100/200 Kitchen**, Hamburg

„Ich fühle zutiefst, dass geistiges Wachstum in einem gewissen Stadium uns gebietet, damit aufzuhören, unsere Mitgeschöpfe zur Befriedigung unserer leiblichen Bedürfnisse zu schlachten.“ (Mahatma Gandhi)

August 2023

Die Gastroszene in Hamburg war in den letzten zehn Jahren nie auch nur annähernd einem vergleichbaren Hype wie etwa Berlin oder seit wenigen Jahren München ausgesetzt – zu gediegen wirkte die Szene in der Hansestadt im Vergleich zu den obigen Konkurrenten. Mit dem Umzug von Kevin Fehling aus dem Travemünder La Belle Epoque in sein neues Restaurant The Table im Jahre 2016 kam auch jedoch im Norden spürbar Bewegung in die zuvor etwas reglos verharrende Szene. In jenen Jahren erlebte die moderne HafenCity nicht zuletzt wegen des Baus der illustren Elbphilharmonie einen spürbaren Schub, so dass schon bald Gäste aus aller Herren Länder den Dreisterner frequentierten, um vor allem das Konzept des geschwungenen Tischs mit Blick in die offene Schauküche kennenzulernen. Unvermeidlicherweise muss sich mit der Zeit jedoch auch der schönste Reiz etwas abnutzen, so dass in der Zwischenzeit ein anderes Lokal die meiste Aufmerksamkeit in Hamburg generiert: das 100/200 von Thomas Imbusch, das nicht zuletzt durch die Aufwertung auf zwei Michelin-Sterne im Jahre 2022 weiterhin an Bekanntheit gewinnen konnte. Das hatte auch meine Neugier fraglos geweckt, so dass mein jüngster Besuch in der Hansestadt selbstverständlich mit einer Einkehr hier verbunden war. Gleichwohl legte ich eine gesunde Portion Skepsis an den Tag, weil gehypte Lokale in Großstädten nun mal viel häufiger als auf dem Lande vorkommen und nicht selten die ganze Aufregung nur bedingt wert sind.

Das Lokal ist nur mit dem Auto geschickt zu erreichen, befindet es sich doch auf einem eher industriell geprägten Gelände am Billhafen im Osten der Stadt. Um Einlass zu erbitten, muss man die recht unauffällige Klingel an der Tür unten rechts an dem großen Gebäude betätigen, woraufhin der Lift den Gast in den 3. Stock zum Ziel der Wünsche führt. Das Intérieur ist der Umgebung ziemlich gut angepasst und von Industriechic dominiert. Es gibt zudem in dem geräumigen Gastraum eine Empore samt Flügel, wo bisweilen Unterhaltungsmusik gespielt wird und auch sonst der eine oder andere Drink noch eingenommen werden kann. Der Blickfang des Lokals schlechthin ist jedoch die offene Schauküche, um welche die blanken Holztische samt Barhockern für die Gäste gestellt sind – aber auch ein Platz direkt am Tresen kann theoretisch gebucht werden. Apropos Buchung: nicht zuletzt durch die Praxis, den gesamten Menüpreis bei der Reservierung im Voraus einzustreichen, hat sich das Lokal einigen Kontroversen ausgesetzt – wobei diese bevorzugt von Personen lanciert wurden, die der gesamten Szene eher skeptisch gegenüberstehen und in einem Anfall von Wichtigtuerei meinten, sich Gehör verschaffen zu müssen. Während es wahr ist, dass diese Praxis in Deutschland immer noch vergleichsweise selten anzutreffen ist, muss festgehalten werden, dass sich von den Gästen an diesem Abend offenbar niemand daran störte und sie diesen Fakt vielleicht auch schon zu Genüge kennen, wenn sie öfters im Ausland gehoben dinieren, wo solche Maßnahmen längst gang und gäbe sind. Außerdem sei festgehalten, dass man hier auch mittags einkehren kann und ein leicht verkürztes Menü genießen kann. Zum Zeitpunkt meiner Einkehr kostete besagtes Abendmenü übrigens noch € 230, was inzwischen dem Mittagspreis entspricht, während abends derzeit € 270 fällig werden.

Mastermind hinter diesem Konzept ist Thomas Imbusch, der hier zusammen mit seiner Partnerin Sophie Lehmann als leidenschaftliches Gastgeberpaar auftritt. Ausgebildet unter anderem beim saarländischen Großmeister Christian Bau, gibt er jedoch Michael Hoffmann vom ehemaligen Berliner Margaux als seine wichtigste Inspirationsquelle an. Der heute als kulinarischer Berater tätige Chef führte damals eines der avantgardistischsten Gemüselokale der gesamten Republik und hatte trotz der unmittelbaren Nähe zum Brandenburger Tor auf lange Sicht offenbar zu wenige Gäste, was er auch auf die vermeintliche Intoleranz der Michelin-Inspektoren gegenüber moderneren Strömungen zurückführte. Wie dem auch sei: ich verbinde mit meinem einzigen Besuch dort im Jahre 2013 immer noch viele prägende Eindrücke, selbst wenn diese in der Bewertung durachaus kontrovers ausfallen konnten und ein hohes Maß an Aufgeschlossenheit vom Gast forderten. Jedenfalls verspricht diese Inspirationsquelle einiges für den anstehenden Abend, zumal das 100/200 pro Jahr vier jahreszeitlich geprägte Menüs anbietet, wobei das zum Zeitpunkt meines Besuches aktuelle den Namen „Saison“ trägt, das sogar rein vegetarisch gestaltet ist. Ansonsten gibt sich das Team zunächst eher kryptisch: es gilt das Prinzip der „Carte blanche“, wobei Änderungen nicht vorgesehen oder erwünscht sind – allenfalls im Vorfeld kommunizierte Unverträglichkeiten werden natürlich berücksichtigt.

Nach der Wahl des Aperitifs (in meinem Fall ein hausgemachter Johannisbeerblütensirup mit Ingwer in einem geeisten Glas) beginnt dieser Abend damit, dass man zunächst seinen Platz verlässt: an einer Theke mit zwei aufklappbaren Platten, die einer Gefriertruhe einigermaßen ähnelt, werden dem Gast von einem Kellner zunächst die verwendeten Produkte des Abends in reiner Form präsentiert. Dieses Prozedere, das mir sonst in vergleichbarer Form bisher nur vom Pfälzer Intense (damals noch in Kallstadt, aber inzwischen in Wachenheim) bekannt ist, sei allerdings anderen durchaus zur Nachahmung empfohlen, um dem Gast einen Eindruck von den teils recht exotischen Produkten zu vermitteln.

Dazu schenkt der Service einen Tomatentee mit Zimtblütenöl ein, der dank kraftvoll-intensiver Aromatik gleich voll einschlägt. Dazu reicht man des weiteren eine Einstimmung, die selbst Monate nach meinem Besuch noch nachhallt: die Tartelette ist mit einer Füllung von Erbse, Kombualgen, Soja und Butterschaum von derartiger Wucht, dass die harmlose Optik gekonnt kaschiert, welch hochdosiertes Umami sich darunter verbirgt. Dieser Geniestreich ist zwar um einiges massiger als er zunächst wirkt, aber von wohliger Mundfülle, die auch durch die Vielzahl an höchst schlüssigen Texturen regelrecht begeistert. Was für ein Einsteiger, einfach toll!

Als nächstes tischt die emsige Servicebrigade, die fast nur aus jungen und durchaus motivierten Männern besteht, fünf Apéros auf, die laut der ganz am Ende des Besuches erhaltenen Karte den „gustatorischen Status quo“ abbilden sollen – soll übersetzt heißen, dass die fünf grundsätzlichen Geschmacksrichtungen beleuchtet werden sollen. Eine derartige Herangehensweise ist mir zuletzt im Salzburger SENNS untergekommen – allerdings mit dem Verweis darauf, dass die Umsetzung dieser Ästhetik dort wesentlich besser funktionierte. Was hier im 100/200 dagegen in Summe dargeboten wird, entpuppt sich schnell als der schwächste Beitrag des Abends, der noch einiges an Luft nach oben hat. Im Einzelnen bestehen die Beiträge aus geräuchterter Zwiebel, Rahm und kandierter Süßdoldenwurzel (süß), dann aus Sellerie, fermentiertem Rhabarber und Salzzitrone (sauer), gefolgt von Spitzkohl und Olive (salzig). Weiterhin gesellen sich Rettich und Kakao (bitter) sowie gereifter Käse und Alge (Umami) hinzu – die Intensität der puristisch gemeinten Beiträge kann mit der derjenigen der Tartelette nicht im Entferntesten mithalten und wirkt auf mich eher verwässert. Zu dezent und blass kommt für meine Begriffe der hier zur Schau gestellte Minimalismus daher, als dass die intendierte Wirkung auch nur annähernd erzielen worden wäre.

Bereits das anschließende Sauerteigbrot hebt meine Laune schon wieder spürbar, zumal die begleitende Joghurtbutter mit einer aufgegossenen Emulsion von Schnittlauch, Rosmarin und Chili regelrecht süchtig macht und voll einschlägt. Emblematisch ist auch der Name des aktuellen Menüs auf die Butter geprägt, wie ein genauer Blick verrät.

Der erste Gang des Abends besteht aus Gurke, roter Bete und Rose. In einer Tartelette werden die komplex verarbeiteten Komponenten kompakt verdichtet, während die Crew um Thomas Imbusch auf dem zweiten Teller in weitaus ausladenderer Variante ein Sorbet mit einer ausgeprägten Pfeffernote auf einer Brunoise und Süppchen von Gurke platziert. Die Beschreibung des Gangs durch den Service gibt genau wie die zum Ende gereichte Menükarte eher wenig preis, doch dessen ungeachtet macht die geschickte Verarbeitung der Produkte, die darauf abzielt, ihre geschmacklichen Eingeschaften regelrecht in ihrer Wirkung zu potenzieren, gehörigen Eindruck – kein Vergleich jedenfalls zu den etwas mauen Apéros!

Als nächstes lässt das engagierte und topmotivierte Küchenteam ein Gericht von für diese Küche bezeichnender Wirkung folgen: sowohl in puncto Optik als auch Aromatik prägt sich dieser Beitrag dauerhaft ein, da allein schon die Kombination von Kohl, Kräutern und Kaffee aufhorchen lässt. Zwischen zwei dehydrierten und frittierten Kohlscheiben drängt die Küche ein filigran ersonnenes Arrangement an diversen Kräutern, doch seine unvergleichliche, ja unvergessliche Wirkung erzielt diese Eingebung vor allem durch Kaffeegelée und -crème, die trotz sparsamer Dosierung von zupackender und gar nicht so bitterer Würze sind – ich führe das in erster Linie auf die Wirkung des Zuckers im Gelée zurück, der mehr als erwartet zu dem Gericht beiträgt. Wie dem auch sei: die ungebremst forsche Aromatik und die höchst variablen Kräuternoten zeugen nicht nur von profundem Wissen, sondern auch von einer gehörigen Portion Mut, denn ein solch kraftvolles Statement trauen sich für eine Begriffe in der Hochküche derzeit nur wenige zu. Absolut superb!

Vor dem nächsten Gang genieße ich an diesem lauen Spätsommerabend noch den Gang auf die Terrasse und mit ihm den Blick auf den Sonnenuntergang, der zwar durch die Elbbrücken etwas verstellt ist, aber dennoch stimmungsvoll gerät. Zurück am Tisch erwartet mich schon bald der nächste Gang, bestehend aus zwei Teilen: zur linken auf Mürbteig ein Türmchen mit Texturen von Rettich, Senfcrème und einem Kondiment von gegrilltem Sauerteigbrot, während sich das Schälchen zur rechten der Vielfalt von Bohnen widmet. Unterschiedlichste Ausprägungen dieses Produkts kommen in allen nur denkbaren Texturen unter der recht massigen, mit Beurre blanc und Butterbröseln veredelten Zabaglione überraschend transparent zur Geltung. Dagegen wirkt das ziselierte Türmchen links geradezu aristokratisch mit seiner Tiefe und der konzentrierten Mundfülle, welche einen großen Kontrast dazu darstellen. Allein die Nomenklatur dieses Gangs mit „Brot und Butter“ will mir nicht ganz einleuchten, da hier recht merkwürdige Prioritäten bei der Gewichtung gesetzt werden. Die Bohnen dominieren diesen Gang letztlich deutlich, während ohne die Bezeichnung dieses Gangs der spärliche Einsatz von Brot gar nicht aufgefallen wäre!

Der nächste Gang, später auch nur mit dem wenig hilfreichen Attribut „Gegrilltes und Frittiertes“ versehen, besteht aus drei Teilen: zum einen ein Kristallbrot mit Käse, dann frittierter Kohl auf einem Maissud und schließlich geschmorte Paprika mit Zwiebelsud. Die disparitätischen Kontraste zwischen diesen drei Tellern sind für mich nicht wirklich gerechtfertigt, da mir ein sinnstiftender Zusammenhang offenkundig fehlt. Isoliert betrachtet geriet der Kohl am besten, aber anstelle der teils grellen und nicht immer schlüssig erscheinenden Kombinationen würde ich doch zur Abwechslung mal etwas mehr Konzentration auf das Wesentliche anraten wollen. Diesem Gang fehlte eindeutig so etwas ein roter Faden, weshalb ich den Details bei den Notizen tatsächlich auch keine allzu große Aufmerksamkeit mehr widmete. Neben den Apéros schnitt auch dieser Beitrag eher unterdurchschnittlich ab.

„Pilz, Fermente und Pistazie“ lautet sodann die Bezeichnung des Hauptgangs. A part reicht man zum Hauptteller eine Waffel, deren Referenz an Christian Bau für mich offenkundig ist, zumal Thomas Imbusch ja unter genau diesem Meister bereits als Souschef agierte. Die hier vorliegende Variante ist leicht frittiert und von unten ausgehöhlt, so dass die Rillen durch eine dichte Kimchi-Crème gefüllt werden können, welche zudem mit der Tomate obenauf (die Zubereitungsart blieb mir verborgen …) bestens harmonierte. Die typische Komplexität eines Christian Bau fehlte dieser Waffel, doch da war ja auch noch der Hauptteller: frittierte Buchenpilze mit Erbsen auf einer Pistaziencrème klingt eigentlich recht schlicht, doch die geschmackliche Power, welche die Crew diesen einfachen Produkten zu entlocken vermochte, überraschte durchaus. Nach dem leichten Hänger im Gang zuvor war dies wieder fraglos ein echter Volltreffer!

Aus dem Munde von Sophie Lehmann erfahre ich, dass die Mehrzahl der Gourmets in Hamburg angeblich eher konservativ denkt und neuen Strömungen gegenüber recht skeptisch eingestellt sein soll. Das würde möglicherweise erklären, weshalb dieses Lokal durchaus stärker als die arrivierten Adressen der Hansestadt wie Haerlin oder Piment polarisiert, doch als übermäßig kontrovers empfinde ich die bisherigen Einfälle nicht. Insgesamt erlebe ich hier das vierte rein vegetarische Menü des Jahres, welches zudem nochmals komplett anders interpretiert war als die drei Vorgänger im Le CerfLa Distillerie und 1950 Bio fine dining. Dennoch ist der ideologsiche Kampf um die Deutungshoheit, wie ein zweckmäßiges vegetarisches Menü der Gegenwart auszusehen hat, angesichts dieser grundverschiedenen Lokale offenbar in vollem Gange.

Jedenfalls ist der 2018 ersonnene und immer noch stetig weiter entwickelte Käsetoast das bekannteste und ikonischste Gericht dieses Lokals, welches im Menü sogar mit folgenden Worten kommentiert ist: „Irgendwann ist es perfekt. Wenn nicht bei uns, dann bei unseren Kindern.“ Dass die Inspiration für diesen Gang fraglos von dem berühmten Trüffeltoast aus dem Stockholmer Dreisterner Frantzén herrührt, ist unstrittig, doch hat diese modifizierte Variante mit leicht geschmolzenem Deichkäse, kurz frittiertem Toast und gehobelten Champignons obenauf fraglos ebenfalls ihre Daseinsberechtigung. Man mag davon halten, was man will: die einen mögen dahinter eine billige Kopie an der Grenze zum Plagiat sehen, die anderen dagegen eine legitime Variante mit klar erkennbarer eigenständiger Note. Geschmacklich macht die recht erdige Komposition ordentlich was her. Zurecht ein Klassiker des Hauses!

Das Dessert wird mit einer Alliteration namens „Blumen, Beeren, Blätterteig“ beschrieben und paart Schlichtheit gekonnt mit Komplexität: so besticht der Blätterteig mit Vanilleparfait durch effektvolle Schlichtheit dank makelloser Qualität, während das Himbeersorbet mit Rose in Texturen, Essig und anderen überraschenden Komponenten, die teils schwer zu enträtseln waren, hinreißend interpretiert wird: der treffliche Spagat zwischen Fruchtigkeit und Cremigkeit gelang hier jedenfalls ganz ausgezeichnet.

Nach so vielen Aromengewittern ist zum zweiten Dessert Kontrastprogramm angesagt: so wird ein mit Honig und Crème Chantilly verfeinertes Rahmeis von Macisblüten zusammen mit einem klassischen Brioche serviert. Ofenfrisch und in glasierter Form macht das Gebäck wesentlich mehr her als man sonst gewohnt ist, zumal das soeben formulierte Postulat nach gelegentlicher Schlichtheit hier bereits erhört worden zu sein schien. Das ist ein tiefenentspanntes Finale ohne den ganz großen Knalleffekt, doch zu diesem Zeitpunkt war offenkundig geworden, dass die Küche niemandem mehr etwas beweisen muss.

Für den Weg nach Hause gab es auch noch eine Wegzehrung: besagte Macarons waren zwar in eher konventionellen Geschmacksrichtungen gehalten, gehörten aber definitiv zu den allerbesten der jüngeren Vergangenheit. Ich sparte sie mir aufgrund der beträchtlichen Sättigung sogar für den nächsten Vormittag auf und bereute diese Entscheidung nicht.

Während es wahr ist, dass ein paar unstete Wackler das Menü durchzogen, so muss andererseits festgehalten werden, dass der Stilistik auf den Tellern im 100/200 eine klare Idee zugrundeliegt, selbst wenn deren Umsetzung noch nicht immer im selben Maße gelingen will. Reichlich kompensiert wurde dieser Umstand jedenfalls von zwei, drei Gerichten, die bereits in der Oberliga angesiedelt waren und die Rechtfertigung für den zweiten Stern rasch erbrachten. Gerne hätte ich auch noch mit Thomas Imbusch bzw. seiner Partnerin ein paar Worte gewechselt, da mich ihre Ansicht bezüglich der gezeigten Ästhetik schon interessiert hätte. Man findet zwar auf der hauseigenen Homepage einige Stellungsnahmen der Betreiber dazu, aber die persönlichen Ausführungen wirkten einfach noch eine Spur authentischer. Während des Menüs erschienen beide Macher öfters an meinem Tisch, doch gegen Ende des Abends waren sie wegen einer kurzfristig anberaumten Konferenz privater Art plötzlich verschwunden und überließen der Servicetruppe das Feld. Selbstverständlich konnte man mit dieser auch kommunizieren, doch die Bereitwilligkeit, mit der Thomas Imbusch Fragen zu seinem Stil beantwortet, findet man leider in dieser Branche nicht allzu häufig.

Ungeachtet spürbarer Nebenkosten bleibt festzuhalten, dass Hamburg nun um eine bedeutende Gourmetadresse reicher ist, von der wir uns in Zukunft noch einiges erhoffen dürfen! Die Schwankungen zwischen den schwächsten und stärksten Darbietungen ließen eine größere Streuung als auf Zwei-Sterne-Niveau üblich erkennen, doch schrammten die stärksten Gerichte des Abends dafür nur sehr knapp an der Perfektion vorbei. Gefahr ist aus meiner Sicht immer dann im Verzug, wenn eine (vermeintlich) gute Idee mit viel Forciertheit, aber dafür wenig Inspiration umgesetzt werden soll. Deutlich besser gerieten in der Regel die entspannt aussehenden Teller, die weniger überfrachtet ausfielen und mit einer klaren geschmacklichen Aussage punkteten. Der Drang zum Experimentieren ist hier weiterhin ungebrochen, wenngleich mit zunehmender Reife vielleicht mal die eine oder andere Idee, die heute noch durchginge, gleich verworfen würde. So oder so bestach die Küchenbrigade mit kühnen Einfällen, markanter Optik und aromatischer Intensität, obwohl ja auf Fisch und Fleisch verzichtet wurde.

Der eingangs erwähnte Hype, der sicherlich auch noch eine gute Weile anhalten wird, ist im Wesentlichen doch berechtigt, zumal das Konzept, mit welchem hier Hochküche praktiziert wird, in Zukunft durchaus noch einige Nachahmer finden dürfte. Küchentechnisch hat das junge Team um Thomas Imbusch jedoch ebenfalls eine ganze Menge zu bieten, weshalb auch künftige Besuche meinerseits durchaus nicht ausgeschlossen sind. Die Vorlaufzeiten bei der Reservierungen sind noch erträglich, aber der ungebremste Drang dieses Lokals nach oben könnte diesen Umstand schon bald ändern, sollten die ortsansässigen Gourmets erst einmal ihre vermeintliche Zurückhaltung ablegen. Medientechnisch darf das Lokal als recht präsent eingestuft werden, weshalb ihm stetige Aufmerksamkeit auch in Zukunft gewiss sein sollte. Eine Prise Aufgeschlossenheit schadet hier sicherlich nicht, aber in Summe bekommt man hier definitiv einen der kurzweiligsten Besuche geboten, die es in Hamburg derzeit gibt. Es lohnt sich, dieses Lokal im Auge zu behalten!

Mein Gesamturteil: 18 von 20 Punkten

 

100/200 Kitchen
Brandshofer Deich 68
20539 Hamburg
Tel.: 040/30925191
www.100200.kitchen

Guide Michelin 2023: **
Gault&Millau 2023: 4 Toques
GUSTO 2023: 8,5 Pfannen
FEINSCHMECKER 2023: 3,5 F

7-gängiges Menü „Saison“: € 230