Stadtpfeiffer*, Leipzig (UPDATE)

„Der Frühling ist zwar schön;
doch wenn der Herbst nicht wär‘,
wär‘ zwar das Auge satt,
der Magen aber leer.“
(Friedrich Freiherr von Logau)

UPDATE (September 2024)

Ein Konzert im Gewandhaus zu Leipzig lieferte mir einen willkommenen Anlass für den nächsten Besuch hier: Anton Bruckners 8. Sinfonie unter dem Dirigat des legendären, inzwischen 97 Jahre alten Herbert Blomstedt zu erleben schien mir eine Gelegenheit zu sein, die ich als ernsthafter Musiker auf keinen Fall verpassen durfte. So nahm ich wieder Kontakt mit Detlef Schlegel auf und fragte den Chef, ob denn ein ähnliches Arrangement wie beim letzten Mal kurz vor Silvester denkbar wäre: ein erster Teil vor dem Konzert, dann das Konzert selbst und zum Abschluss den zweiten Teil des Festmahls. Selbstverständlich erhielt ich ohne Umschweife eine Zusage und freute mich sehr auf die nächste herausragende Darbietung. So wird mir zuliebe das eigentlich fünfgängige Menü zum ohnehin sehr fairen Preis von € 165 wieder um zahllose Extras grandios aufgewertet – offenbar habe ich bleibende Eindrücke hinterlassen!

Gerade zur Herbsteszeit sollte ein Besuch hier ernsthaft erwogen werden: die profunden Kenntnisse des Chefs und seiner Mitarbeiter rund um seltene Pilze zahlen sich auf den Tellern stets aus. Jedenfalls baute ich genau darauf, denn bereits unsere erste Einkehr vor drei Jahren erfolgte hier im Herbst, auch wenn die Umstände wegen Corona natürlich damals noch andere gewesen waren – zumal auch das Knall auf Fall geschlossene Falco damals noch existierte. Seither hat sich Detlef Schlegel fraglos auf die Spitzenposition in ganz Sachsen vorgearbeitet, denn seine gar nicht so kompliziert daherkommende, aber stets erfreulich individuelle Küche wirkt so als hätte sie ihr Potential noch längst nicht ausgereizt. Im Gegenteil scheint der wunderbar geerdete und überaus herzliche Chef mit sechzig Jahren gerade seinen dritten Frühling zu erleben und strebt weiter nach oben. Schon die Ernennung zum Koch des Jahres durch den GUSTO vor drei Jahren kam einigermaßen überraschend, doch seither geht es noch weiter bergauf. Ich bin im Grunde genommen immer noch fassungslos, dass ich während so vieler Besuche in Leipzig in früheren Jahren nie hier einkehrte und mir inzwischen eine Stippvisite in der Sachsenmetropole ohne ein Mahl im Stadtpfeiffer gar nicht mehr vorstellen möchte! Nicht nur die Darbietungen der Küche liefern dafür genügend Gründe, sondern auch die stets herzliche und wunderbar persönliche Servicetruppe unter der Leitung von Ehefrau Petra Schlegel beeindruckte uns schon bei den zwei vorangegangenen Besuchen außerordentlich.

So kehren wir wie geplant um 17.30 Uhr ein und erhoffen uns erneut eine Parade, die einen außergewöhnlichen Konzertabend auf lukullische Weise krönen soll. Schon das Amuse setzt wieder ein Ausrufezeichen – und was für eines! Zweierlei Pilze, die in aller Herrgottsfrühe am selben Morgen von einem Küchenmitarbeiter mit Hilfe der Stirnlampe aus umliegenden Wäldern eingesammelt wurden, könnten folglich nicht frischer sein: zum einen findet man auf dem Teller den Klapperschwamm, einen erklärten Liebling des Chefs, der in einer herzhaften Apfel-Zwiebel-Marinade gebeizt wurde. Noch bemerkenswerter gerät allerdings der à part gereichte und mir bis dato gar nicht bekannte Leberreischling, dessen Geschmack trotz seines Namens leicht fruchtig gerät und durch das Einlegen in Apfelessig und Marinieren in Salzzitrone eine Konsistenz bekommt, die an eine sehr weich gekochte Rote Bete erinnert. Der passende Begleiter zu dem puristischen Einstieg ist eine scheinbar simple, ganz knapp gebratene und geräucherte Forelle, die mit ihren komplementären Aromen perfekt dazu passt – selbst diesem einfachen Produkt entlockt die Küche einen Geschmack weit über dem Durchschnitt, der die spezifische Aromatik dieses Fischs praktisch perfekt betont. Äußerst selten bekommt man einen derart ungewöhnlichen Teller gleich zu Beginn, dem nichts hinzuzufügen ist und der dem Stammgast quasi ohne Umschweife schon die erste Rechtfertigung für einen weiteren Besuch liefert.

Die weiterhin hochwertige Brotauswahl blieb zwar unverändert, aber im Grunde genommen gab es keinerlei Anlass, daran etwas zu ändern. Salzige Brioches bekommt man übrigens nicht so häufig vorgesetzt, doch in dieser Selektion sind sie ein unverzichtbarer Bestandteil.

Die Gerichte, die wir im Laufe des Abends präsentiert bekommen, sind zum Teil auf der regulären sowie der vegetarischen Karte zu finden, während andere gar nicht darauf vorkommen und fast einer Laune des Chefs zu entspringen scheinen – wenn dem wirklich der Fall sein sollte, dann muss Detlef Schlegel ein echtes Händchen fürs Improvisieren und ein seltenes Maß an Inspiration besitzen.

Die schön glasige, roh marinierte Jakobsmuschel von bestechender Qualität paart die Küche beispielsweise mit der Scheibengurke, einem ursprünglich aus Südamerika stammenden Gewächs, das allerdings immer häufiger in heimischen Gärten zu finden ist. So stammt das Rohmaterial für diesen Teller aus dem Garten eines Mitarbeiters, der ein besonders Faible für dieses Gewächs entwickelt zu haben scheint – eine Information, die wir aus erster Hand von ihm selbst am Platz erhalten. Der alles andere als vorhersehbare Begleiter ist vielseitig einsetzbar, finden doch diverse Teile der Pflanze Verwendung auf dem Teller. Das leicht bittere, aber recht kräutrige Aroma harmoniert stimmig mit der Corail der Muschel (die hier meines Wissens immer auf dem Teller landet und nie entsorgt wird), wird aber durch Minze, Senfsaat und Pfeffer animierend veredelt. Zur Abrundung dieses erneut ungewöhnlichen Tellers empfiehlt Petra Schlegel übrigens einen Saft von Apfelminze aus dem Hause Kohl in Südtirol. Wer der Haute Cuisine (ob nun zurecht oder nicht) hierzulande vorwirft, immer uniformer und damit langweilig zu wirken, dem werden im Stadtpfeiffer ganz schnell alle Argumente ausgehen! Dieser Teller ist zwar nicht der Höhepunkt der Menüfolge, aber dennoch exzellent, sehr durchdacht und den Gast aus der Komfortzone lockend.

Vor der kühnsten Kreation des Abends hegte ich leichte Befürchtungen, da Melone nicht unbedingt zu meinen Lieblingen gehört. Doch damit nicht genug: die Ankündigung, welche Begleiter das Hauptprodukt umspielen sollten, wirkte auf mich noch befremdlicher. Dabei hätte ich mir doch denken können, dass ich ein Trottel sein müsste, wollte ich auf den kommenden Gang verzichten! Selbstverständlich ging ich nicht von einer Enttäuschung aus, doch in der Praxis entpuppte sich dieser Teller als eine grandiose Eingebung ohnegleichen, die ich bei einer Blindverkostung höchstwahrscheinlich nur einem Großmeister von internationalem Format wie Jan Hartwig zugetraut hätte. Das Gebotene ist Exzellenz auf jeder Ebene: die allen Ernstes in Teriyaki (!) marinierte und knapp gegrillte Wassermelone bittet zu einem hinreißenden Reigen aus salzigem Erdnuss-Karamell, Erdnüssen und Avocado, der seinen Reiz nicht nur aus der spannenden Würze von Koriander und eben Teriyaki bezieht, sondern auch mit wunderbar harmonischen Texturen und einer üppigen Mundfülle. Die Melone selbst erlangt fast den intensiven Geschmack einer vollreifen Tomate und ist auch in puncto Konsistenz gar nicht so weit davon entfernt. Einer Kammersinfonie gleich greift hier ein Rädchen ins andere: bis ins letzte Detail ausgearbeitet und von umwerfenden Geschmack! Dazu noch ein Glas Rosenzauber von Jörg Geiger, und mein Fazit steht: abseits aller Routine ersann der Meister einen ganz heißen Kandidaten für meine Menüfolge des Jahres!

Zu Apfelsaft mit Kamille vom Obsthof Retter in der Steiermark reicht man sodann echtes Soulfood: weniger kompliziert, aber sehr ansprechend und handwerklich makellos präsentieren sich die ebenfalls tagesfrischen, roh gehobelten und angebratenen Steinpilze mit Kalbszunge, Liebstöckel und Karotte. Dank klug dosierter Intensität wird daraus ein bekömmliches und launiges Intermezzo, das noch genügend Platz für aromensattere Gänge lässt und sich als Drosselung zur rechten Zeit erweist.

Schnell wird es jedoch wieder kraftvoller bei Oktopus von vorzüglichem Biss und optimalem Garpunkt. Die Kalamata-Olive findet auch als Tapinade Verwendung und wird so zu einem markigen Begleiter, der mit der Würze von Shisokresse wunderbar korrespondiert. Trotz der farbenfrohen Inszenierung ist dieser Teller voll auf die drei Hauptkomponenten fokussiert und punktet mit großer Transparenz, denn hier tummelt sich nichts Überflüssiges. Der konzentrierte, herzhafte Geschmack wird mit Ananasrenette-Saft aus dem Hause Kohl ungewöhnlich begleitet, welcher den ohnehin schon starken Gesamteindruck abrundet. Einmal mehr ist die zauberhafte Kombination, der nichts Routiniertes oder Bewährtes anhaftet, ein großer Pluspunkt.

Zur Erfrischung reicht man vor dem letzten Gang des ersten Teils ein Sorbet von Verbene, dessen Qualität mühelos überdurchschnittliche Sphären erreicht: von ätherischem, geradezu betörendem Geschmack, wurde die Verbene frisch vom Hochbeet geerntet und mit einem höchst seltenen australischen Zitronenblatt ausgesprochen frisch, überraschend herb und zugleich säurebetont begleitet – in jeder Hinsicht animierend und überraschend!

Reduktion in ihrer schönsten Ausprägung gibt es beim Finale des 1. Akts zu bestaunen: die saftigste Seezunge seit langer Zeit schwenkt die Küche in brauner Butter und bettet sie auf gedämpften Portulak und Salz-Alant. Diese Korbblütler, denen beispielsweise auch die Edelwurz angehört, verströmen einen leicht bitteren Geschmack, der sämtliche Sinne schärft. Diese liefern den notwendigen Kontrast zum deutlich herzhafteren gebackenen Ei und der Beurre blanc, die mit den Karkassen ausgekocht und mit der braunen Butter veredelt wurde. Trotz der durchaus präsenten Entourage bleibt dem Hauptdarsteller genügend Raum zur Entfaltung, so dass man die spezifische Konsistenz und den typischen Geschmack noch mehr zu schätzen weiß. Dazu noch ein alkoholfreier Sauvignon blanc – und das Glück ist perfekt! Jetzt kann das Konzert kommen!

Auch der zweite kulinarische Akt nach dem grandiosen Konzert im Gewandhaus beginnt (anders als Bruckners Achte) mit einem Paukenschlag: die exotisch klingende Kombination von Lachs mit Himbeere und Sauerklee erweist sich in der Realität als ein echter Knaller! Zu alkoholfreiem Scheurebensaft vom Weingut Stahl in Franken spielt der Lachs von großartiger Textur und Qualität seine buttrige Qualität voll aus, obwohl die Himbeere in ihrer Vielfalt weiß Gott nicht demütig auftritt: als Granité, Sud und mit Crème fraîche gefüllte Frucht wird sie zum ebenbürtigen Begleiter von belebender Säure. Die kühne Konstellation wird durch den klugen Einsatz von Sauerklee stimmig miteinander verbunden, so dass einmal mehr eine fast schon bizarr anmutende Liaison so prächtig gelingt als gäbe es nichts Selbstverständlicheres!

Wegen der schwierigen Lichtverhältnisse habe ich es mal mit Blitzlicht versucht, schwenke aber zurück zur Variante ohne künstliche Beleuchtung, weil es natürlicher wirkt – alles in allem eine diskutable Entscheidung. Im Vergleich zum Vorgänger wirkt das Hauptgericht jedenfalls deutlich ernster und fast ein wenig brav, aber dennoch wird auch die Taube Teil der Leistungsschau: die exemplarische Zubereitung von geräuchertem Filet und Brust im Ofen muss man auch erst einmal so hinbekommen. Mineralische Noten von großer Tiefe und langem Nachhall prägen den Geschmack, der mit gegrilltem Kürbis, Gel von Sanddorn sowie einem Bällchen mit Taubenklein und -jus herbstlich dezent begleitet wird. Die Messlatte bei Vergleichen mit Taube hängt hoch (ich denke da an herausragende Darbietungen bei Klaus Erfort oder im Essigbrätlein), aber in der Oberliga ist dieser Teller allemal angesiedelt, zumal ein körperbetonter, alkoholfreier Cabernet Sauvignon vom Obsthof Retter einen praktisch idealen Begleiter darstellt.

Auskomponierte Käsegänge gibt es hier in schöner Regelmäßigkeit zu bewundern, selbst wenn sich tendenziell einige Elemente auf diesem Gebiet wiederholen. Dennoch entbehrt der etwas schlichter in Szene gesetzte, milde Ziegenkäse Sainte-Maure nicht eines gewissen Reizes: das Sorbet von Reineclaude sowie die erstaunlich vielseitige Verwendung der gelben Bohne (bezogen aus dem Garten eines Küchenmitarbeiters, der uns am Tisch die Vorzüge und Mannigfaltigkeit des Gewächses erklärt) machen aus diesem Beitrag mit Leichtigkeit einen Gang, der trotz der fortgeschrittenen Stunde immer noch alle Sinne in Anspruch nimmt und fesselt. Gerade das virtuose Spiel mit unterschiedlichen Temperaturen besticht besonders, wenngleich auch die Qualität des Sorbets mehr als nur eine Fußnote verdient. Das unverwechselbare Aroma von Wild-Quittensaft (Obsthof Retter) mit seiner leichten Säure korrespondiert zudem wunderbar mit den Edelzwetschgen und zeugt einmal mehr von einem durchdachten Gang. Stark!

Auch das Dessert fasziniert schon von der Optik her, denn an Vergleichbares können wir uns kaum erinnern. Lediglich die dezente Umrandung mit Kaffee- und Karamellpulver kommt mir noch vom Gänselebergang im Vorjahr her bekannt vor, doch mit dem Rest betritt die Küche offenbar wieder einmal Neuland: in einem regelrechten Feuerwerk an Texturen werden hier Birne und dunkle Schokolade in einer derart launigen Vielfalt und ohne jede Exaltiertheit interpretiert, dass es eine wahre Wonne ist. Dennoch wäre dieses eher dezent-süße Dessert ohne die Veredelung mit Earl Grey, Zitronenmelisse und vor allem schwarzem Nachtschatten – ein Gewächs, dessen Aromatik am ehesten mit Holunder zu vergleichen ist – um eine bedeutende Facette ärmer. Es bedarf große Findigkeit und Akkuratesse, selbst um diese Uhrzeit noch ein derart faszinierendes und sämtliche Sinne schärfendes Dessert zu offerieren – sehr beachtlich! Passend dazu schenkt man als gewagtestes Getränk des Abends Granatapfelsaft vom Obsthof Retter ins Glas, der mit seiner säuerlich-herben Aromatik die Geschmackspapillen noch ein letztes Mal an diesem Abend aufs Äußerste fordert.

Das Quintett an Friandises und Pralinés macht qualitativ nahtlos dort weiter, wo man zuvor aufgehört hatte: weißer Nougat, Pistazientarte, Erdnuss-Praline, Sanddorn-Macaron und die Nougat-Tartelette machen allesamt sehr viel her. Mein Favorit ist der überragende Macaron …

Diese dritte Stippvisite in Sachsens fraglos bestem Restaurant bestätigte einmal mehr all die Erkenntnisse, die wir schon nach den ersten beiden Besuchen gewonnen hatten: hier trumpft ein Meister seines Fachs auf, dem die Ideen nicht ausgehen wollen und der mit sicherer Hand seine inspirierten Eingebungen umsetzen kann. Dabei kann man sich stets sicher sein, nicht nur von einem traumwandlerisch sicheren Handwerk, sondern auch von ausgewogenen und harmonischen Tellern zu profitieren, denen niemals etwas Übertriebenes oder Gekünsteltes anhaftet, selbst wenn manche Kreationen durchaus mal bunter ausfallen als andere. Der größte Trumpf ist jedoch die absolute Unvorhersehbarkeit: trotz meist vergleichsweise konventioneller Techniken ist Routine das Letzte, das in diesem Hause angestrebt würde. Das beginnt praktisch schon mit den eingesetzten Viktualien selbst, deren gesamte Kenntnis wohl nur von einem universell gebildeten Koch erwartet werden dürfte, und setzt sich fort bei der höchst individuellen Komposition, die je nach Bedarf ausgesprochen variabel und flexibel gehandhabt wird. Nachhaltigkeit wird hier übrigens nicht direkt propagiert, aber angewandt wird sie trotzdem in praktisch jedem Moment: so wird nicht nur die Corail der Jakobsmuschel weiterverwendet, sondern auch übriges Brot wird dem Gast auf Wunsch mitgegeben. Vermeintlich wertlose oder minderwertige Pflanzenteile werden hier akribisch unter die Lupe genommen – und oft gelingt es dem Küchenteam, zum Vorteil des Gastes auch aus diesen Teilen neue Geschmäcker zu zaubern. Gerade solche Raritäten wie der schwarze Nachtschatten, die exotische Scheibengurke oder einfach die Bohnen zum Käsegang offerieren meist ein größeres Potential als geahnt, wenn man es so überzeugend zu verwerten versteht wie in nur wenigen anderen, meist höher dekorierten Lokalen. Nicht zuletzt führe ich dies darauf zurück, dass es Detlef Schlegel offenbar gelungen ist, ein Team um sich zu scharen, welches fast schon in Nibelungentreue zu dem Lokal hält. Etliche Mitarbeiter können hier offenbar selbst dann über Jahre gehalten werden, wenn sie in der Küchenhierarchie nicht so weit oben stehen sollten – all das geht nur dann, wenn der Chef als Teamplayer auftritt, etwas von Menschenführung versteht und Anreize zu setzen vermag, welche der typischen Fluktuation in der Branche etwas entgegensetzen.

Dennoch wäre das Erlebnis eines Besuches im Stadtpfeiffer ohne den vorzüglichen Service unter dem Dirigat von Petra Schlegel nicht vollständig. Die unvergleichliche Herzlichkeit, die wunderbar abgestimmte Getränkebegleitung und die Gleichbehandlung aller Mitarbeiter kennzeichnen seit jeher die Leistung der Servicebrigade – die übrigens aus nur wenigen reinen Servicearbeitern besteht, da fast immer ein jeweils besonders geeigneter Mitarbeiter der Küche an den Tisch kommt, um einen spezifischen Gang zu erläutern. Das funktioniert über den gesamten Abend hinweg prächtig, wirkt niemals bevormundend und trägt enorm zu einem authentischen Eindruck bei. Zu unserer nicht geringen Überraschung bekommen wir sogar noch als Erinnerung einen Panettone von den Pâtisserie mit, der nur noch im Ofen leicht aufgewärmt werden soll. Und wie hat dieser geschmeckt? Kurz ausgedrückt: das ist schlichtweg das allerbeste Exemplar des italienischen Hefegebäcks, das ich je verkosten durfte! Große Dankbarkeit und Demut brechen sich allmählich Bahn, denn solch einen Abend erlebt man in Einsternern ausgesprochen selten.

Voller Verwunderung kann ich nur ein ums andere Mal registrieren, wie schwach ausgeprägt die Wahrnehmung dieses Lokals selbst unter Gourmets noch immer ist: so verweigert der Guide Michelin dem Stadtpfeiffer noch immer ohne jeden ersichtlichen Grund dem Lokal einen zweiten Macaron, und auch auf einem bekannten Hotel- und Urlaubsportal im Internet findet sich seit fast drei Jahren keine Rezension über dieses Lokal. Aus meiner Sicht ist der Stadtpfeiffer derzeit nicht nur das beste Lokal Sachsens, sondern sogar der gesamten neuen Bundesländer, selbst wenn der Vorsprung auf namhafte Kollegen wie Ronny Siewert, André Münch oder Daniel Schmidthaler natürlich gering ist. Dennoch bleibt es schwer vorstellbar, dass der Stadtpfeiffer noch immer als Geheimtipp gelten darf!

Großartiges Essen, keine Spur von Routine oder Langeweile, Herzlichkeit in Reinkultur und in seiner Gesamtheit ein überaus fair bepreistes Erlebnis – Genießerherz, was willst du mehr?

Mein Gesamturteil: 19 von 20 Punkten

 

Stadtpfeiffer
Augustusplatz 8
04109 Leipzig
Tel.: 0341/2178920
www.stadtpfeiffer.de

Guide Michelin 2024: *
Gault&Millau 2023: 3+ Toques
GUSTO 2024: 9,5 Pfannen
FEINSCHMECKER 2024: 3,5 F

5-gängiges Menü: € 165

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„Leute mit Mut und Charakter sind den anderen Leuten immer sehr unheimlich.“ (Hermann Hesse)

UPDATE (Dezember 2023)

Auf dem Spielplan des Gewandhauses Leipzig steht an diesem Abend Der Stadtpfeiffer – eine große kulinarische Oper von Detlef Schlegel in zwei Akten. Zum Pausenprogramm begebe man sich an diesem Tag in den Konzertsaal des Gewandhauses, wo Beethoven 9. Sinfonie unter der Leitung von Manfred Honeck aufgeführt wird.

Falls Sie jetzt etwas verwundert ob dieser merkwürdig klingenden Ausführungen sind, so lassen Sie sich am besten zuerst über das Arrangement des Lokals an den beiden Tagen vor Silvester aufklären: die Gäste werden um 17 Uhr zum ersten Teil des Dîners gebeten, lauschen danach um 20 Uhr der Vorpremiere von Beethoven 9. Sinfonie, die traditionell an Silvester aus dem Gewandhaus Leipzig live vom MDR (dann um 17 Uhr) übertragen wird, und begeben sich danach wieder gegen 21.30 Uhr zum zweiten Teil der Genuss-Oper in das angrenzende Lokal. Für den besonderen Gast, den Chefkoch Detlef Schlegel offenbar in mir sieht, hat er mal wieder nicht weniger als drei (!) Zusatzgänge eingebaut – und das, obwohl der Preis für vergleichbare Arrangements in anderen Städten wesentlich höher angesiedelt ist als in der Sachsenmetropole.

Schon beim Premierenbesuch vor zwei Jahren waren mir die außerordentliche Herzlichkeit der gesamten Servicetruppe unter der Leitung von Petra Schlegel, der Ehefrau des Chefs, sowie die erfrischend individuelle Küche Detlef Schlegels in bester Erinnerung geblieben. Es ist erstaunlich genug zu sehen, dass ein Chef, der heuer seinen 60. Geburtstag feiert, besser und reflektierter aufkocht denn je: seine Synthese von durchaus regionalen Produkten mit den Grundfesten der französischen Klassik führt zu außerordentlichen Erlebnissen, die spätestens seit der ziemlich überraschenden Schließung des Falco in einem Umkreis von mehr als 100 Kilometern absolut konkurrenzlos sind. Dass der Guide Michelin dem Lokal auch jüngst wieder eine Aufwertung auf zwei Sterne verwehrte, befeuert meines Erachtens nur die kolportierte Benachteiligung von Lokalen in den neuen Bundesländern. Warum ich so gerne eine Lanze für dieses Lokal brechen möchte, wird hoffentlich aus den nachfolgenden Ausführungen deutlich.

Das Rahmenprogramm für Beethovens 9. Sinfonie im Mendelssohn-Saal des Gewandhauses bildet das Menü mit dem passenden Namen „Götterfunken“, das gerade mal mit kaum für möglich gehaltenen € 150 zu Buche schlägt. Für die begehrten Konzertkarten im weltbekannten Gewandhaus werden jeweils nochmals € 140 fällig, so dass dieses Arrangement in Summe deutlich günstiger als anderswo ein vergleichbar gelungenes Menü alleine ausfällt! Da fällt die Zusage nicht schwer, zumal ich mir als Musiker natürlich kaum etwas Schöneres als das inkludierte Konzerterlebnis vorstellen könnte!

In der dunklen Jahreszeit wirkt sich das etwas diffuse Licht im Lokal zwar nicht unbedingt positiv auf die Qualität der Fotos aus, aber für aussagekräftige Eindrücke sollte es dennoch ausreichen. Den ungewöhnlichen Auftakt bildet ein Amuse, das rein vegetarisch gestaltet ist und gehörigen Eindruck macht: auf einer Wiesenkräutercrème drapiert das Küchenteam Kerbel, Kresse, Sellerie (auch als geröstetes Crumble) und Karotte derart durchlässig, dass alle Komponenten bei aufmerksamem Verzehr deutlich erkennbar sind und in Summe ein überraschend dichtes und kompaktes Geflecht an Aromen entfalten. Dank feinster Abstufungen und des herben Begleiters, ein Glas Champagner Bratbirne von Jörg Geiger, stellt dies einen würdigen Einsteiger dar. Ja, so faszinierend können vegetarische Gerichte ausfallen!

Die reichhaltige Brotauswahl, bestehend aus Weizen- und Roggensauerteigbrötchen sowie Brioche, gewinnt durch die subtile Würze von Kümmel und Leinsamen weiter an Kontur und wird durch die bretonische Bordier-Butter noch zusätzlich aufgewertet.

Wir starten ins Menü mit einem kalten Fischgang, in dessen Mittelpunkt mild gebeizter und recht festfleischiger Färöer-Lachs steht. Die Begleitung mit Dill, Texturen von Gurke und Imperial Gold Kaviar mag noch einigermaßen gewöhnlich erscheinen, doch erst danach zeigt sich, dass sich Detlef Schlegel mit einer solch risikofreien Auslegung keineswegs zufrieden gibt und warum diese Küche so außergewöhnlich ist: anstelle der klassischen Crème fraîche kommt unerwartet eine geeiste Beurre blanc zum Einsatz, wobei spätestens mit der Beigabe von Zitrusfrüchten und grünem Apfel dieser Gang ein völlig ungewöhnliches Kolorit bekommt. Trotz der ungewohnten Aromen gelingt es der Küche, eine völlig unangestrengt wirkende und höchst elegante Kreation auf den Teller zu zaubern, die mit klassischer Ausgewogenheit und Klarheit punktet – ein Gericht der leisen Töne, aber dennoch ganz groß.

Noch besser wird es jedoch im nächsten Gang, denn ich nehme es gleich vorweg: dieser kühne Geniestreich rund um Gänseleber gehört zu den zehn einprägsamsten Gerichten, die mir jemals mit diesem Produkt vorgesetzt wurden. Allein schon die an den Maler Mark Rothko erinnernde Optik gerät hinreißend; vor allem ist indes das Maximum an Geschmack, welches die Küche aus gerade einmal zwei weiteren Produkten extrahiert, das Bemerkenswerteste an diesem Teller. Die ungestopfte Innerei wird als Parfait interpretiert, doch mit zwei divergierenden Ansätzen begleitet: zum einen ist sie als Würfel mit einem zwischen herb und bitter changierenden Gel von Kaffee, Pfeffer und Gänsereduktion ummantelt, während die zweite Variante unten mit einem fruchtig-herben Sorbet von Hagebutte getoppt und von zwei hauchzarten Karamellchips eingerahmt wird – gebettet ist das Ganze auf zweierlei Pulver von Karamell und Kaffee zum beliebigen Nachwürzen. Dank auffallend wenig Süße und idealer Portionierung kommen enorm viele Facetten der Innerei bestens zur Geltung, so dass man hier nur unumwunden von einem echten Meisterwerk sprechen kann, das schon ikonisch wirkt.

Die Jakobsmuschel im nächsten Gang wird nur kurz geflämmt und bleibt dadurch innen bewusst etwas glasig. Der in Frankreich recht übliche, aber in Deutschland eher seltene Ansatz, die Corail ins Gericht mit einzubeziehen, muss hier nicht infrage gestellt werden, da sie dank sorgsamer Zubereitung von wachsweicher Konsistenz ist und keinerlei penetrante Bitterkeit von ihr ausgeht. Wenn schon ein für die Hochküche typisches Luxusprodukt zum Einsatz kommt, so muss bei Detlef Schlegel dann wenigstens die Begleitung individuell geraten: das ist auch hier der Fall, denn das Topping des geschmorten Chicorée mit gerösteten Erdnüssen und Trauben verströmt eine höchst eigentümliche Form von Süße, die man als Begleitung der Muschel so nicht kennt. Die Sauce dagegen weist eine deutliche Pfeffernote auf und fängt im Verbund mit einer würzigen Crème unter dem Chicorée die Süße geschickt auf, weshalb auch hier von einer gelungenen und eigenwilligen Visitenkarte gesprochen werden darf.

Seine Vorliebe für rare Pilze lässt Detlef Schlegel beim nächsten Gang einfließen: den Hummer mit leichtem Restbiss bettet er auf einer grenzwertig dünnen Bisque, wohl um die Krause Glucke besser zur Geltung kommen zu lassen. Dank des dünnen, aber präsenten Streifens von Lauch wird daraus eine selten würzige und etwas gewöhnungsbedürftige Variante, das Krustentier zu interpretieren. Das mag vielleicht nicht nach dem Gusto jedes Gastes sein, aber der Mut der Küche zum Risiko zahlt sich aus, da ich dies als ein schönes und trotz der ungewohnten Aromatik stimmiges Gericht empfinde – schwerlich der Höhepunkt der Menüfolge, aber nach all den bisherigen Eingebungen muss dies auch gar nicht sein!

Völlig unstrittig in der Bewertung dürfte dagegen das Sorbet von schwarzem Holunder ausfallen, denn die ungeheuer tiefe Fruchtigkeit und die fast cremige Konsistenz zeugen von Extraklasse, die selbst den Vergleich mit Sven Wassmer (Memories, Bad Ragaz) nicht scheuen muss. Platziert ist der Hauptdarsteller auf grünem Apfel, der zuvor in Holunderblütenöl eingelegt wurde – ein durchdachtes und erfrischendes Intermezzo abseits aller Routine. Wunderbar!

Der letzte Gang vor der Pause dreht sich um ein Raviolo auf Spinatcrème. Die Teigtasche wird außen mit gebackenem Eigelb, Haselnuss und Périgord-Trüffel umspielt, doch der eigentliche Clou ist die Farce der Teigtasche: Gänseklein, Steinpilze und flüssiges Eigelb verbinden sich zu einer habhaften Füllung, die dieser klassischen, an Eckart Witzigmann erinnernden Kombination ein eigenes, ziemlich würziges und aromensattes Gepräge verleiht. Dank des schlafwandlerisch sicheren Handwerks wirkt das gänzlich entspannt und zutiefst beglückend. Jetzt kann das Konzert kommen …

Die Wiederaufnahme des Mahls gut zwei Stunden später beginnt zu unserer nicht geringen Überraschung abermals mit einem Amuse bouche: die markanten Bitterstoffe einer Terrine von Rehleber (wann darf man das schon mal verkosten?!) werden durch die nicht näher definierte Glasur und das Birnensorbet darauf geschickt abgefedert, ohne dabei jedoch die geschmackliche Wirkung in irgendeiner Weise zu relativieren. Das schärft die Sinne vor dem Hauptgang und erzielt die intendierte Wirkung ohne Mühe. Das Plat principal kann nun kommen …

… und schlägt voll ein: es schafft eine Verbindung zum Amuse, indem das Reh nun die Hauptrolle einnimmt. Das komplett gleichmäßig rot gebratene Fleisch gibt sich betont herb, aber dennoch nicht so markant als dass nur knallige Begleiter dagegen ankommen könnten. Die tiefe, mit roter Bete veredelte Jus bildet ein starkes Fundament für das Arrangement aus einer Rose von roter Bete. Man sieht dem Teller kaum alle Produkte an, doch beim Verzehr erstrahlen nochmals alle Zutaten in schönster Harmonie: sei es die Senfsaat in der Rose, eine Quarkcrème, ein Gnocchi-Würfel, ein Gel von Zwetschge oder die subtile Würze mit Zimt. Das einmal mehr harmonische und vollkommen organisch wirkende Ensemble überzeugt mit stiller Größe und muss sich dank seiner inhärenten Qualität in keinster Weise aufspielen – fraglos ein Highlight dieses an bemerkenswerten Momenten keineswegs armen Abends!

Auch beim Käsegang mangelt es dem Chef mitnichten an Ideen: der leicht säuerliche, aber insgesamt milde korsische Käse Fleur de Maquis bekommt als Begleiter nicht nur eine knusprige Hühnerhaut zur Seite gestellt, sondern wird auffallend präsent von Bohne in dreierlei Variante begleitet: neben den gut erkennbaren Streifen ist auch die Crème aus weißen Bohnen hergestellt. Des weiteren fließt auch noch ein Bohnenragout mit ein, so dass dieser Beitrag ungewohnt deftig und mit einer durchaus präsenten Pfeffernote in Szene gesetzt wird. Bedenkt man, wie wenige andere Lokale überhaupt noch Käsegange ersinnen, so muss man diesen außergewöhnlich kreativen Beitrag umso höher bewerten.

Beim Dessert empfinde ich die optische Inszenierung als ein wenig klobig, weshalb hier wohl noch etwas Raum für Verbesserungen bliebe. Dem Geschmack selbst tat es freilich keinen Abbruch: im Mittelpunkt des Desserts steht die Blutorange, welche als Sorbet, Baiser, Sud und in filetierter Form den Löwenanteil zu diesem Ausklang beiträgt. Das bleibt dank variabler Texturen hinreichend interessant und wird durch die Beigabe von gehackter Pistazie und Pistaziencrème weiter aufgewertet. Diesem Einfall liegt eindeutig das Wechselspiel von Nussigkeit und Fruchtigkeit am Herzen, was aber nicht bedeutet, dass ein Feinschliff ausbleibt: dank der Beigabe von weißer Ivoire-Schokolade als Flan (im Sud) und als Luftschokolade entsteht auch aus dieser seltenen Kombination ein reizendes Spiel mit Konventionen.

Seiner Linie, bloß nicht zu sehr auf Bewährtes, aber dafür jederzeit auf Qualität zu setzen, bleibt Detlef Schlegel auch bei den Petits fours und damit bis zum Schluss treu: von links nach rechts handelt es sich um eine Tartelette von Valrhona-Schokolade, dann ein Amarettini mit Nougat, gefolgt von einem Macaron aus Steinpilz (!), einer Lavendel-Praline und schließlich einer Tartelette von Heidelbeeren und Zitrone. Bei der Annoncierung des Macarons glaubte ich zunächst, mich verhört zu haben …
Trotz mehr als ausreichender Sättigung gelang es mir noch, diese Parade am Ende eines langen Abends ausreichend zu würdigen, denn speziell der Macaron hatte nochmals meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen – und faszinierte mich über alle Maßen! Ein grandioses Finale!

Der stets so bescheiden und natürlich auftretende Detlef Schlegel hat es einmal mehr geschafft, uns vollkommen zu überzeugen. Hier kann man spannungsgeladene Gerichte mit höchst seltenen Viktualien erleben, die von der Machart her durch und durch französisch erscheinen, aber dank der sorgsamen geistigen Durchdringung und der Bevorzugung verkannter Lebensmittel zugunsten arg geschundener und sattsam bekannter Produkte so frisch und voller Elan erscheinen, dass man zu dem Schluss kommt, hier habe jemand seine ganz persönliche Stilistik gefunden und konsequent perfektioniert. Mir bleibt jedenfalls schleierhaft, weshalb mit Ausnahme des GUSTO keiner der professionellen Guides dem Stadtpfeiffer eine überdurchschnittliche Note vergibt – mit nunmehr 60 Jahren wirkt der Chef zwar durch und durch glücklich, aber über ein verdienteres Maß an Anerkennung würde auch er sich sicher freuen. Argumente dafür gäbe es meiner Meinung nach zuhauf: allein schon der Mut, in einer kulinarisch nur mäßig attraktiven Region eine solch erfrischend andere Küche anzubieten, verdient Respekt. Dabei werden die Grenzen des guten Geschmacks aber niemals verlassen, sondern eher neu definiert – gerade so kreative und doch vollkommen organisch anmutende Höhenflüge wie der Gänseleber-Gang verdeutlichen, mit wie viel Kreativität hier neue Wege betreten werden, ohne dass der Geschmack dabei jemals dem Intellekt geopfert würde. Trotz der klassischen Ausrichtung kommt die gesamte Menüfolge nahezu ohne Routinen aus und weitet den kulinarischen Horizont ganz unmerklich, wenn seltene heimische Pilze zur Anwendung kommen oder wie beim ersten Besuch die exotische Blaugurke den Weg auf den Teller findet.

Einen unverzichtbaren Teil des Gesamterlebnisses stellt der unvergleichlich charmante Service dar, der unter der Leitung von Petra Schlegel nicht nur sicher agiert, sondern auch jedem Mitarbeiter, der in der Hierarchie nicht ganz oben steht, das Gefühl gibt, ein ungemein wichtiger Teil des Gesamtpakets zu sein. So kommt zu nahezu jedem Gang eine andere Servicekraft oder ein Küchenmitarbeiter an den Tisch und erläutert die Gerichte authentisch. Kompetente Antworten auf etwaige Nachfragen sind dabei genauso selbstverständlich wie ein fehlerfreies und authentisches Auftreten aller Mitarbeiter – logisch, dass auch dieser zweite Besuch wieder mit einem Gruppenfoto in der Küche endet, auch wenn wir einmal mehr die letzten Gäste sind und sich die Zeiger der Uhr bereits gen Mitternacht bewegen.

Selbstverständlich wäre eine Aufwertung auf zwei Sterne im Alter von 60 Jahren praktisch beispiellos, aber meines Erachtens gehört diese Perle von einem Restaurant fraglos zu den fünf besten Einsternern der Republik. Sieht man von den Touristenhochburgen an der Ostsee ab, gibt es praktisch kein Lokal in den neuen Bundesländern, welches diesem das Wasser reichen könnte. Während es anderswo die Spatzen von den Dächern pfeifen, verkünden hier die Stadtpfeiffer selbst die Botschaft, dass der zweite Stern längst fällig ist!

Mein Gesamturteil: 19 von 20 Punkten

 

Stadtpfeiffer
Augustusplatz 8
04109 Leipzig
Tel.: 0341/2178920
www.stadtpfeiffer.de

Guide Michelin 2023: *
Gault&Millau 2023: 3+ Toques
GUSTO 2024: 9,5 Pfannen
FEINSCHMECKER 2024: 3,5 F

5-gängiges Menü „Götterfunken“: € 150

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„Namen sind Schall und Rauch.“ (volkstümliches Sprichwort)

Oktober 2021

Trommelwirbel, Vorhang auf und Tusch: der Koch des Jahres im GUSTO 2022 ist …???
Detlef Schlegel !!! – Bitte wer ???

Ja, so ähnlich lautete meine Reaktion bei der Bekanntgabe des Preisträgers! Zwar war mir der Stadtpfeiffer in Leipzig durchaus ein Begriff gewesen, aber wegen Terminkollisionen mit einem Besuch im Falco oder wegen eines Opernbesuchs hatte es mir bislang bei meinen bisherigen Stippvisiten in Leipzig nie gereicht, hier mal vorbeizuschauen. Offen gestanden genoss dieses Lokal aus meiner Sicht lange Zeit den Status eines durchschnittlichen, einfach besternten Restaurants, das man sicherlich mal besuchen kann, aber nicht zwingend muss. Selbst als der GUSTO binnen der letzten drei Jahre seine vergebene Note um anderthalb Punkte auf nunmehr stolze 9,5 Pfannen anhob, kannte ich den Namen des Chefkochs noch immer nicht. Dieses Versäumnis ist inzwischen natürlich Geschichte, denn die angeblich rasante Entwicklung der letzten Jahre hatte mich nun doch aufhorchen lassen – offenbar war mir da (was selten vorkommt) etwas sehr Lohnenswertes bisher entgangen. Kann es andererseits wirklich sein, dass Mittfünfziger Detlef Schlegel plötzlich auf die Überholspür ausschert und jetzt aufblüht?

Meine Neugier war fraglos geweckt – wie passend, dass der Termin unseres Besuchs exakt der zehnte Jahrestag vom Beginn meiner Leidenschaft als Gourmet war: an jenem nasskalten und herbstlichen Sonntag, den 30. Oktober 2011, besuchte ich völlig unvoreingenommen das damalige Zwei-Sterne-Restaurant La Belle Epoque von Kevin Fehling und wurde Zeuge einer nicht für möglich gehaltenen Darbietung. Meine kulinarischen Erfahrungen hatten sich bis dato auf das Burgrestaurant Staufeneck in Salach beschränkt, welches an sich schon eine ordentliche Adresse darstellte. Was Kevin Fehling und sein Team an jenem Abend auf die Teller zauberten, gehört für mich allerdings bis heute zu den besten Besuchen aller Zeiten. Mein Eindruck einer fabelhaften Darbietung wurde bestätigt, denn im folgenden Jahr erhielt Kevin Fehling den begehrten dritten Michelin-Stern, den er bis heute in seinem aktuellen Lokal The Table in der Hamburger Hafencity behauptet. Insofern hoffte ich natürlich, wieder in der Gegenwart angekommen, auf einen würdigen Abend anlässlich dieses für mich ganz besonderen Jubiläums.

Dass ein Lokal, dessen Räumlichkeiten sich im weltberühmten Leipziger Gewandhaus befinden, einen gewissen kulinarischen Anspruch zu befriedigen hat, stand für mich außer Frage. Da Detlef Schlegel dieses Lokal bereits seit nunmehr 20 Jahren zusammen mit seiner Frau Petra betreibt, durfte man schon von einem gewissen etablierten Niveau ausgehen, doch während die Namen berühmter vergangener Leipziger Kapellmeister wie Kurt Masur, Herbert Blomstedt, Riccardo Chailly und des aktuellen Amtsinhabers Andris Nelsons selbst denjenigen, die nicht viel mit klassischer Musik am Hut haben, teils etwas sagen dürften, so verhält es sich mit dem Namen Detlef Schlegel im Gegenteil eher so, dass er bis vor kurzem selbst Gourmets wie mir nichts sagte. Höchste Zeit, das zu ändern!

Das etwas versteckt in einem Seitentrakt gelegene Lokal gibt sich von außen völlig bescheiden und würde geschickt tarnen, welches Genussrefugium sich dahinter verbirgt, wenn draußen nicht das einfach besternte Emailschild des Guide Michelin befestigt wäre. Drinnen findet der Gast eine absolute Wohlfühlatmosphäre vor: eher schlicht gehalten, fallen die großzügigen Abstände zu den Nachbartischen und das überdimensionale Kunstwerk eines Leipziger Künstlers an der Wand auf (über dessen Entstehung und Inspiration der Service auf Nachfrage gerne auch Auskünfte erteilt). Ansonsten sind die Tische ganz klassisch eingedeckt und lassen umgehend auf ein zwar gehobenes, aber keineswegs herausragendes Küchenniveau schließen. Understatement werden wir im Laufe dieses Abends allerdings mehr als nur einmal erleben, so dass hier von einem echten Antipoden zum nicht mal einen Kilometer entfernten Falco gesprochen werden kann, wo große Gesten und einiges an Show regelmäßig auf der Tagesordnung stehen.

Dies bedeutet aber keineswegs, dass man im Stadtpfeiffer etwa eine uniforme Küche mit einschlägigen Luxusviktualien auf mehr oder weniger gewohnte Art und Weise anbieten möchte. Schon die erste Einstimmung verdeutlicht, welche individuelle Ideen hier umgesetzt werden, die nicht im Geringsten überdreht wirken: zum Auftakt erläutert der sehr persönlich agierende Service das erste Amuse gleich im Detail. Der seltene und vom Chef höchstpersönlich gesammelte Klapperschwamm gelangt in gleich dreierlei Ausfertigung hinreißend auf den Teller: links in Form einer leicht eingedickten Crème von ausgesprochen delikatem Geschmack, in der Mitte asiatisch eingelegt und rechts schließlich in gebratener Form, was die erdig-nussigen Aromen des Pilzes in bestem Licht erscheinen lässt. Solch ein delikater Einstieg, der jedweder Routine entbehrt und zudem voll der Jahreszeit huldigt, lässt schon mal erahnen, dass hier ein Küchenchef am Hantieren ist, der inzwischen eine höchst eigenständige Handschrift entwickelt hat – und das gleich zu Beginn mit einem eher profan wirkenden Produkt, welches uns sofort Appetit auf mehr machte. Ein kraftvoller und mutiger Cocktail mit Gartenkräutern, Limette, Ingwer und Kardamom unterstrich das soeben Gesagte abermals und punktete mit herbem Geschmack. Lediglich ein wenig Kohlensäure hätte dem mit stillen Wasser kredenzten Getränk vielleicht gut getan.

Während der Lektüre der Speisekarte reicht man dazwischen eine ganz ordentliche und vor allem noch sehr warme Brotauswahl, die auch wieder unaufgefordert aufgefüllt wird und ganz schlicht mit Salzbutter an den Tisch kommt. Zur Auswahl stehen hier derzeit zwei sechsgängige Menüs zu je € 145, von denen das eine vegetarisch ist – allein der geforderte Preis lässt uns beim großstädtischen Vergleich schon mal ungläubig staunen, doch das sollte im Laufe des Abends noch besser werden …

Unsere Wahl fällt auf das gewöhnliche sechsgängige Menü, doch kommt vor dem offiziellen Auftakt noch zu unserer nicht geringen Überraschung trotz des durchaus opulenten Apéros zum Beginn noch ein weiterer Gruß aus der Küche, der mit nichts weniger als Kaisergranat gestaltet ist. Das Krustentier kommt in kräftig geflämmter, in sanft gegarter und roh marinierter Variante auf den Teller, während eine Brunoise aus Blaugurke und „echter“ Salatgurke ausgesprochen gut korrespondierende Fruchtigkeit beisteuert. Dabei sei angemerkt, dass die Blaugurke, ursprünglich in China beheimatet, inzwischen wohl auch als Spezialität im Leipziger Raum zu finden ist und gar nicht nach Gurke, sondern eher wie ein Zitrusfrucht schmeckt. Das Sorbet vom Essigbaum schließlich rundet ein luxuriöses und individuell gestaltetes Amuse ab, das in vielen anderen Sternelokalen locker einen eigenen (und teuren) Gang hätte darstellen können. Superb!

Wir hoffen inständig, dass die Küche die Messlatte inzwischen nicht so hoch gehängt ist, dass sie im weiteren Verlauf am selbst gesteckten Anspruch zu scheitern droht – schließlich vergeben der Guide Michelin sowie der Gault&Millau im Gegensatz zum GUSTO keineswegs überragende Noten. Ach ja: eine alkoholfreie Getränkebegleitung zum Spottpreis von € 34 für den ganzen Abend lasse ich mir gerne auch noch empfehlen – ich sollte es nicht bereuen!

Zum ersten Gang annonciert man Entenleber, Schlehe und Vanille – tendenziell natürlich eine süßliche Begleitung, aber doch eine, die sich bei näherem Hinsehen als subtil erweist: nicht nur die Varianten der Leber (als Parfait in der Praline sowie als cremige Terrine) sorgen für gerne gesehene Abwechslung. Die Geltropfen von Schlehe sind weit mehr als nur optisches und überflüssiges Beiwerk, sondern federn mit straffer Säure den Zuckergehalt deutlich ab. Vanille und Fuchsie verleihen dem Gang, der nicht süßer hätte ausfallen dürfen, dagegen aristokratische Eleganz. Wer solche Produkte in dieser Qualität offerieren kann, braucht nicht viel Beiwerk – das weiß auch Detlef Schlegel, der seine Parade mit einem selten puristischen Gang einläutet. Ein toller Einstieg von großer handwerklicher Akkuratesse, stilsicher begleitet mit Verjus aus dem Hause Tement in der Steiermark.

Oktopus, Fenchel und Olivenlakritz entpuppt sich als der launigste Teller des Abends: das Karottenraviolo mit Crème-fraîche-Füllung, etwas Dill sowie ein aufgegossener Artischockensud komplementieren die annoncierten Zutaten auf stimmige Weise, denn in diesem mediterranen Arrangement ist alles trennscharf herauszuschmecken. Dabei sorgen die Anisnoten der Lakritze für einen individuell geprägten und ziemlich herben Abgang, der in diesem recht wuchtigen Gericht allerdings seinen Reiz hat. Mehr hätte dieser Teller nicht verkraftet, aber so wie die Dinge lagen gelang auch dieser Teller ausgezeichnet – lediglich die Begleitung mit weißem Pfirsichsaft aus dem Hause Van Nahmen empfand ich ausnahmsweise mal als weniger gelungen.

Als weitere Überraschung schiebt man fast beiläufig Jakobsmuschel (!) ein, die im Vergleich zum vorigen Gang eher puristisch, aber ungewöhnlich mit Chicorée begleitet wird. Die Bitterstoffe des vegetabilen Begleiters werden durch die Corail der Muschel noch verstärkt, so dass zum Ausgleich eine mit Orangeat aromatisierte Sauce dringend benötigte Fruchtigkeit ins Spiel bringt. Die wunderbar glasige und nur kurz geflämmte Jakobsmuschel steht voll im Mittelpunkt, doch auch die kleinen Scheiben von gerösteten Haselnüssen auf den Komponenten runden mit deutlich nussigen Akzenten diesen fast schon gewagt herben Gang ab. Marillensaft aus dem Hause Kohl entpuppt sich dabei als idealer flüssiger Begleiter.

Saibling dominiert den nächsten Gang und wird wunderbar begleitet mit einem süffigen Sanddornschaum. An dessen Seite tummelt sich ein Bouquet aus Kürbis und Karotten, welches in stimmiger aromatischer Vielfalt den Hauptdarsteller begleitet. Dabei bleibt dieser der unangefochtene Star des Tellers, denn dank des grandiosen Handwerks und der schieren Präzision darf der konfierte und zart gegarte Fisch seine Qualitäten voll ausspielen. Wunderbar mürb und unendlich saftig gerät dieser – absolut grandios! Die dezent rauchigen Noten von Buchenrauch wären dabei wohl gar nicht notwendig gewesen. Bergapfelsaft mit Hopfen aus dem Hause Kohl ist jedenfalls ein transparenter und nicht zu schwerer Begleiter, der hervorragend passt.

Vor dem Hauptgang erwartet uns eine abermalige Überraschung, die wir mehr als wohlwollend zur Kenntnis nehmen: während die saftige Tranche von Zander gut erkennbar ist, wird auf der rechten Seite etwas Aal unter einem filigran drapierten Arrangement versteckt: dabei kommen Kraut, Kresse, gepuffter Quinoa und Senfsaat alle gleichermaßen zu ihrem Recht. Der vorzügliche Fisch dominiert das Gericht fraglos, doch auch die genau ausgeklügelte Begleitung erweist sich zu keinem Zeitpunkt als langweilig. Einmal mehr bestätigt sich, dass die eigenwillige Interpretation durchaus einschlägiger Produkte hier immer wieder deshalb so gut gelingt, weil die Gerichte trotz allen Wagemuts niemals die gebotenen aromatischen Grenzen durchbrechen und die geistige Durchdringung der Kreationen ein Entgleisen sicher verhindert. Abermals kann uns dieser Teller vollkommen überzeugen, zumal Traubensecco von Raumland ein fruchtig-leichter Begleiter ist, der das Gericht keinesfalls dominiert.

Als Erfrischung vor dem Hauptgericht streut man ein herbes Basilikumsorbet ein, dessen Aromen von dem aufgegossenen Limettensud und seiner leichten Süße schön aufgefangen werden. Die mir bis dato überhaupt nicht geläufigen kleinen Tulsi-Blüten (indisches Basilikum) sind weit mehr als nur optisches Beiwerk, denn sie potenzieren die Wirkung des Sorbets darunter ganz eindeutig und verleihen diesem Gang ungeahnte aromatische Kraft. Was uns erneut so gefällt, ist die niemals sinnfreie Verwendung irgendwelcher Komponenten – doch damit nicht genug, denn ganz gleich, ob es sich um exotische oder konventionelle Begleiter handelt, es wirkt immer stimmig und zeugt vom großen Wissen des Chefs bei den unterschiedlichsten Produkten. Bravo!

Auch der Hauptgang knüpft nahtlos an das zuvor gezeigte Niveau an: der ganz gleichmäßig, tiefrot gebratene Hirsch aus dem nahen Düben weckt schon aufgrund seiner umwerfenden Farbe Erwartungen, die beim Verzehr natürlich allesamt bestätigt werden. Mineralische Frische und die ganz leicht bitteren, für diese Art von Fleisch so typischen Aromen zeugen von der makellosen Qualität und Zubereitung, doch ohne die unglaublich tiefe, mit Traubenkernpulver gewürzte Jus würde etwas Entscheidendes fehlen. Die vielfältige Begleitung übernehmen Schwarzwurzel, Weintrauben und Radicchio, der vermutlich leicht geschmort wurde. Unterm Strich ist dies ein sensorisches Fest wie es einem bei Hauptgängen nur selten einmal zuteil wird. Kongenial abgerundet wird der Gang von wildem Pflaumensaft (Van Nahmen), dessen Bitternoten im Abgang ideal zu diesem Teller passen. Ganz hervorragend!

Der einzige minimal schwächere Teller an diesem Abend ist der Käsegang – schon allein deshalb, weil der Roquefort lediglich in wenigen kleinen Würfeln unter den flächendeckend drapierten, hauchzarten Scheiben von säuerlich eingelegter Quitte kaum zur Geltung kommt. Das keinesfalls nur dekorative Türmchen darauf vereint Chicorée, karamellisierte Erdnüsse und Ysop (Eisenkraut) zu einem stimmigen Einfall, doch gegen all diese Komponenten kommt selbst der ausgesprochen wuchtige Blauschimmelkäse nicht an. Alles in allem fehlte mir hier ausnahmsweise so etwas wie ein roter Faden, doch ein spontan kredenzter Cocktail aus Grapefruit, Quitte und Tonic tröstete mich locker darüber hinweg.

Auch beim Pré-Dessert gehen der Küche die Ideen nicht aus: zwei Türmchen, deren Fundament aus Renekloden besteht, schichtet die Pâtisserie mit einer Knusperscheibe von Lakritz, Pfirsich und weißer Luftschokolade auf. Das vielfältige und voller Überraschungen steckende Dessert wird durch das Eis von weißer Schokolade würdig abgerundet und mit der alkoholfreien Variante des Champagner-Bratbirnen-Secco aus dem Hause Jörg Geiger flüssig veredelt.

Deutlich gehaltvoller, aber dafür sparsam portionierter gerät das Dessert: zwischen einer hauchzart gelierten Scheibe schwarzen Holunders und dünn aufgetragenen Konfitüre desselben Produkts platziert man hier Bitterschokolade in den unterschiedlichsten Varianten (Sorbet, Ganache, Gel und Würfelpraline). Klein gestoßene Edelkastanie rundet diesen kompakten und gleichzeitig sehr variablen Ausklang, dem man das Prädikat eines kleinen Meisterwerks anheften muss, würdig ab. Die kreative Umsetzung dieser Idee bei gleichzeitiger Vermeidung allzu plakativer Süße macht daraus einen Beitrag der Extraklasse, selbst wenn dieser ohne flüssige Begleitung auskommen muss.

Auch bei den Ausklängen schaltet die Pâtisserie nicht etwa in den Leerlauf, sondern bleibt ihrem Qualitätsanspruch an sich selbst treu: Nougattarte, Papaya-Kaffee-Praline, Bitterorange-Törtchen mit Brombeere, Mandel-Haselnuss-Schnitte und Karameltartelette (vordere Reihe von links nach rechts) können wir nicht widerstehen, obwohl der Sättigungsgrad inzwischen beträchtlich ist.

Was für ein Abend! In meinen kühnsten Träumen hätte ich nicht mit einer solchen Darbietung gerechnet! Im Gegensatz zum Falco setzt man hier niemals auf knallige Effekte, sondern ersinnt Gerichte, die stets auf solidem französischem Fundament ruhen. Deren Qualität basiert nicht auf dem Einsatz von durchweg teuren Viktualien, sondern auf der detailgenauen Arbeit und der geschmacklich exakt ausgeloteten Wirkung. Die hier präsentierten Gerichte werden von einer Art inneren Logik zusammengehalten, die trotz einer gewissen Variabilität bei den Gerichten immer stimmig wirkt: mal wird ein Stück Fleisch relativ aufwendig begleitet, mal wird die Gänseleber ganz puristisch inszeniert. Und doch ist da stets eine kulinarische Aussage zu erkennen, die für den Stil dieser Küche typisch ist – das ist im Grunde genommen gar keine große stilistische Kehrtwende, die zur rapiden Aufwertung durch den GUSTO führte, sondern offenbar vielmehr eine bislang ungekannte Präzision bei der Zusammenstellung und Zubereitung der Gerichte. Man betrachte nur den ganz homogen dunkelrot gebratenen Hirsch, den wunderbar saftigen Saibling oder die glasige Jakobsmuschel – die Optik weckt Erwartungshaltungen beim Geschmack, die beim Verzehr allesamt noch übertroffen werden. Auf den Tellern findet sich kein Gepolter, das die Produkte überhöhen müsste, sondern große Harmonie, die die Qualität der verwendeten Produkte ganz beiläufig mit großer Tiefenschärfe ins beste Licht rückt. Während anderswo das Einschieben von sogenannten Überraschungen bisweilen dazu dient, von fehlender Substanz oder geistiger Durchdringung ablenken zu müssen, so freute man sich hier wirklich über jeden nicht annoncierten Zwischengang, da das Niveau praktisch durchgehend überragend war. Wenn man dann noch bedenkt, dass wir quasi neun anstatt sechs Gänge zu € 145 vorgesetzt bekamen, von denen keiner auch nur annähernd missraten oder langweilig gewesen wäre, dann steht unterm Strich eines der allerbesten Preis-Leistungs-Verhältnisse, das wir je bei einem Abendessen erleben durften. Wir fragten uns sogar, wie man solche Spottpreise wie die hier geforderten überhaupt durchhalten kann: kein Sponsor, kein Hotel. Wie geht das?

Da die Preispolitik sich auch bei den Nebenkosten fortsetzt, ist es nicht weiter verwunderlich, dass das derzeit nur donnerstags, freitags und samstags geöffnete Lokal bis auf den letzten Platz besetzt ist. Hier stimmt einfach extrem vieles: Qualität, Preis und – nicht zu vergessen – die Serviceleistung. Petra Schlegel ist eine charmante und tiefenentspannte Gastgeberin mit ganz viel natürlichem Charme und unangestrengt wirkender Empathie. Unter ihrer Leitung hat die aufmerksame Servicetruppe, zu der sich bisweilen auch mal der Souschef oder der Pâtissier gesellt, alles im Griff. Abgerundet wird diese Leistung nicht nur durch eine stattliche Anzahl an Weinen, sondern auch mit einer Stippvisite in der Küche zu vorgerückter Stunde. Da wir die letzten Gäste sind, ist sich der völlig bodenständige Chefkoch Detlef Schlegel nicht zu schade, sein Küchenteam sogar noch zum Fototermin zusammen zu trommeln und redselig Auskünfte zu erteilen. Gelebte Herzlichkeit in Reinkultur und auf allen Ebenen – das ist perfektes Gastgebertum mit Vorbildcharakter!

Sicherlich ist das Falco das kulinarische Aushängeschild der Stadt, doch die Konkurrenz schläft bekanntlich nicht. Unserer Meinung nach ist es allerhöchste Zeit, dass der rote Gourmetführer den einfach besternten Stadtpfeiffer in die Zwei-Sterne-Liga befördert. Selten haben wir einen beeindruckenderen Abend in einem Einsterner verbringen dürfen. Da in einem riesigen Umkreis von Leipzig nichts auch nur annähernd so Qualitatives wie die beiden im Zentrum gelegenen Sternerestaurants existiert, ist es schwer vorstellbar, dass Gourmets, die nach Leipzig kommen, nach diesem Bericht hier nicht vorbeischauen. Wir haben den Abend in vollen Zügen genossen, keine Sekunde bereut und planen einen weiteren Besuch bei der nächsten Stippvisite in Leipzig ganz bestimmt wieder ein. Vor diesem Hintergrund scheue ich mich nicht, dem GUSTO meinen Respekt für seine mutige Entscheidung bei der Ernennung von Detlef Schlegel zum Koch des Jahres zu zollen und honoriere diesen außergewöhnlichen Abend mit der zweithöchsten Note.

Mein Gesamturteil: 19 von 20 Punkten

 

Stadtpfeiffer
Augustusplatz 8
04109 Leipzig
Tel.: 0341/2178920
www.stadtpfeiffer.de

Guide Michelin 2021: *
Gault&Millau 2021: 17 Punkte
GUSTO 2022: 9,5 Pfannen
FEINSCHMECKER 2021: 3 F

6-gängiges Menü: € 145