Tantris, München (UPDATE)

„Unter Feinschmeckern hat der Name Eichbauer heute einen Klang wie Galilei.“
(Wolfram Siebeck)

Oktober 2021

Was wurde vor einem halben Jahrhundert nicht geunkt, als das Tantris 1971 von dem Münchner Bauunternehmer Fritz Eichbauer gegen alle Widerstände aus der Taufe gehoben wurde?! Heute, nach den erheblichen Startschwierigkeiten der ersten Jahre, kann man zum 50. Geburtstag des Hauses nur gratulieren und sich gerne ausmalen, wie die Geschichte der Hochküche in Deutschland wohl ohne das Tantris ausgesehen hätte. Die Anekdoten über jene Zeit, die heute eher zum Schmunzeln animieren, könnten ganze Bände füllen!

Nun ist es also soweit: eine unvergleichliche Ikone der deutschen Spitzenküche wird heuer stolze 50 Jahre alt – pünktlich zu diesem runden Geburtstag wird das Restaurant mit einem neuen Konzept den Weg in die Zukunft antreten. Wer mit der lohnenswerten Historie des Hauses nicht vertraut ist, kann eine Zusammenfassung in meiner letzten Rezension vom Sommer 2019 (untenstehend) finden. Zwischenzeitlich drohte dem renommierten Haus nach dem Abschied von Hans Haas im vergangenen Jahr wegen exorbitanter Sanierungskosten angeblich gar die Schließung, doch konnte dieser „worst case“ offenbar abgewendet werden. Im Juni dieses Jahres verkündeten die beiden operativen Leiter Felix Eichbauer und Matthias Hahn, wie das Konzept für die kommenden Jahre aussehen sollte. Das Tantris DNA soll künftig in einer Art Retrospektive der Historie und der Reputation des Hauses huldigen, während das Tantris als neues Flaggschiff den Weg in die Zukunft aufzeigen soll. Meiner vorausgegangenen Rezension waren meine Eindrücke bezüglich des Zweitrestaurants schon zu entnehmen, während nun Teil 2 meiner kulinarischen Expedition in den Münchner Vorort Schwabing genauer unter die Lupe genommen werden wird.

Neuer Chefkoch des Tantris ist der 30-jährige Benjamin Chmura, der bereits in einigen der besten Häuser Frankreichs geschult wurde und zuletzt bei den legendären Brüdern Troisgros in deren gleichnamigen Restaurant im französischen Roanne den letzten Feinschliff verpasst bekam. Mit dem neuen Posten als Chefkoch wird ihm natürlich eine große Ehre, aber auch eine verantwortungsvolle Aufgabe zuteil: schließlich gibt es kaum ein zweites Sternerestaurant in Deutschland, das es in puncto Berühmtheit, Geschichte und Reputation mit dem Tantris aufnehmen könnte. Mit anderen Worten: hier steht man von Beginn an unter Beobachtung und Leistungsdruck. Ähnlich unbekannt wie seinerzeit der erste Chef des Hauses Eckart Witzigmann anno 1971, kann sich das noch fehlende Renommée durchaus auch als Vorteil erweisen. Allerdings übernimmt Herr Chmura ein Restaurant mit einer langer Tradition, während Eckart Witzigmann damals ein Lokal übernahm, dem keine lange Existenz vorausgesagt wurde.

Wie schon am Vortag (diesmal allerdings mittags) geleitet man mich ohne Umschweife zu meinem Tisch, wo man umgehend die ersten Apéros serviert. Zu einem Bitter Lemon aus dem Hause Acqua Monaco tischt man mir drei Petitessen auf: zum einen ein Tartelette mit Hechtkaviar und rote Bete, dann Piemonteser Haselnuss mit schwarzem Sommertrüffel (höchst angenehmer Biss!) und schließlich eine leichte und fettarme karamellisierte Zwiebel mit angenehmer Mundfülle. Die sauber gearbeiteten Kleinigkeiten überzeugen mit großer Aromendichte und Variabilität: so gehen die Säure der Bete und die Erdigkeit der Trüffel wunderbar einher, während die leichte Süße der Zwiebel eine dritte Note ins Spiel bringt. Konzentriert, aber in Summe doch zu harmlos, um länger im Gedächtnis haften zu bleiben.

Serviceleiterin Mona Röthig, die genau wie Sommelier Nicolas Spanier übrigens für beide Häuser zuständig ist, reicht mir sodann die Karte, die im Gegensatz zum Vortag aus zwei Menüs zu vier bzw. sechs Gängen bestehen. Zwar bietet man abends sechs bzw. acht Gänge an, doch dafür kostet das sechsgängige Menü (auf das meine Wahl fällt) mittags „nur“ € 200, während dieselbe Folge abends mit € 230 zu Buche schlägt. Im DNA-Restaurant bleiben die Preise hingegen unabhängig von der Tageszeit stabil. Schon bei der Lektüre drängt sich mir ein Eindruck auf, der sich später beim Verzehr der Gerichte in noch stärkerem Maße manifestieren sollte: eine verstärkte Hinwendung zu vegetarischen Produkten soll wohl den Anstrich einer zeitgemäßen Küche verleihen. Die hauseigene Bäckerei variiert übrigens bei der Brotauswahl, denn diesmal kommt nicht Roggen-, sondern ein Weizen-Sauerteigbrot mit ungesalzener Rohmilchbutter aus der Normandie auf den Tisch – später bietet man mir auch noch ein Einkornbrot ein.

Der Gruß aus der Küche besteht schließlich aus einer mit Madras-Curry abgeschmeckten Tomatenessenz zum Trinken. Mit seinem meisterhaften, langen und intensiven Nachhall könnte dieser Einfall fast eine Anleihe vom Nürnberger Essigbrätlein sein! Was am Vortag allerdings schon auffiel, wiederholt sich auch diesmal: von der Opulenz so manch anderer Sternerestaurants sind diese Einstiege meilenweit entfernt. Offenbar versucht man hier, mehr durch Konzentration als durch Beeindruckung zu punkten – ein durchaus legitimer Ansatz, der allerdings die berechtigte Frage aufwirft, ob dann solche Kosten wie teils in Paris angesichts eines überschaubaren Materialeinsatzes gerechtfertigt sind. Mit anderen Worten: schon nach kurzer Zeit bekomme ich wieder einmal bestätigt, dass das Tantris damals wie heute (in beiden Lokalen) insgesamt eher wenig fürs Geld bietet und nahezu alle Extras separat berechnet werden.

In der Zeit vor dem ersten Gang sehe ich mich nochmals gründlich um und bemerke einmal mehr die sichtlich entspannte Atmosphäre unter den Gästen sowie den emsigen Service, der einen unauffälligen und doch sehr präsenten Job erledigt. Außerdem kann man auch nach mehrmaligen Besuchen immer noch irgendein Detail bei der Ausstattung erkennen, das einem noch nie zuvor aufgefallen war! Schon deshalb lohnt sich ein sporadischer Besuch hier immer wieder mal – zu meinen Stammadressen wird dieses Haus wohl allerdings auch in Zukunft nicht zählen. Dafür gibt es dann doch zu viele lohnenswerte Alternativen, die zu wesentlich moderateren Preisen dieselbe Qualität bieten – aber die haben freilich kein so ikonisches Ambiente …

Der erste Gang könnte auf jeden Fall einen Designpreis gewinnen, denn selten ist eine Jakobsmuschel wohl schöner arrangiert worden. In sanft gegarter Form tummelt sich der Hauptdarsteller versteckt zwischen dünn gehobelten Scheiben von kurz blanchierter Rote Bete und Rettich mit halbfester Konsistenz. Das harmonisch komponierte Gericht ruht auf einer keineswegs penetranten Nage Sancerre, die mit einer deutlichen Weißwein-Note leichte, aber durchaus straffe Säure ins Spiel bringt. Ein ungewöhnlicher Gang mit optischem Esprit und solidem Handwerk.

Noch mehr Profil beweist die Küche mit dem nächsten Gang: eine à part aufgegossene Haselnuss-Öl-Vinaigrette veredelt eine launige Kreation aus dünn gehobelten Steinpilzen und einem Pilzragout. Unter den hauchzarten Scheiben bringt eine Brunoise von Birne etwas Frische ins Spiel, während Pedro Ximenez (Sherry) das Gericht elegant und erdig abrundet. Mit dieser herbstlichen Kreation von überraschender geschmacklicher Tiefe scheint man hier tatsächlich an einer Ästhetik zu tüfteln, die sich als zukunftsweisend herausstellen kann: fleischlos, mit einem klaren Hauptdarsteller im Mittelpunkt und einem krossen Blätterteig-Törtchen, in dem alles stimmig untergebracht werden kann. Gemessen an der Stilistik des Hauses ein überraschender, aber gut funktionierender Gang, der trotz des ungewohnten Fremdelns mit vegetarischer Küche schon recht durchdacht wirkt.

Als Höhepunkt der Darbietung entpuppt sich Rotbarbe, die dagegen recht puristisch inszeniert wird und sich damit viel näher an der Tradition der grosses pièces eine Hans Haas bewegt. Der perfekt gegarte Fisch wird mit einem Safransud (aus Franken …!) nahezu optimal begleitet, denn seine elegante Würze, gepaart mit der Frische von ein paar Spritzern Zitrone, verleiht dem Gang eine absolut gewinnbringende Leichtigkeit, die sich als Kontrast zum erdigen Vorgänger geradezu aufdrängt. Auch der Lack auf der Basis von Safran lässt keine Wünsche offen; das Pain Feuilleté aus Blätterteig mit Kümmel und Salz korrespondiert ebenfalls ausgesprochen gut. Schon öfters pflegte man in diesem Hause auf dem schmalen Grat des Purismus zu wandeln, wo Banalität und schiere Größe oftmals ganz eng beieinander liegen. Hier ist das Wagnis jedenfalls aufgegangen!

Den nächsten Gang empfinde ich hingegen als stilistischen Fehlgriff: Reh aus heimischen Wäldern wird hier zusammen mit Boskop-Apfel von Bellota-Schinken ummantelt. Dazu gibt es Pommes soufflés und eine Sauce Poivrade, deren Gehalt und starke Pfeffernote Gefahr laufen, den Rest des Tellers zuzukleistern. Was mich indes noch mehr als die risikofreie und brave Inszenierung an diesem eher simpel gestrickten Wohlfühlgang an sich stört, ist die erzklassische Ästhetik, die im 20 Meter um die Ecke entfernten Tantris DNA dreimal besser aufgehoben wäre. Wozu hat man denn ein Restaurant von ausgeprägtem Retro-Charakter? Damit man dann im anderen Lokal ebenfalls aus der Zeit gefallene Kompositionen präsentieren kann? Dafür fehlt mir ganz einfach das Verständnis, zumal die Dekoration des Tellers von diesem Umstand offenbar auch noch ablenken möchte. Bei meinem Gespräch mit Christian Bau über veränderte Zeiten und Ansprüche in der Spitzengastronomie meinte dieser vielsagend, man könne heute natürlich nicht mehr wie zu Witzigmanns Zeiten ein Reh mit Birne in einem Sternerestaurant auftischen. Gut, hier handelte es sich zwar um Apfel, aber einen fundamentalen Unterschied konnte ich nicht erkennen. Nach den durchaus überraschenden und zeitgemäßen Gerichten zuvor ging dieser Hauptgang ganz klar in die falsche Richtung. Allenfalls eine überragende Darbietung hätte dieses Menetekel ausgemerzt, doch dies war leider nicht der Fall.

Als erstes Dessert gelangt „Verger“ (Obstgarten) auf den Tisch: ein Mandelparfait bildet die Basis für eine variable Interpretation von Birne in allerlei Texturen. Die Sauce Anglaise aus Vanille, Eigelb und Kampot-Pfeffer aus Kambodscha) streut markige Würze bei in einem ansonsten von Harmonie durchzogenen Nachtisch, der wegen zu großer Gefälligkeit und nur etwas überdurchschnittlichem Handwerk kaum im Gedächtnis haften bleibt.

Etwas besser sieht es beim zweiten Dessert aus, das immerhin dem allgemeinen Trend huldigt und Gemüse in den Mittelpunkt stellt: in diesem Fall gelangt eine getrocknete Powerade auch als Eis auf den Teller und wird in einer leicht bitteren Schokoladencrème drapiert. Eine Art „Sägemehl“ aus klein gestoßenen, mit Whisky aromatisierten Nüssen macht aus diesem praktisch zuckerfreien Gang eine Kreation am Puls der Zeit, deren Mut ich schon bewundere, die aber beim Verzehr zu einer relativ freudlosen Angelegenheit gerät – ein roter Faden oder eine kulinarische Aussage fehlen mir hier.

Der sprunghafte Wechsel zwischen verschiedenen Ästhetiken war an diesem Nachmittag das größte Problem, da der junge Küchenchef Benjamin Chmura noch ein gutes Stück davon entfernt ist, eine eigene Handschrift entwickelt zu haben. Passend zu diesem fundamentalen Problem folgt auf das avantgardistische Dessert wieder ein banaler und erzklassischer Ausklang, der keine nennenswerte Qualität mehr zu bieten hätte: Brioche mit Vanille, Pfirischgelée, Mandelküchlein und Lakritz-Zitronen-Praline schmeckten allesamt so aufregend wie die Ankündigung klang – alles in allem kaum mehr als ein lästiger und pflichtbewusster Ausklang.

Ein wirklich fulminantes Erlebnis war mir bislang bei allen Besuchen im Tantris (der erste war im Jahre 2012) leider noch nicht wirklich vergönnt. Schuld daran war meistens das unterschwellige Gefühl, dass die geforderten Preise zu einer daraus resultierende Erwartungshaltung bei der Produktqualität führten, die längst nicht immer erfüllt wurden. Dass man sich hier neuerdings auch verstärkt dem Thema Gemüse zuzuwenden scheint, ist natürlich löblich, doch klaffen Anspruch und Wirklichkeit immer wieder auseinander. Zu häufig wurden auch diesmal wieder schlichte Gerichte ohne echte Raffinesse oder herausragende Grundprodukte offeriert, um solche Preise letztlich zu rechtfertigen. Natürlich lebt das Tantris in einem hohen Maße von seiner Tradition, seinem Renommée und dem unverwechselbaren Design, doch sollte sich die Küchenleistung eben auf demselben Niveau bewegen. Dass der noch junge Küchenchef sich mit Anfang 30 einer Herkulesaufgabe angenommen hat, dürfte ihm schon klar gewesen sein, denn an der notwendigen Reife fehlte es an mehr als nur einer Stelle noch erkennbar. Aller Anfang ist jedoch bekanntlich schwer – und wo wüsste man das besser als im Tantris, wo vor fünfzig Jahren gegen gewaltige Widerstände angekämpft werden musste?!

Man darf gespannt sein, zu welchen Urteilen die professionellen Tester letztlich gelangen werden. Da dem Lokal die Auszeichnungen für das Jahr 2021 wegen der temporären Schließung über einige Monate aberkannt wurden, steht hier in beiden Lokalen ein kompletter Neustart ein, der für meinen Geschmack im Tantris DNA etwas besser als im Tantris gelungen ist. Gleichwohl ist vollkommen klar, dass ein signifikanter Anteil der Gäste hier mehr Interesse am Wein als am Essen zeigt und teils bereit ist, einen vierstelligen Betrag für eine Flasche Wein zu berappen ohne mit der Wimper zu zucken!

Der erfahrene Service verrichtet seine Arbeit angesichts der Größe des Lokals zwar flink, aber ohne Hast und hat bei Gelegenheit immer noch Zeit für einen kleinen Plausch. Einen Wermutstropfen hatte Monsieur Spanier, seines Zeichens Sommelier, dann doch noch für mich parat, als er mir erzählte, dass Eckart Witzigmann am Samstag der folgenden Woche dort aufkreuzen würde, um dort nicht nur seinen 80. Geburtstag nachzufeiern, sondern auch den ECKART 2021 an Jan Hartwig zu verleihen (der sich ja jüngst vom Atelier verabschiedet hat). Also hatte ich wieder einmal eine Gelegenheit, den Jahrhundertkoch endlich mal in persona zu erleben, verpasst …

Mein Gesamturteil: 17 von 20 Punkten

 

Tantris
Johann-Fichte-Straße 7
80805 München
Tel.: 089/3619590
www.tantris.de

Guide Michelin 2021: –
Gault&Millau 2021: –
GUSTO 2021: –
FEINSCHMECKER 2021: –

6-gängiges Mittagsmenü: € 200

======================================================================

Juli 2019

Nein, hinter diesem Namen verbirgt sich natürlich kein schummriges Rotlicht-Etablissement (obwohl drinnen die Farbe Rot durchaus dominiert), sondern eines der bekanntesten und legendärsten Restaurants von ganz Deutschland. Meinen insgesamt dritten Besuch hier nehme ich zum Anlass, die Historie dieses Lokal einmal zu würdigen.

Zum besseren Verständnis sei allen Nicht-Eingeweihten die Geschichte des Hauses in relativ knapper Form erzählt, denn eine ausführliche Abhandlung würde locker ein ganzes Buch füllen. Wer an der Rubrik „Historie“ kein Interesse hat oder schon mit ihr vertraut ist, der kann auch gleich zur Rubrik „Rezension“ scrollen.

HISTORIE:

Ende der 1960er-Jahre kehrte der Münchner Bauunternehmer Fritz Eichbauer von einer Reise aus Frankreich zurück und bedauerte, dass es in Deutschland in puncto Esskultur absolut nichts Vergleichbares gebe wie in der Grande Nation. Daraus entstand die Idee, ein Restaurant zu eröffnen, das hohen Ansprüchen und großem Genuss gerecht werden sollte. In einer Zeit, in der Konservendosen und Fertigprodukte in Deutschland das kulinarische Maß aller Dinge darstellten, war dies ein ungeheures Wagnis und wurde dementsprechend entweder belächelt oder kritisch beäugt. Der Unternehmer war sich der Tragweite seines Entschlusses allerdings stets bewusst, plante das ganze Projekt nicht weniger als zwei Jahre lang und machte schließlich Nägel mit Köpfen: für den Bau des Restaurants im noblen Münchner Stadtteil Schwabing ließ er sich vom Entwurf des Schweizer Star-Architekten Prof. Justus Dahinden (1925 – 2020) überzeugen. Das im Stil des Brutalismus erbaute graue Betongebäude gehört dabei heute genauso zum unverwechselbaren Erscheinungsbild wie das hummerrote 70er-Jahre-Interieur, das bis heute nahezu unverändert erhalten geblieben ist. Vor dem heute denkmalgeschützten Gebäude befinden sich außerdem einige von Bruno Weber entworfene Fabelwesen aus Beton sowie eine Bodenplatte mit den Handabdrücken der bisherigen Köche – dazu gleich noch mehr. Gar nicht hoch genug einzuschätzen ist die Tatsache, dass Fritz Eichbauer natürlich genau wusste, dass nicht nur ein unverwechselbares Interieur ein Teil des Faszinosums Tantris sein konnte, sondern auch eine herausragende Küche. Tatsächlich wäre die Geschichte der Haute Cuisine in Deutschland ohne das Tantris, dieser Wiege gehobener Esskultur, vollkommen undenkbar. Wie kam es dazu?

Als Küchenchef wurde ein gewisser Eckart Witzigmann vom Kennedy-Clan aus Washington D.C. abgeworben. Der seinerzeit 30-jährige, für damalige Verhältnisse bereits sehr erfahrene, aber hierzulande vollkommen unbekannte Koch wurde der erste von bislang nur drei verschiedenen Küchenchefs in der Geschichte des Hauses. Von der Eröffnung des legendären Hauses am 26. November 1971 bis zum Jahre 1978 führte er das Haus hochprofessionell und machte es zum ersten Zwei-Sterne-Etablissement in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Leistung des Chefs ist dabei gar nicht hoch genug einzuschätzen, denn damals waren Luxusprodukte nur mit großen Mühen zu beziehen. Außerdem wurde das Restaurant oft als „schönstes Feuerwehrhaus“ oder „teuerste Autobahnraststätte“ Deutschlands verspottet. Mit anderen Worten: eine Akzeptanz für die Haute Cuisine zu schaffen war damals ein gigantisches Problem, denn ein Restaurant muss nun einmal wirtschaftlich denken und kann es sich langfristig nicht erlauben, nur eine Nischenklientel zu bedienen. Witzigmann wollte allerdings verständlicherweise irgendwann sein eigenes Restaurant führen, kehrte dem Tantris Ende der 70er-Jahre den Rücken und hob am Münchner Maximiliansplatz 1978 sein legendäres Restaurant Aubergine aus der Taufe. Das erste Drei-Sterne-Restaurant Deutschlands führte er bis 1994, als ihm die Lizenz wegen einer Kokainaffäre entzogen wurde. Im selben Jahr ernannte ihn übrigens der Gault&Millau zum „Koch des Jahrhunderts“ – ein Titel, der seither nicht wieder vergeben worden ist und der zuvor nur drei Mal an ausschließlich französisch-sprachige Köche verliehen wurde (an Paul Bocuse, Joël Robuchon und den Schweizer Frédy Girardet). Dem Tantris und Fritz Eichbauer ist Witzigmann allerdings bis heute freundschaftlich verbunden geblieben. Nicht zu unterschätzen ist übrigens auch der Einsatz des damals noch relativ unbekannten Kritikers Wolfram Siebeck (2016 verstorben), der sich in seinen Essays unermüdlich für die Hochküche einsetzte und natürlich auch das Tantris immer wieder ausführlich würdigte. Ohne den Einsatz des später zum Kritikerpapst erhobenen Wolfram Siebeck wäre die Geschichte möglicherweise anders gelaufen.

Witzigmanns Nachfolger wurde der damalige Souschef und gebürtige Süftiroler Heinz Winkler, der seine große Chance sehr wohl erkannte, das Haus mit genauso viel Elan weiterführte und von 1982 bis 1991 in die Drei-Sterne-Liga katapultierte. Anfang der 90er-Jahre erlag jedoch auch der zweite Koch der Versuchung, sich selbständig zu machen und eröffnete die schmucke Residenz Heinz Winkler in Aschau im Chiemgau. Die Übernahme des baufälligen Anwesens am Kirchplatz von Aschau galt damals als großes Wagnis, doch heute ist diese Adresse längst fest in den Köpfen der Gourmets verankert (siehe meine Rezension von 2017). Winkler führte das Haus ebenfalls zu drei Michelin-Sternen, die er bis ins Jahr 2009 hielt. Er ist bis heute noch dort tätig, tritt wegen gesundheitlicher Probleme allerdings etwas kürzer. Der nicht minder legendäre Koch, der heuer 70 Jahre alt wird, behält trotzdem bis zum heutigen Tag zwei Sterne und ist Fritz Eichbauer und dem Tantris natürlich ebenfalls verbunden geblieben.

Seit 1991 leitet der nunmehr zweite Österreicher, Hans Haas, die Küche. Der Kreis schließt sich somit, denn bis zum Zeitpunkt seines Amtsantritts war Haas unter anderem schon der Souschef von Witzigmann in dessen Aubergine gewesen. Dass Haas 28 Jahre später immer noch am Herd (der übrigens noch der Originalherd von Witzigmann aus dem Jahre 1971 ist) stehen würde, hätten wohl auch die Wenigsten geahnt. Seit damals wird das Tantris mehr oder weniger durchgehend mit zwei Sternen und 18 Punkten im Gault&Millau bedacht – eine mehr als beachtliche Leistung. Die Geschäftsleitung des Restaurants, die inzwischen Eichbauers Sohn Felix mit seiner Frau übernommen hat, kündigte an, dass Haas Ende 2020 in den verdienten Ruhestand gehen werde. Nach einer kurzen Phase der Schließung soll das Restaurant pünktlich zum 50-jährigen Jubiläum dann 2021 wieder eröffnet werden. Wer dann der neue Chefkoch wird, ist eine der heißesten und meistdiskutierten Fragen. Nur zu gerne hätte ich diese auch mit dem Senior-Chef Fritz Eichbauer durchdiskutiert, denn der inzwischen 92-Jährige war an diesem Abend mit seiner Frau ebenfalls anwesend. Nach allem, was ich so gehört habe, wird der derzeit arbeitslose Martin Fauster dem neuen Königshof im Jahre 2021 wohl wieder zur Verfügung stehen, so dass das derzeit größte Kaninchen, das die Geschäftsleitung aus dem Hut zaubern könnte, mit Sicherheit Thomas Bühner wäre. Der ehemalige Chefkoch des 2018 Knall auf Fall geschlossenen Drei-Sterne-Lokals La Vie in Osnabrück wäre jedenfalls mein Wunschkandidat.

Nicht zu unterschätzen in ihrer Bedeutung für das Haus ist auch Paula Bosch, hochkompetente Sommelière für zwei Jahrzehnte bis zum Jahre 2011. Ihr Nachfolger, der als Paradiesvogel bekannte Kanadier Justin Leone, hielt dem Haus leider nur bis Ende 2017 die Treue. Beide hievten mit ihrem profunden Weinwissen das Haus auf ein Niveau, das es zuvor so nicht kannte und es zu einer Anlaufstelle für Vinophile macht. Heute ist der Weinkeller des Hauses eine stetig gewachsene Schatzkammer voller Raritäten und hochpreisiger Pretiosen, für den nicht wenige Gäste eigens anreisen. Das Tantris hat also auf unglaublich vielen Gebieten Maßstäbe gesetzt. Wer sich für die ausführliche Dokumentation interessiert, dem sei das 2014 erschienene kiloschwere Buch über das Restaurant nahegelegt, das auch im Buchhandel bezogen werden kann. Dort finden sich neben Anekdoten und reichlich Rezepten beispielsweise auch Kopien von Gästebucheinträgen von so unterschiedlichen Personen wie Woody Allen, Otto Waalkes, Wolfram Siebeck, Loriot und John D. Rockefeller.

REZENSION:

Durch die Drehtür betritt man das Interieur des legendären Etablissements, das mit seinen roten Wänden und Tequila-Sunrise-Lampen die Design-Ikone bleibt, die es schon immer gewesen ist. Das ziemlich verschachtelte Lokal mit mehreren Ebenen und hohen Decken beherbergt im besten Fall bis zu 120 Gäste – das mit Abstand größte Sternerestaurant der Republik. Dennoch ist das Lokal an vier Tagen die Woche mittags und abends praktisch immer gefüllt, denn für die Schickeria ist dies eine der mondänsten und verlässlichsten Adressen in München. So verwundert es auch nicht, dass zwischen 19 und 20 Uhr praktisch im Zwei-Minuten-Takt ein Taxi vorfährt und Gäste kutschiert, die durchaus in gehobener Garderobe (dies ist vom Lokal auch so gewünscht) hier erscheinen und gehoben speisen möchten.

Glücklicherweise sitze ich auch dieses Mal wieder an einem vollkommen anderen Platz wie bei den zwei Besuchen zuvor und lasse abermals die neue Perspektive auf mich wirken. Die heimelige und fast schon kuschelige Atmosphäre hat in all den Jahrzehnten nichts von ihrem Charme verloren und erzeugt ein Wohlfühlambiente, das sich schwer in Worte fassen lässt. Auffällig sind auch die blumigen, von Talbut Runhof entworfenen Luxus-Kleider, die der Service neuerdings trägt. Kaum Platz genommen, wird mir schon die Karte gereicht, die neben zwei Menüs zu fünf bzw. acht Gängen auch die Option auf ein Schlemmen à la carte offeriert. Ich entscheide mich für das achtgängige Gourmetmenü zum stolzen Preis von € 235 und lasse mir von der ausgezeichneten Bar dazu einen „Sportsman“ kredenzen. Nach einer unauffälligen Brotauswahl wird als Gruß aus der Küche eine ausgebackene, mit Aubergine gefüllte Sardine gereicht, die auf einer feinen Schnittlauchcrème ruht – ein gefälliger Einstieg, der sich angenehm zurückhaltend gibt. Die Brotauswahl dagegen ist reine Routine.

Auf weitere Grüße muss der Gast verzichten, denn es geht umgehend mit dem Einstieg ins Menü weiter: pochierte Entenleberterrine, rosa Entenbrust, Sellerie, Sanddorn und Trüffelmarinade ist ein für die Küche von Hans Haas typisches Gericht. Alle Produkte sind ohne großartige Verfremdung auf den Teller gebracht und gut zu erkennen. Seinen Reiz bezieht das Gericht aus der kunstvoll arrangierten Terrine (herrlich gekühlt) und der überaus sorgsam austarierten Balance der Komponenten – eine Lehrstunde in Sachen klassisches Handwerk, die ihre Wirkung nicht verfehlt.

Lauwarme Bachforelle, Pfifferlinge, Kohlrabi und Kräutersud ist eine weitere Komposition, in der nichts geschmacklich verfälscht wird. Die auf einem Kohlrabi-Brunoise ruhende Forelle hat große Ausdruckskraft und wird vorsichtig in ihrer Wirkung durch die Pilze verstärkt, während der Kräutersud nicht zu dominant auftritt und dem Fisch die ihm gebührende aromatische Wirkung einräumt. Ein bescheiden wirkendes Gericht, doch in Summe sehr schön umgesetzt!

Der Höhepunkt des Abends (zusammen mit dem Hauptgang) ist ausgelöster Hummer, Hummerravioli, Melone und Zitronengrascrème. Die etwas weniger als gewohnt bissfeste Konsistenz des Hummers beeindruckt, doch die sommerlich anmutende Begleitung durch einfache Produkte, die zudem klar erkennbar bleiben, macht aus diesem Gang eine kleine Aromenbombe, die voll einschlägt. Die straffe Säure, die das Gericht dominiert, ist vorbildlich ausgelotet und sorgt für langen Nachhall am Gaumen.

Ochsenschwanzessenz mit Frittaten (auch bekannt als Flädle) schmeckt intensiv, zumal sie noch mit etwas Karotten-Brunoise veredelt wird. Als Ärgernis empfinde ich es allerdings schon, dass ein derart harmloser und schwerlich als Zwei-Sterne-Niveau zu rechtfertigender Einschub, der anderswo locker ein Gruß aus der Küche oder eine nicht annoncierte Zwischenüberraschung sein könnte, als vollwertiger Gang auf der Karte verzeichnet ist. Es wird nicht das letzte Mal an diesem Abend bleiben, dass hier mit subtilen, aber fragwürdigen Mitteln an der Preisschraube gedreht wird. Dazu später noch mehr.

Es folgt die ernsthafteste Prüfung: gratinierte Lammkoteletts mit Bohnen und Artischocken. Wenn ein derart schlichtes Gericht aufgetischt wird, dann muss es schon durch allerhöchste handwerkliche Finesse gerechtfertigt werden. Genau dies ist jedoch der Fall, denn die beiden Koteletts, die zum einen mit einem Kräutermantel und zum anderen mit einem superben Tomatenpesto getoppt sind, könnten kaum trefflicher geraten: äußerst saftig und perfekt gebraten. Da stört auch eine vergleichsweise bescheidene und zurückhaltende Begleitung nicht im Geringsten. Superb!

Bis hierhin verlief der Abend noch in etwa so wie man es im Vorfeld erwarten durfte. Was aber von nun an folgt, grenzt jedoch an einen Affront: der Käsegang, Citeaux und Comté, besteht aus einem Teller mit einem Streifen Sauerrahm, etwas Birnenchutney, zwei Scheiben Brot und zwei naturbelassenen Portionen von den beiden Käsesorten. Dass ein Käsewagen schon allein aufgrund der räumlichen Gegebenheiten mit mehreren Ebenen und verwinkelten Stellen kaum durch den Raum zu schieben wäre, ist eine Sache. Die Tatsache, dass ein ordentlicher Käsewagen allerdings mindestens 20 Sorten zu bieten hat, sollte dann aber, wenn es schon einen Käsegang und keinen Käsewagen gibt, durch eine entsprechende Kreation wieder aufgefangen werden. Das ist aber auch nicht der Fall, denn dieser Teller beinhaltet nichts, was nicht auch ein Amateur beispielsweise nach einem Besuch bei Affineur Waltmann in Erlangen für erheblich weniger Geld auftragen würde. Der an Einfallslosigkeit nicht zu überbietende Teller stellt weder eine Auswahl noch ein komponiertes Gericht dar und enttäuscht auf ganzer Linie: unter diesen Umständen sollte man den Käsegang am besten gleich ganz unter den Tisch fallen lassen. Mein Fazit bei diesem Teller: alles Käse (und das Doppeldeutige ist durchaus beabsichtigt).

Eine Hommage an Grundtugenden der Haute Cuisine und vergangene Zeiten gleichermaßen ist das erste Dessert, das mich nochmals halbwegs versöhnlich stimmt: Bananensoufflé und bayrische Erdbeeren wird durch das mustergültige Soufflé vor der Banalität gerettet, punktet aber ansonsten weder durch große Ausdruckskraft, ansprechende Optik oder überdurchschnittliche Kreativität.

Das zweite Dessert ist jedoch am Rande des Inakzeptablen: Schokolade, Himbeere und Vanille schmeckt genauso aufregend wie es klingt und erweist sich – man muss das wohl leider so deutlich formulieren – dem Anspruch eines Zwei-Sterne-Restaurants als nicht angemessen. Das durch und durch einfallslose und beliebige Dessert bietet eine Ansammlung von Banalitäten, die mühelos von jedem Ein-Stern-Etablissement zu toppen wäre: (keineswegs herausragendes) Himbeer- und Vanilleeis, umspielt von zwei eingelegten Himbeeren und einer Halbkugel von Schokoladencrème, die mit gelierter Himbeere überzogen ist. Spontan drängt sich mir der Titel von Françoise Sagans berühmtestem Roman auf: „Bonjour Tristesse“! Auch die Ausklänge sind bestenfalls solide und bieten so Aufregendes und Neuartiges wie eine Schokoladen-Rum-Praline oder einen Mini-Käsekuchen. Man wird den Eindruck nicht los, dass die Patisserie die neuesten Entwicklungen auf diesem Gebiet seit den 80er-Jahren irgendwie noch nicht mitbekommen hat. Dazu passt, dass ich in keiner einzigen Quelle den Namen eines Chef-Patissiers in diesem Haus finden konnte – es scheint ihn offensichtlich gar nicht zu geben. Das ist jedoch für den Anspruch eines solchen Lokals eine kaum vorstellbare Schwachstelle und untermauert, dass auf diesem Gebiet die Einläutung der Zukunft gehörig verschlafen wurde. Da wirkt der Hinweis darauf, dass man im Tantris eben frei von allen Moden und Trends aufkochen würde, als zu magere Rechtfertigung.

Der Service hat in so einem großen Haus natürlich alle Hände voll zu tun und meistert seine Aufgabe im Wesentlichen überzeugend. Maître Boris Häbel (zuvor tätig im Lorenz Adlon Esszimmer in Berlin) dirigiert seine Truppe aufmerksam und sicher, doch echte Herzlichkeit und Gelassenheit bleiben bei den meisten Mitarbeitern dabei öfters auf der Strecke. Dass die ganze Menüfolge in drei Stunden abgewickelt wird, wirkt auch ein wenig hektisch und trägt weder zur Entspannung noch zum Eindruck, dass jedem Gang eine überaus große Sorgfalt gewidmet wird, bei. Womit wir beim entscheidenden Thema wären: eine schlichte Küche ist angesichts der Größe des Lokals fast schon Pflicht, doch das muss per se natürlich keinen Mangel darstellen. Problematisch wird es dann, wenn die Grenze zur Banalität erreicht wird und in Relation zur Rechnung gesetzt wird. Das Menü schlägt – wie bereits erwähnt – mit saftigen € 235 zu Buche; hinzu kommen stolze Preise für weitere Getränke. Dass die Klientel hier mehrheitlich nicht groß aufs Geld schauen muss, ist auch klar; insofern besteht ja seitens der Geschäftsleitung auch keine große Notwendigkeit, an der Preisschraube nach unten zu drehen, wenn man das Lokal ja auch so ständig voll bekommt. Dennoch bleibt ein fahler Beigeschmack, wenn man bedenkt, dass bei diesem Preis außer genau einem Amuse und höchst gewöhnlichen Petits fours nichts weiter inkludiert ist. Dafür werden im Gegenzug auch noch ein Käsegang, der den Namen schlicht nicht verdient, und eine Essenz jeweils als eigener Gang tituliert. Unterm Strich steht somit ein grenzwertiges Preis-Leistungs-Verhältnis, das alle, die nicht beliebig viel Geld haben, schon abschreckt. Insofern ist das Lokal für Vinophile (mit dicken Portemonnaies) auf jeden Fall attraktiver als für Gourmets, die beispielsweise im Baiersbronner Bareiss zum selben Preis erheblich mehr (und von der Patisserie auch erheblich Besseres) geboten bekommen. Die Weinpreise selbst gehören auch noch angesprochen: hier werden begleitende Weine zum Menü offen ausgeschenkt, die so kostspielig sind, dass schwächere Restaurants diese nicht einmal flaschenweise verkaufen würden, weil sie darauf sitzen bleiben könnten. Wer zu diesem achtgängigen Menü den vorgeschlagenen Weinempfehlungen (ein Deziliter pro Gang) folgt, berappt dafür nämlich zirka € 250 – und damit nochmals genauso viel wie für das Essen.

In ihren besten Momenten zelebriert die Küche von Hans Haas eine Hommage an klassische Tugenden, traumwandlerisch sicheres Handwerk und großen, unverfälschten Geschmack. Die leichte Fassbarkeit der Gerichte ist zugleich eine ihrer größten Stärken. Eingebungen wie der trefflich begleitete Hummer oder das saftige Lamm legen beredtes Zeugnis davon ab, dass man Luxusprodukten wie ganz gewöhnlichen Produkten gleichermaßen unglaubliche Geschmacksnuancen und große Ausdruckskraft entlocken kann, wenn man sein Handwerk so beherrscht wie es Hans Haas tut. Dem gegenüber stehen allerdings Momente, die an Plattitüden der peinlichsten Art erinnern: der Käsegang und das zweite Dessert stellten einen Offenbarungseid dar. Wenn ein Restaurant dieses Kalibers es zulässt, dass derart nichtssagende und außerordentlich schwache Gänge serviert werden, dann macht mich das fassungslos. Vor diesem Hintergrund komme ich kaum umhin festzustellen, dass die Höchstnote von 5 F, die der FEINSCHMECKER seit Jahren vergibt, jedenfalls längst nicht mehr angemessen ist. Die zwei Michelin-Sterne haben in den stärkeren Momenten sicherlich ihre Daseinsberechtigung, doch auch die 18 Punkte im G&M sind für mich keineswegs mehr unantastbar. Kaum vorstellbar zwar, dass die Profi-Guides in Haas‘ letztem Jahr nochmals einknicken werden, doch für den Nachfolger gibt es einige Gebiete, wo der Hebel einfach angesetzt werden muss. Will das Tantris an dem an sich selbst gestellten Anspruch – weiterhin Maßstäbe zu setzen, modern zu bleiben und außergewöhnlich gut zu sein – nicht scheitern, dann besteht hier in naher Zukunft ganz klar Handlungsbedarf. Bis zur Neueröffnung 2021 sehe ich jedenfalls derzeit keinen Anlass, hier nochmals vorbeizuschauen, zumal selbst viele Drei-Sterne-Restaurants preiswerter sind (das jüngst von mir besuchte De Leest ist ein extremes Beispiel). Wer hier isst, kann ein tolles Interieur bewundern, tut derzeit ansonsten aber eher etwas für seinen eigenen Status als für den reinen Genuss.