichten Brise, der angenehmen Temperaturen und der Aussicht kaum vorstellen …

Nach der Lektüre der Speisekarte entscheide ich mich für sechs Gänge des achtgängigen Menüs (€ 309) zu € 279 – eine preisliche Ansage, die für Sylter Verhältnisse recht typisch ausfällt. Nach dieser Wahl folgt wie auf Bestellung eine wunderbar norddeutsche Kreation mit Sorbet von Meerrettich, Houlndercrème, Süppchen von roter Bete samt Chip sowie ein aromatisch dichtes Pflaumenkernöl. Die genuin norddeutsch anmutende Aromatik erweist sich in ihrer Mischung aus Herbheit und Schärfe als ein willkommener Einsteiger ins Menü, der zwar markig gerät, aber trotzdem eine aristokratische Noblesse erkennen lässt. Die sorgsame Dosierung des Meerrettichs lässt den anderen Komponenten in diesem wunderbar transparenten Geflecht genügend Raum zur Entfaltung und überzeugt somit auf ganzer Linie.

Ich bin noch so von der zauberhaften Stimmung auf der Terrasse verzückt, dass ich glatt versäume, ein Foto des nächsten Beitrags zu machen – alles aber halb so schlimm, denn in optischer Hinsicht geriet er eher nüchtern. Jedenfalls handelte es sich um abgeflämmte Makrele in einem Kapuzinerkresse-Taco (das in Wirklichkeit nur aus einem dünnen Blatt bestand und zur Stabiliserung in einem tiefen Schälchen platziert war) mit essbaren Blüten und dünn gehobelten Champignons. Der lauwarme Fisch wirkte insgesamt recht massig, war aber trotzdem zurückhaltend in Szene gesetzt und harmonierte gut mit den weniger kraftvollen Elementen – ein origineller Einfall, dessen geschmackliche Langzeitwirkung aber nicht sonderlich nachhallte.

Die letzten drei Apéros wurden dann als Trio aufgetragen: oben schmeichelt klassisches Rindertatar vom holsteinischen Weiderind auf Knusperboden und Crème fraîche dem Gaumen – die etwas versteckte Kieler Sprotte sorgte dann aber doch noch für eine überraschende Wendung, die wunderbar funktionierte. Der Cracker zur linken ist opulent mit Kalmar (einem höchst seltenen Gast auf Speisekarten hierzulande), Bronzefenchel, Verbene und jeder Menge virtuos zusammengestellter norddeutscher Kräuter belegt und gerät vorzüglich: ein intensiv-herber, ganz und gar norddeutscher Aromenflash von prägnanter Kraft. Ähnlich beeindruckend trat auch die Auster auf, die zusammen mit Herz- und Miesmuschel von erfrischender Gurke und salzigem Queller begleitet wurde. Die Jodigkeit des Hauptprodukts wurde durch das bewusst salzige Bouquet noch weiter betont und kam bestens zur Geltung. Diese mit enorm viel Lokalkolorit gestaltete Parade ließ eine eindeutige Handschrift bereits vollständig erkennen und wertete dank ihrer Qualität das Vergnügen, all diese Petitessen bei einer leichten Meeresbrise verzehren zu dürfen, noch weiter auf. Da auch das Wetter absolut hervorragend mitspielte, hätten in Summe die Bedingungen für einen gelungenen Einstieg kaum besser sein können!

Der Abschied von der Terrasse fällt mir an diesem Abend sichtlich schwer, doch andere Gäste warten auch schon ungeduldig auf die „Freigabe“ der Bank …

Zwischen den Gängen werde ich noch ein paar Mal den Ausblick genießen dürfen, doch auch drinnen verströmt das lichtdurchflutete Ambiente des Lokals eine typische maritime und überaus elegante Atmosphäre in Weiß-, Blau und Grautönen. Der Blickfang schlechthin ist freilich die offene Schauküche am Ende des Raums, wo beileibe nicht nur Speisen zusammengesetzt werden, sondern auch aktiv an der Zubereitung der Gerichte gearbeitet wird. Das Publikum in diesem Lokal wirkt durchaus distinguiert und bestätigt damit indirekt den Ruf Sylts als Insel der Schönen und Reichen, doch bringt dies auch unbestreitbare Vorzüge mit sich: die angenehmen Konversationen mit Tischnachbarn gehören hier zum guten Ton fast schon dazu, und auch die große, aufmerksame Servicetruppe agiert hier mit viel Charme. Recht bald an diesem Abend fiel mir in der Brigade eine junge Kellnerin auf, die voll integriert und akzeptiert war, beileibe nicht nur mit zweitrangigen Aufgaben abgespeist wurde und einen fabelhaften Job erledigte. Ich hätte sie auf Anfang 20 geschätzt, doch fand ich später durch Zufall heraus, dass sie gerade einmal zarte 17 Jahre alt war – ich messe diesem Umstand einfach deshalb eine große Bedeutung bei, weil in diesem noblen Etablissement ungewöhnlich junge Servicekräfte schon frühzeitig ganz hervorragend geschult und trotz ihres blutjungen Alters umgehend mit wichtigen Aufgaben betraut werden. Außerdem kann ich mich nicht entsinnen, jemals vergleichbar junge Servicekräfte so sicher in einem Zweisterner agieren gesehen zu haben. Respekt! Sommelière und Maître Bärbel Ring, die sicherlich zu den Besten ihres Fachs gezählt werden darf, weilt am Abend meines Besuches noch im Urlaub, doch auch unter dem Dirigat ihres Stellverteters erlaubt sich die Brigade keine Fehler und wird ihrem Ruf, besonders aufmerksam und korrekt zu sein, jederzeit gerecht. Bei alledem wirkt dieser Auftritt stets authentisch, kompetent und entspannt, zumal Jan-Philipp Berner seine Gäste (notfalls auch mit Fototermin auf der Terrasse …) ja persönlich begrüßt und vereinzelt die Gerichte am Tisch höchstselbst erläutert – so auch bei der Brotauswahl, welche mit Kartoffelbrot und einer Sauerrahmbutter mit Kräuterstreuseln die Zeit zwischen den Gängen bei Bedarf ansprechend überbrückt. Gleichwohl liegt der Fokus der Küche ganz klar auf anderen Viktualien …

Kaisergranat macht in zweierlei Varianten den Auftakt: das sanft gegarte Krustentier ist mit einem Topping garniert, bei dem die eigentümliche Aromatik der Sylter Rose besonders gut zum Tragen kommt. Von Naturschützern als invasive Art eingeschätzt, steht diese Heckenrose bei Köchen wegen ihres spezifischen, nur leicht süßlichen Geschmacks zurecht höher im Kurs. Einen bitteren Kontrast dazu bildet Sellerie in einer Vielzahl von Texturen auf dem zweiten Teller: so bilden Mousse und Crème das Fundament dieser Kreation, die auf Sud und Öl aus der Karkasse von Krustentieren thront und markige Akzente setzt. Etwas Tatar vom Kaisergranat ist auch noch darunter versteckt, so dass unterm Strich ein bekömmlicher Einsteiger steht, dessen Spannung zwischen den beiden Tellern souverän gelingt. Ausgezeichnet!

Leicht gebeizten Saibling kombiniert Jan-Philipp Berner sodann mit einem Sud von deutlichen Pfefferaromen, in welchem auch wilder Senf zur Herstellung herangezogen wurde. Die Mousse des Fischs stellt die kraftvollste Komponente dar, doch durch die spürbare Reduktion an Kraft bei den anderen Viktualien wird das Gericht spürbar transparenter und bekömmlicher: die sorgsame Dosierung von Rogen, Rettich, Apfel und Alge wirkt auf mich ausgesprochen durchdacht und wie in eine höchst feinsinnige Balance untereinander eingebettet. Die Intensität ist fraglos gedrosselt, aber die typische Nordseearomatik, die diesen Teller umweht, lässt das Gericht als eine archetypische Komposition für diese Region und auch diese Küche erscheinen.

Tatsächlich brauche ich einige Zeit, um mich etwas zu akklimatisieren: meinem subjektiven Empfinden gemäß sind die Gerichte in Süddeutschland in Summe oft deutlich herzhafter, während typische Sylter Produkte wie Krustentiere, Nordseekrabben und Sylter-Royal-Austern oftmals etwas subtiler in Szene gesetzt werden, um ihre zarte Aromatik nicht zu kaschieren. Die Geschmacksbilder sind oft ungleich herber und nachhaltiger, wenn eine gehobene Küche wie die im Söl’ring Hof mit viel norddeutschem Lokalkolorit zu Werke geht – ich muss mich nach zahlreichen Besuchen in Bayern und Baden-Württemberg erstmal wieder anpassen, um nicht dem Trugschluss zu erliegen, dass den Gerichten eine gewisse Kraft fehlen würde.

Als etwas simpler gestrickt empfinde ich die Ochsenherztomate, welche auf einem Tomatenfond gebettet ist und von einem Bouquet aus Erbse, Speck vom dänischen Protestschwein und Tomate in weiteren Texturen umspielt wird. Während es wahr ist, dass dieses Arrangement auf mich etwas beliebig wirkt und keinen bleibenden Eindruck hinterlässt, so muss doch betont werden, dass zumindest das Zusammenspiel der Kräuter, unter denen der Kerbel heraussticht, einmal mehr seine Wirkung nicht verfehlt, selbst wenn sich die hier eingesetzten Produkte nicht als so typisch norddeutsch entpuppen wie so manches andere zuvor.

Zum uneingeschränkten Höhepunkt des Tages entwickelte sich der perfekt gegarte, lauwarme Kabeljau, welcher unerwartet großzügig pariert wurde, in einer mehr als ansehnlichen Portion auf den Teller gelangt und butterzart abblättert. Umschmeichelt wird er von einer wahrlich superben Kräutervinaigrette mit Brunoise von Kohlrabi, die trotz nur winziger Würfel ein unerwartet hohes Maß an Knackigkeit beisteuert. Die Eismeergarnelen obenauf veredeln diesen Geniestreich auf luxuriöse und doch vollkommen harmonische Weise, während sich Dill und Rettich als vollendete Begleiter für den optimalen Feinschliff erweisen. Das geradezu sensationelle Spiel um variable Texturen und insbesondere Temperaturen verleiht dieser Eingebung endgültig das Prädikat der Extraklasse. Mit diesem Beitrag trat die Küche den endgültigen Beweis an, wozu sie fähig ist, wenn alle Kräfte gebündelt werden und die Sterne besonders günstig stehen. Herausragend!

Dass bisweilen nicht alle Gänge dieselbe fesselnde, ja hypnotische Kraft entfalten konnten, lag für meine Begriffe hauptsächlich daran, dass nicht jedes Gericht dasselbe atemberaubende Maß an geistiger Durchdringung erkennen ließ. So verströmte die dunkelrosa gebratene Hubbeltaube eher überraschend eine geringere Intensität als das Ragout desselben Produkts, während es zugleich der Begleitung aus Mais, Lauch und roter Zwiebel an Unverwechselbarkeit fehlte. Diesmal blieb das aromatische Spektrum in einem etwas engen Rahmen verhaftet, was den Eindruck der Austauschbarkeit unter den begleitenden Produkten sogar noch verstärkte. Trotz fehlerfreien Handwerks konnte das Hauptgericht somit keine bleibenden Eindrücke hinterlassen, zumal der Fokus diesmal schwerlich auf ein subtiles Geflecht aus Kräutern gerichtet war: in Summe wirkte die Aromatik hier jedenfalls wesentlich eindimensionaler als vieles zuvor.

Ein recht norddeutsch anmutendes Gepräge erfuhr dagegen wieder das Dessert, in welchem Brombeere zum thematischen Mittelpunkt auserkoren wurde. Die Früchte, der kandierte Chip und die gelierte Brombeerscheibe sorgten mit straffer Säure für ein Geschmacksbild von lediglich dezenter Süße. Das fast schon neutralisierend wirkende Buttermilcheis verband die mit Schokonibs aufgewertet Crème von nur leicht gesüßter Vollmilchschokolade mit der Säure des Zitronenthymian, der in Form von Sud und Sorbet sogar mit leichter Bitterkeit im Abgang für überraschende Momente sorgte. Unter deren Berücksichtigung und der Tatsache, dass dieser Ausklang mit wenig Zucker und dafür mehr Biss als erwartet punktete, sei diesem Dessert das Niveau von zwei Sternen mühelos attestiert.

Ein weit überdurchschnittliches Niveau – auch unter Zweisternern – erreicht die Pâtisserie abermals mit den fünf Petitessen zum Ausklang, bei denen viel Ungewohntes absolut geschmackssicher umgesetzt wurde: sei es nun beim prominentesten Beitrag rund um Estragon, Quark, weiße Schokolade (Mitte vorne) oder den weniger auffälligen Petits fours wie der Schaumkuss „Söl’ring Hof“ mit Himbeere und Fichte (hiten links), Krapfen mit (typisch norddeutscher) Moosbeere und Karamell (hiten rechts), Herzkirsche mit Mandel und Minze (rechts) oder der Praline aus dunkler Schokolade mit Stachelbeere und Zitronenthymian.

Der runde Abschluss dieses Abends sowie das hinreißende Dessert zuvor trösteten mich locker darüber hinweg, dass ein paar wenige Beiträge dieser Menüfolge nicht ganz dasselbe Level wie die Mehrzahl der hier ersonnenen Kreationen erreichte. Wann immer die Küche auf die typischsten Sylter Produkte setzte und im besten Fall dabei auch noch auf vollkommen harmonische Weise heimische Kräuter integrierte, erzielte sie damit die besten Ergebnisse. In handwerklicher Hinsicht gab es für mich sowieso keinerlei Beanstandungen, doch die etwas eigenwillige Balance mancher Gerichte wie dem Hauptgang oder die nicht sehr eindringlich wirkenden umgebenden Bouquets deuteten in Einzelfällen an, wo noch etwas Luft nach oben bleibt. Dass der Weg ganz klar vorgegeben ist und mittelfristig weiter Richtung drei Sterne führen soll, steht für mich außer Frage. Die Besinnung auf die ureigensten Stärken dieser Küche, welche teils auch schon von Johannes King kultiviert wurden, zeitigt schon jetzt hervorragende Ergebnisse und sollte meines Erachtens noch konsequenter betrieben werden: gerade der Gang mit dem Kabeljau drückte in struktureller Klarheit und glasklarer Präzision all das aus, was eine Spitzenküche an der Nordsee auszeichnen sollte: bestechende Frische der Produkte in schnörkelloser Direktheit präsentiert, Betonung des Eigengeschmacks der spezifischen Viktualien und bewusste Verstärkung der meist salzigen oder jodigen Aromatik durch subtile Verfeinerung mit herben Kräutern, die quasi vor der Haustüre wachsen. So erlebt der Gast im besten Fall eine aromatische Ausprägung, die schon an der Ostsee wieder ganz anders aussähe und deretwegen allein sich schon der Besuch hier lohnen sollte.

Gerade die deftiger anmutenden Gerichte wie die Ochsenherztomate oder die Hubbeltaube überzeugten mich (noch) nicht in demselben Maße, weil diese Art Geschmacksbild mit der Umgebung deutlich zu fremdeln droht, sobald eine Rechtfertigung dafür ausbleibt, warum der oft  eigentümliche Geschmack eines bestimmten Fleischprodukts oder Gemüses eher durch zuviel umgebende Wucht verwässert anstatt potenziert wird. Das bedeutet keineswegs, dass etwa der bisweilen kantige Geschmack von Salzwiesenlämmern oder holsteinischen Weiderindern nicht stimmig in diesen Küchenstil integriert werden könnte, aber bei den obengenannten Gängen passierte mir schlicht zu viel Unwesentliches ohne große Aussagekraft rund um den Hauptdarsteller herum. Im Sinne der oft fragilen Aromen ist die Abkehr von allzu körperbetonten Saucen sicherlich eine weitere Notwendigkeit, mit welcher eine gewisse Unwucht auf den Tellern vermieden werden kann. Gerade bei den Apéros wurde keinerlei Struktur durch die Beigabe einer zukleisternden Komponente zerstört, so dass beispielsweise die geradezu architektonische Strenge des Kalmar-Apéros ungemein überzeugte. Selbiges galt auch für den Kabeljau-Gang, der nicht typischer für die Küche des Jan-Philipp Berner nicht sein könnte und schleunigst zu einem Signature Dish auserkoren werden sollte!

Die Nebenkosten sind für Sylter Verhältnisse wahrscheinlich noch als üblich zu bezeichnen, doch für Festlandbewohner stellen die aufgerufenen Preise schon eine recht empfindliche Belastung dar, wobei dies freilich durch die fulminante Weinauswahl und den tadellosen Service reichlich kompensiert wird. Eine halbwegs regelmäßige Einkehr ist für mich weiterhin definitiv denkbar, zumal ich hier das Potential für höchste Weihen als absolut gegeben ansehe und ich mich gerne von Zeit zu Zeit über den weiteren Fortschritt informieren würde. Mir ergeht es oftmals so, dass sich der spezifische Reiz dieser Insel binnen einer Woche abnutzt und der nächste Besuch dann wieder eine Weile warten kann. Glücklicherweise lässt sich binnen sieben Tagen jedoch eine ganze Menge hier erledigen – und sei es nur der Besuch der besten Lokale der Insel, unter denen das Haus in Alleinlage auf der Rantumer Düne immer noch ganz klar die Pole Position innehat.

Randnotiz: selbst die morgendliche Einkehr als externer Gast sollte zum Frühstück durchaus mal erwogen werden. Sie ist mit derzeit € 59 nicht gerade alltäglich bepreist, bietet aber eine breite Palette an hausgemachten Kreationen mit handverlesenen Produkten und Getränken. Im Sinne der Müllvermeidung gibt es hier kein Buffet, sondern sorgsam ausgesuchte und in großer Streuung angelegte Häppchen von salzig bis süß, die praktisch keine Wünsche offenlassen. Unbezahlbar ist allein schon der Blick von der ganz zu Beginn erwähnten Bank, die man als erster Gast am Morgen oft sogar noch länger als abends beanspruchen darf. Notfalls würden der Aufenthalt auf der Terrasse und die zugehörigen Apéros allein schon den Besuch dieses Sehnsuchtsortes rechtfertigen …

Mein Gesamturteil: 18 von 20 Punkten

 

Söl’ring Hof
Am Sandwall 1
25980 Rantum (Sylt)
Tel.: 04651/836200
www.soelring-hof.de

Guide Michelin 2023: **
Gault&Millau 2023: 3+ Hauben
GUSTO 2023: 9,5 Pfannen
FEINSCHMECKER 2023: 5 F

6-gängiges Menü: € 279

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April 2018

Die Krise in der Gastronomie ist auch an Deutschlands beliebtester Insel (oder war das doch Mallorca?!) nicht spurlos vorbeigegangen. Trotz reichlich zahlungskräftiger Kundschaft schlossen in den vergangenen Jahren binnen kurzer Zeit gleich zwei Restaurants, die sich jeweils mit zwei Michelin-Sternen zieren durften: das La Mer in List sowie das Fährhaus in Munkmarsch. Doch damit nicht genug: Jörg Müller, der ältere Bruder des legendären Dieter Müller, verzichtete freiwillig auf alle Auszeichnungen und wollte ohne Druck weiterkochen – was ihm dem Vernehmen nach immer noch gut gelingt. Als auch noch Chefkoch Jens Rittmeyer das Kai3 in Hörnum gen Buxtehude verließ und unter seinem Nachfolger ein neues Konzept erst reifen musste, war Sylt plötzlich um einige kulinarische Attraktionen ärmer. Neben dem Bodendorf’s in Tinnum blieb nur noch eine andere Institution, deren Ruf allerdings legendär ist: der Söl’ring Hof in Rantum.

Das stattliche, reetgedeckte Haus in Alleinlage auf der Rantumer Düne ist trotz namhafter Konkurrenz wohl die allererste Adresse der Insel – die Preise für das Doppelzimmer zur Landseite beginnen übrigens bei € 450 pro Nacht. Wer im Sommer herkommt und willens ist, diese Preise zu bezahlen, sollte sehr früh buchen – das Luxusanwesen bietet lediglich dreißig Gästen Platz. Der Standard ist aber auch außergewöhnlich hoch: privater Strandabschnitt, eigener Strandkorb, luxuriöses Frühstück (bis weit in den Mittag hinein, wenn gewünscht), Bang&Olufsen-Anlage auf dem Zimmer und noch vieles mehr. Dieses Wissen beziehe ich bedauerlicherweise aus den Prospekten des Hauses sowie den Gesprächen mit Hotelgästen und nicht aus persönlicher Erfahrung …

Ein Besuch des Restaurants ist insofern eine logistische Herausforderung, da eine Übernachtung danach in einem Domizil auf der Insel praktisch alternativlos ist. Dass es trotzdem anders geht, bewies die anschließende Gewalttour durch den Wintersturm zurück aufs Festland – nie wieder!

Schweigen wir uns besser über das entsetzliche Winterwetter an diesem Abend aus und kommen wir zu den erfreulichen Aspekten: das beginnt bereits bei der Begrüßung durch den jungen Chefkoch Jan-Philipp Berner höchstpersönlich, der inzwischen die Aufgaben des Chefs Johannes King, der sich an diesem Abend zweimal kurz im Speisesaal blicken ließ, schon fast vollständig übernommen zu haben scheint. King koordiniert offenbar inzwischen eher andere Bereiche und kann auf seinen ehemaligen Souschef sowie dessen Team bauen. Das emsige Treiben in der zum Lokal hin offenen Küche ist gut einsehbar – sehr sympathisch die konzentrierte, aber durchaus freundliche Atmosphäre, die dort herrscht. Das in lichten Farben gehaltene Lokal wirkt sehr maritim und punktet mit abstrakter Kunst an den Wänden sowie interessanten Lampen an der Decke. Die Tische dagegen sind ganz klassisch eingedeckt und verdeutlichen schnell, dass abgehobene Spielereien in diesem Etablissement nichts zu suchen haben. Außerdem sollen die Produkte einen klaren Bezug zur Region haben („es kommt kein Fisch auf den Teller, der südlicher als Hamburg geschwommen ist“), was meist auch überzeugend gelingt.

Zu Beginn wird dem geneigten Gast gleich eine Palette an Luxusviktualien offeriert, die man wahrscheinlich in keiner anderen ländlichen Gegend Deutschlands so zwanglos an den Mann bringen könnte. Da gibt es Roederer Champagner der entsprechenden Jahrgänge (€ 49 für das Glas), Prunier Kaviar zu € 8 das Gramm oder auch Austern der Sorte Sylter Royal, die für Einsteiger als besonders geeignet gelten – € 20 für drei Stück „natur“ oder auch gerne mal bis zu € 30 für gratinierte Varianten. Geradezu erfreulich billig ist im Gegensatz dazu das achtgängige Menü, das mit € 194 zu Buche schlägt – für ein Restaurant mit zwei Michelin-Sternen und 17 Gault&Millau-Punkten ein absolut gewöhnlicher Preis. Wer hier logiert, dem machen solche Preise ja auch nichts aus …

Steigen wir also ein mit einem Traubensecco aus dem Hause Raumland und genießen dazu ein wunderbares Rindertatar mit etwas Rettich und Büsumer Krabbe obenauf sowie einen ausgezeichneten Apfel-Sellerie-Schaum. Ähnlich frisch geht es mit dem in aufwendiger Optik präsentierten Dreierlei von Saibling weiter: einmal in gebeizter Form auf einem Cracker, dann als Tatar und als Kaviar auf einer Kartoffel. Schließlich gibt es noch einen Buchweizencracker mit etwas Meerrettich und geriebenem Michel (einem Hartkäse aus Kuh- und Schafsmlich) obenauf. Nach diesem Reigen hängt die Messlatte bereits sehr hoch …

Der Einstieg mit dänischem Kaisergranat, Bete, Haselnuss und Zitrone ist ein höchst aufwendiger Einstieg mit einer hinreissenden Optik. Sämtliche Techniken und Texturen hier zu würdigen würde viel Platz einnehmen – der Hinweis auf ein ungewöhnlich vielseitiges Aromenbild und eine interessante Allianz an stimmigen Begleitern muss hier genügen. Verblüffend gut!

Um die „besonderen Empfehlungen“ auf der Karte zu würdigen, tausche ich den nächsten Gang (Jakobsmuschel) gegen Hummer, Kohlrabi, Dill und Apfel aus. Der Hauptteller wird von gleich zwei Satelliten umrahmt und könnte von der generösen Portion her gut und gerne auch das Hauptgericht sein. Eines der Schälchen beinhaltet eine Hummercrème, die mit Dill in allen nur denkbaren Varianten umspielt wird: geeiste und gelierte Form sind nur die offenkundigen Einfälle. Dazu gibt es noch einen höchst üppig belegten Kohlrabistick, der Eindruck macht. Das zweite Schälchen beherbergt eine Art Praline mit einer Hummeressenz, während der Hauptteller mit einem umwerfenden und intensiven Arrangement von Hummer und Apfel punktet. Grandios!

Steinköhler, Felchenrogen, Dill und Eismeergarnele punktet mit säuerlichen Aromen, die genauestens austariert auf einem vergleichsweise zurückhaltend inszenierten Teller bestens zur Geltung kommen. Dass erneut Dill eingesetzt wurde, war dabei natürlich meinem individuellen Wunsch zuvor geschuldet.

Den Klassiker des Hauses schlechthin genehmige ich mir danach auch noch: Bouillabaisse à la King ist ein ungeheuer intensives, wohlschmeckendes Erlebnis, das das Allerbeste aus Neptuns Reich in einem einzigen tiefen Teller präsentiert. Die hinzugegebene Sauce Rouille ist die Krönung eines unbeschreiblichen Gerichts, das ohne weiteres als Signature Dish angesehen werden darf. Gut möglich, dass ich mir beim nächsten Mal ein Menü nur aus den besonderen Empfehlungen zusammenstelle …

Ochsenmaul, Kartoffel, Schnittlauch und Ei kommt in ganz klein gewürfelter Form in einem flachen Eisbecher daher. In geschmacklicher Hinsicht wäre diese optische Spielerei eher nicht nötig gewesen, aber herzhaft geschmeckt hat es trotzdem. Die gleiche Ausdruckskraft wie die der Gänge zuvor war hier jedoch in der Tat nicht gewährleistet.

Milchlamm als Hauptgericht wurde in einen originellen Zusammenhang gebettet mit Mangold, Sellerie und Schafsjoghurt. Die Ankündigung verhieß durchaus ein spannendes Gericht, das trotz aller handwerklichen Finesse nicht ganz so aufregend geriet wie so mancher Vorgänger. Der Gang war immer noch weit weg von einer Enttäuschung, aber nach und nach schienen optische Komponenten gegenüber dem Geschmack die Oberhand zu gewinnen.

Als Referenz an die kommenden Ostertage wurde das erste Dessert Rhabarber, Buttermlich und Estragon in ein großes Ei, das auf Kieselsteinen und Ginsterzweigen ruhte, gepackt. Die fruchtig-frische Note des Pré-Desserts kam bei mir gut an und überzeugte trotz der weichen Konsistenz mit diffizilem Geschmack ohne allzu plumpe Süße.

Sylter Rose (Moosbeeren, weiße Schokolade und Amaranth) gerät nochmals zur beeindruckenden Leistungsschau der Patisserie. Ein wunderbar leichter Ausklang, der mit großem Arbeitsaufwand stimmig drapiert wurde, überzeugte auf ganzer Linie mit komplexen Aromen und krönte einen fast durchweg gelungenen Abend.

Die Petits fours waren von einer Art augenzwinkernder Geste, denn Klassiker wie Windbeutel oder Guglhupf wurden hier neu interpretiert. Doch auch Freunde klassischer Pralinés kamen am Ende auch noch auf ihre Kosten. Außerdem empfahl man als Digestif eine Rarität: den Obstbrand „Morsumer Bauernapfel“ aus dem Hause Reisetbauer. Die endgültig letzte Ernte aus dem Garten, den Johannes King einst angemietet hatte, holte der Chef Hans Reisetbauer persönlich ab und trat dafür sogar die lange Reise von Österreich an. Wer sich inspiriert fühlt, sollte sich beeilen, denn der ohnehin schon spärliche Bestand ist inzwischen deutlich reduziert worden! Das Netz an Beziehungen, das Johannes King zu diversen Erzeugern aufgebaut hat, ist jedenfalls beeindruckend und gestattet dem Lokal immer wieder, dem Gast außergewöhnliche, aber stets hochwertigste Produkte offerieren zu können.

Sommelière Bärbel Ring dirigiert eine große Servicebrigade, deren Mitglieder zum Teil noch geradezu blutjung sind. Das ganze Team macht jedoch einen aufmerksamen Job – und wenn dann doch einmal ein Getränk vergessen wurde, folgte umgehend die Entschuldigung. Auch die Weinempfehlungen fanden an allen Tischen großen Anklang. Lediglich einmal wurde am Nebentisch das Dessert während der Abwesenheit der Dame an den Platz gestellt – da es die Dame bei ihrer Rückkehr aber nicht zu stören schien, war auch das kein Problem. Dennoch denke ich, dass so etwas nicht vorkommen sollte, wenn der dritte Stern eines Tages her soll.

Der FEINSCHMECKER vergab für 2018 sogar die Höchstnote von 5 F. Ganz so optimistisch sehe ich die Sache noch nicht, denn dann wäre das Lokal auf Augenhöhe mit praktisch allen elf Drei-Sterne-Restaurants in Deutschland. Dafür war der leichte Abfall nach dem maritimen Teil dann doch noch nicht eines Restaurants mit den allerhöchsten Weihen würdig, aber viel fehlt wahrlich nicht mehr. Die 17 Punkte des G&M könnten auf jeden Fall eine Aufwertung auf 18 Punkte vertragen, und zu den besseren unter den Zwei-Sterne-Etablissements in Deutschland gehört der Söl’ring Hof sicherlich auch. Chefkoch Jan-Philipp Berner darf (und wird auch sicherlich) noch weiter reifen, so dass ich mir von dieser ohnehin schon sehr vielversprechenden Adresse in Zukunft noch einiges erhoffe, zumal gegenüber dem bemerkenswerten ersten Besuch im September 2016 nochmals eine spürbare Steigerung festzustellen war. Eine sichere Bank sind die besonderen Empfehlungen des Hauses mit liebgewonnenen Klassikern, die man jederzeit vorbehaltlos empfehlen kann. Wer allen Ernstes auf das Signature Dish Bouillabaisse à la King verzichtet, weiß nicht, was ihm entgeht!