Stadtpfeiffer*, Leipzig

„Namen sind Schall und Rauch.“ (volkstümliches Sprichwort)

Oktober 2021

Trommelwirbel, Vorhang auf und Tusch: der Koch des Jahres im GUSTO 2022 ist …???
Detlef Schlegel !!! – Bitte wer ???

Ja, so ähnlich lautete meine Reaktion bei der Bekanntgabe des Preisträgers! Zwar war mir der Stadtpfeiffer in Leipzig durchaus ein Begriff gewesen, aber wegen Terminkollisionen mit einem Besuch im Falco oder wegen eines Opernbesuchs hatte es mir bislang bei meinen bisherigen Stippvisiten in Leipzig nie gereicht, hier mal vorbeizuschauen. Offen gestanden genoss dieses Lokal aus meiner Sicht lange Zeit den Status eines durchschnittlichen, einfach besternten Restaurants, das man sicherlich mal besuchen kann, aber nicht zwingend muss. Selbst als der GUSTO binnen der letzten drei Jahre seine vergebene Note um anderthalb Punkte auf nunmehr stolze 9,5 Pfannen anhob, kannte ich den Namen des Chefkochs noch immer nicht. Dieses Versäumnis ist inzwischen natürlich Geschichte, denn die angeblich rasante Entwicklung der letzten Jahre hatte mich nun doch aufhorchen lassen – offenbar war mir da (was selten vorkommt) etwas sehr Lohnenswertes bisher entgangen. Kann es andererseits wirklich sein, dass Mittfünfziger Detlef Schlegel plötzlich auf die Überholspür ausschert und jetzt aufblüht?

Meine Neugier war fraglos geweckt – wie passend, dass der Termin unseres Besuchs exakt der zehnte Jahrestag vom Beginn meiner Leidenschaft als Gourmet war: an jenem nasskalten und herbstlichen Sonntag, den 30. Oktober 2011, besuchte ich völlig unvoreingenommen das damalige Zwei-Sterne-Restaurant La Belle Epoque von Kevin Fehling und wurde Zeuge einer nicht für möglich gehaltenen Darbietung. Meine kulinarischen Erfahrungen hatten sich bis dato auf das Burgrestaurant Staufeneck in Salach beschränkt, welches an sich schon eine ordentliche Adresse darstellte. Was Kevin Fehling und sein Team an jenem Abend auf die Teller zauberten, gehört für mich allerdings bis heute zu den besten Besuchen aller Zeiten. Mein Eindruck einer fabelhaften Darbietung wurde bestätigt, denn im folgenden Jahr erhielt Kevin Fehling den begehrten dritten Michelin-Stern, den er bis heute in seinem aktuellen Lokal The Table in der Hamburger Hafencity behauptet. Insofern hoffte ich natürlich, wieder in der Gegenwart angekommen, auf einen würdigen Abend anlässlich dieses für mich ganz besonderen Jubiläums.

Dass ein Lokal, dessen Räumlichkeiten sich im weltberühmten Leipziger Gewandhaus befinden, einen gewissen kulinarischen Anspruch zu befriedigen hat, stand für mich außer Frage. Da Detlef Schlegel dieses Lokal bereits seit nunmehr 20 Jahren zusammen mit seiner Frau Petra betreibt, durfte man schon von einem gewissen etablierten Niveau ausgehen, doch während die Namen berühmter vergangener Leipziger Kapellmeister wie Kurt Masur, Herbert Blomstedt, Riccardo Chailly und des aktuellen Amtsinhabers Andris Nelsons selbst denjenigen, die nicht viel mit klassischer Musik am Hut haben, teils etwas sagen dürften, so verhält es sich mit dem Namen Detlef Schlegel im Gegenteil eher so, dass er bis vor kurzem selbst Gourmets wie mir nichts sagte. Höchste Zeit, das zu ändern!

Das etwas versteckt in einem Seitentrakt gelegene Lokal gibt sich von außen völlig bescheiden und würde geschickt tarnen, welches Genussrefugium sich dahinter verbirgt, wenn draußen nicht das einfach besternte Emailschild des Guide Michelin befestigt wäre. Drinnen findet der Gast eine absolute Wohlfühlatmosphäre vor: eher schlicht gehalten, fallen die großzügigen Abstände zu den Nachbartischen und das überdimensionale Kunstwerk eines Leipziger Künstlers an der Wand auf (über dessen Entstehung und Inspiration der Service auf Nachfrage gerne auch Auskünfte erteilt). Ansonsten sind die Tische ganz klassisch eingedeckt und lassen umgehend auf ein zwar gehobenes, aber keineswegs herausragendes Küchenniveau schließen. Understatement werden wir im Laufe dieses Abends allerdings mehr als nur einmal erleben, so dass hier von einem echten Antipoden zum nicht mal einen Kilometer entfernten Falco gesprochen werden kann, wo große Gesten und einiges an Show regelmäßig auf der Tagesordnung stehen.

Dies bedeutet aber keineswegs, dass man im Stadtpfeiffer etwa eine uniforme Küche mit einschlägigen Luxusviktualien auf mehr oder weniger gewohnte Art und Weise anbieten möchte. Schon die erste Einstimmung verdeutlicht, welche individuelle Ideen hier umgesetzt werden, die nicht im Geringsten überdreht wirken: zum Auftakt erläutert der sehr persönlich agierende Service das erste Amuse gleich im Detail. Der seltene und vom Chef höchstpersönlich gesammelte Klapperschwamm gelangt in gleich dreierlei Ausfertigung hinreißend auf den Teller: links in Form einer leicht eingedickten Crème von ausgesprochen delikatem Geschmack, in der Mitte asiatisch eingelegt und rechts schließlich in gebratener Form, was die erdig-nussigen Aromen des Pilzes in bestem Licht erscheinen lässt. Solch ein delikater Einstieg, der jedweder Routine entbehrt und zudem voll der Jahreszeit huldigt, lässt schon mal erahnen, dass hier ein Küchenchef am Hantieren ist, der inzwischen eine höchst eigenständige Handschrift entwickelt hat – und das gleich zu Beginn mit einem eher profan wirkenden Produkt, welches uns sofort Appetit auf mehr machte. Ein kraftvoller und mutiger Cocktail mit Gartenkräutern, Limette, Ingwer und Kardamom unterstrich das soeben Gesagte abermals und punktete mit herbem Geschmack. Lediglich ein wenig Kohlensäure hätte dem mit stillen Wasser kredenzten Getränk vielleicht gut getan.

Während der Lektüre der Speisekarte reicht man dazwischen eine ganz ordentliche und vor allem noch sehr warme Brotauswahl, die auch wieder unaufgefordert aufgefüllt wird und ganz schlicht mit Salzbutter an den Tisch kommt. Zur Auswahl stehen hier derzeit zwei sechsgängige Menüs zu je € 145, von denen das eine vegetarisch ist – allein der geforderte Preis lässt uns beim großstädtischen Vergleich schon mal ungläubig staunen, doch das sollte im Laufe des Abends noch besser werden …

Unsere Wahl fällt auf das gewöhnliche sechsgängige Menü, doch kommt vor dem offiziellen Auftakt noch zu unserer nicht geringen Überraschung trotz des durchaus opulenten Apéros zum Beginn noch ein weiterer Gruß aus der Küche, der mit nichts weniger als Kaisergranat gestaltet ist. Das Krustentier kommt in kräftig geflämmter, in sanft gegarter und roh marinierter Variante auf den Teller, während eine Brunoise aus Blaugurke und „echter“ Salatgurke ausgesprochen gut korrespondierende Fruchtigkeit beisteuert. Dabei sei angemerkt, dass die Blaugurke, ursprünglich in China beheimatet, inzwischen wohl auch als Spezialität im Leipziger Raum zu finden ist und gar nicht nach Gurke, sondern eher wie ein Zitrusfrucht schmeckt. Das Sorbet vom Essigbaum schließlich rundet ein luxuriöses und individuell gestaltetes Amuse ab, das in vielen anderen Sternelokalen locker einen eigenen (und teuren) Gang hätte darstellen können. Superb!

Wir hoffen inständig, dass die Küche die Messlatte inzwischen nicht so hoch gehängt ist, dass sie im weiteren Verlauf am selbst gesteckten Anspruch zu scheitern droht – schließlich vergeben der Guide Michelin sowie der Gault&Millau im Gegensatz zum GUSTO keineswegs überragende Noten. Ach ja: eine alkoholfreie Getränkebegleitung zum Spottpreis von € 34 für den ganzen Abend lasse ich mir gerne auch noch empfehlen – ich sollte es nicht bereuen!

Zum ersten Gang annonciert man Entenleber, Schlehe und Vanille – tendenziell natürlich eine süßliche Begleitung, aber doch eine, die sich bei näherem Hinsehen als subtil erweist: nicht nur die Varianten der Leber (als Parfait in der Praline sowie als cremige Terrine) sorgen für gerne gesehene Abwechslung. Die Geltropfen von Schlehe sind weit mehr als nur optisches und überflüssiges Beiwerk, sondern federn mit straffer Säure den Zuckergehalt deutlich ab. Vanille und Fuchsie verleihen dem Gang, der nicht süßer hätte ausfallen dürfen, dagegen aristokratische Eleganz. Wer solche Produkte in dieser Qualität offerieren kann, braucht nicht viel Beiwerk – das weiß auch Detlef Schlegel, der seine Parade mit einem selten puristischen Gang einläutet. Ein toller Einstieg von großer handwerklicher Akkuratesse, stilsicher begleitet mit Verjus aus dem Hause Tement in der Steiermark.

Oktopus, Fenchel und Olivenlakritz entpuppt sich als der launigste Teller des Abends: das Karottenraviolo mit Crème-fraîche-Füllung, etwas Dill sowie ein aufgegossener Artischockensud komplementieren die annoncierten Zutaten auf stimmige Weise, denn in diesem mediterranen Arrangement ist alles trennscharf herauszuschmecken. Dabei sorgen die Anisnoten der Lakritze für einen individuell geprägten und ziemlich herben Abgang, der in diesem recht wuchtigen Gericht allerdings seinen Reiz hat. Mehr hätte dieser Teller nicht verkraftet, aber so wie die Dinge lagen gelang auch dieser Teller ausgezeichnet – lediglich die Begleitung mit weißem Pfirsichsaft aus dem Hause Van Nahmen empfand ich ausnahmsweise mal als weniger gelungen.

Als weitere Überraschung schiebt man fast beiläufig Jakobsmuschel (!) ein, die im Vergleich zum vorigen Gang eher puristisch, aber ungewöhnlich mit Chicorée begleitet wird. Die Bitterstoffe des vegetabilen Begleiters werden durch die Corail der Muschel noch verstärkt, so dass zum Ausgleich eine mit Orangeat aromatisierte Sauce dringend benötigte Fruchtigkeit ins Spiel bringt. Die wunderbar glasige und nur kurz geflämmte Jakobsmuschel steht voll im Mittelpunkt, doch auch die kleinen Scheiben von gerösteten Haselnüssen auf den Komponenten runden mit deutlich nussigen Akzenten diesen fast schon gewagt herben Gang ab. Marillensaft aus dem Hause Kohl entpuppt sich dabei als idealer flüssiger Begleiter.

Saibling dominiert den nächsten Gang und wird wunderbar begleitet mit einem süffigen Sanddornschaum. An dessen Seite tummelt sich ein Bouquet aus Kürbis und Karotten, welches in stimmiger aromatischer Vielfalt den Hauptdarsteller begleitet. Dabei bleibt dieser der unangefochtene Star des Tellers, denn dank des grandiosen Handwerks und der schieren Präzision darf der konfierte und zart gegarte Fisch seine Qualitäten voll ausspielen. Wunderbar mürb und unendlich saftig gerät dieser – absolut grandios! Die dezent rauchigen Noten von Buchenrauch wären dabei wohl gar nicht notwendig gewesen. Bergapfelsaft mit Hopfen aus dem Hause Kohl ist jedenfalls ein transparenter und nicht zu schwerer Begleiter, der hervorragend passt.

Vor dem Hauptgang erwartet uns eine abermalige Überraschung, die wir mehr als wohlwollend zur Kenntnis nehmen: während die saftige Tranche von Zander gut erkennbar ist, wird auf der rechten Seite etwas Aal unter einem filigran drapierten Arrangement versteckt: dabei kommen Kraut, Kresse, gepuffter Quinoa und Senfsaat alle gleichermaßen zu ihrem Recht. Der vorzügliche Fisch dominiert das Gericht fraglos, doch auch die genau ausgeklügelte Begleitung erweist sich zu keinem Zeitpunkt als langweilig. Einmal mehr bestätigt sich, dass die eigenwillige Interpretation durchaus einschlägiger Produkte hier immer wieder deshalb so gut gelingt, weil die Gerichte trotz allen Wagemuts niemals die gebotenen aromatischen Grenzen durchbrechen und die geistige Durchdringung der Kreationen ein Entgleisen sicher verhindert. Abermals kann uns dieser Teller vollkommen überzeugen, zumal Traubensecco von Raumland ein fruchtig-leichter Begleiter ist, der das Gericht keinesfalls dominiert.

Als Erfrischung vor dem Hauptgericht streut man ein herbes Basilikumsorbet ein, dessen Aromen von dem aufgegossenen Limettensud und seiner leichten Süße schön aufgefangen werden. Die mir bis dato überhaupt nicht geläufigen kleinen Tulsi-Blüten (indisches Basilikum) sind weit mehr als nur optisches Beiwerk, denn sie potenzieren die Wirkung des Sorbets darunter ganz eindeutig und verleihen diesem Gang ungeahnte aromatische Kraft. Was uns erneut so gefällt, ist die niemals sinnfreie Verwendung irgendwelcher Komponenten – doch damit nicht genug, denn ganz gleich, ob es sich um exotische oder konventionelle Begleiter handelt, es wirkt immer stimmig und zeugt vom großen Wissen des Chefs bei den unterschiedlichsten Produkten. Bravo!

Auch der Hauptgang knüpft nahtlos an das zuvor gezeigte Niveau an: der ganz gleichmäßig, tiefrot gebratene Hirsch aus dem nahen Düben weckt schon aufgrund seiner umwerfenden Farbe Erwartungen, die beim Verzehr natürlich allesamt bestätigt werden. Mineralische Frische und die ganz leicht bitteren, für diese Art von Fleisch so typischen Aromen zeugen von der makellosen Qualität und Zubereitung, doch ohne die unglaublich tiefe, mit Traubenkernpulver gewürzte Jus würde etwas Entscheidendes fehlen. Die vielfältige Begleitung übernehmen Schwarzwurzel, Weintrauben und Radicchio, der vermutlich leicht geschmort wurde. Unterm Strich ist dies ein sensorisches Fest wie es einem bei Hauptgängen nur selten einmal zuteil wird. Kongenial abgerundet wird der Gang von wildem Pflaumensaft (Van Nahmen), dessen Bitternoten im Abgang ideal zu diesem Teller passen. Ganz hervorragend!

Der einzige minimal schwächere Teller an diesem Abend ist der Käsegang – schon allein deshalb, weil der Roquefort lediglich in wenigen kleinen Würfeln unter den flächendeckend drapierten, hauchzarten Scheiben von säuerlich eingelegter Quitte kaum zur Geltung kommt. Das keinesfalls nur dekorative Türmchen darauf vereint Chicorée, karamellisierte Erdnüsse und Ysop (Eisenkraut) zu einem stimmigen Einfall, doch gegen all diese Komponenten kommt selbst der ausgesprochen wuchtige Blauschimmelkäse nicht an. Alles in allem fehlte mir hier ausnahmsweise so etwas wie ein roter Faden, doch ein spontan kredenzter Cocktail aus Grapefruit, Quitte und Tonic tröstete mich locker darüber hinweg.

Auch beim Pré-Dessert gehen der Küche die Ideen nicht aus: zwei Türmchen, deren Fundament aus Renekloden besteht, schichtet die Pâtisserie mit einer Knusperscheibe von Lakritz, Pfirsich und weißer Luftschokolade auf. Das vielfältige und voller Überraschungen steckende Dessert wird durch das Eis von weißer Schokolade würdig abgerundet und mit der alkoholfreien Variante des Champagner-Bratbirnen-Secco aus dem Hause Jörg Geiger flüssig veredelt.

Deutlich gehaltvoller, aber dafür sparsam portionierter gerät das Dessert: zwischen einer hauchzart gelierten Scheibe schwarzen Holunders und dünn aufgetragenen Konfitüre desselben Produkts platziert man hier Bitterschokolade in den unterschiedlichsten Varianten (Sorbet, Ganache, Gel und Würfelpraline). Klein gestoßene Edelkastanie rundet diesen kompakten und gleichzeitig sehr variablen Ausklang, dem man das Prädikat eines kleinen Meisterwerks anheften muss, würdig ab. Die kreative Umsetzung dieser Idee bei gleichzeitiger Vermeidung allzu plakativer Süße macht daraus einen Beitrag der Extraklasse, selbst wenn dieser ohne flüssige Begleitung auskommen muss.

Auch bei den Ausklängen schaltet die Pâtisserie nicht etwa in den Leerlauf, sondern bleibt ihrem Qualitätsanspruch an sich selbst treu: Nougattarte, Papaya-Kaffee-Praline, Bitterorange-Törtchen mit Brombeere, Mandel-Haselnuss-Schnitte und Karameltartelette (vordere Reihe von links nach rechts) können wir nicht widerstehen, obwohl der Sättigungsgrad inzwischen beträchtlich ist.

Was für ein Abend! In meinen kühnsten Träumen hätte ich nicht mit einer solchen Darbietung gerechnet! Im Gegensatz zum Falco setzt man hier niemals auf knallige Effekte, sondern ersinnt Gerichte, die stets auf solidem französischem Fundament ruhen. Deren Qualität basiert nicht auf dem Einsatz von durchweg teuren Viktualien, sondern auf der detailgenauen Arbeit und der geschmacklich exakt ausgeloteten Wirkung. Die hier präsentierten Gerichte werden von einer Art inneren Logik zusammengehalten, die trotz einer gewissen Variabilität bei den Gerichten immer stimmig wirkt: mal wird ein Stück Fleisch relativ aufwendig begleitet, mal wird die Gänseleber ganz puristisch inszeniert. Und doch ist da stets eine kulinarische Aussage zu erkennen, die für den Stil dieser Küche typisch ist – das ist im Grunde genommen gar keine große stilistische Kehrtwende, die zur rapiden Aufwertung durch den GUSTO führte, sondern offenbar vielmehr eine bislang ungekannte Präzision bei der Zusammenstellung und Zubereitung der Gerichte. Man betrachte nur den ganz homogen dunkelrot gebratenen Hirsch, den wunderbar saftigen Saibling oder die glasige Jakobsmuschel – die Optik weckt Erwartungshaltungen beim Geschmack, die beim Verzehr allesamt noch übertroffen werden. Auf den Tellern findet sich kein Gepolter, das die Produkte überhöhen müsste, sondern große Harmonie, die die Qualität der verwendeten Produkte ganz beiläufig mit großer Tiefenschärfe ins beste Licht rückt. Während anderswo das Einschieben von sogenannten Überraschungen bisweilen dazu dient, von fehlender Substanz oder geistiger Durchdringung ablenken zu müssen, so freute man sich hier wirklich über jeden nicht annoncierten Zwischengang, da das Niveau praktisch durchgehend überragend war. Wenn man dann noch bedenkt, dass wir quasi neun anstatt sechs Gänge zu € 145 vorgesetzt bekamen, von denen keiner auch nur annähernd missraten oder langweilig gewesen wäre, dann steht unterm Strich eines der allerbesten Preis-Leistungs-Verhältnisse, das wir je bei einem Abendessen erleben durften. Wir fragten uns sogar, wie man solche Spottpreise wie die hier geforderten überhaupt durchhalten kann: kein Sponsor, kein Hotel. Wie geht das?

Da die Preispolitik sich auch bei den Nebenkosten fortsetzt, ist es nicht weiter verwunderlich, dass das derzeit nur donnerstags, freitags und samstags geöffnete Lokal bis auf den letzten Platz besetzt ist. Hier stimmt einfach extrem vieles: Qualität, Preis und – nicht zu vergessen – die Serviceleistung. Petra Schlegel ist eine charmante und tiefenentspannte Gastgeberin mit ganz viel natürlichem Charme und unangestrengt wirkender Empathie. Unter ihrer Leitung hat die aufmerksame Servicetruppe, zu der sich bisweilen auch mal der Souschef oder der Pâtissier gesellt, alles im Griff. Abgerundet wird diese Leistung nicht nur durch eine stattliche Anzahl an Weinen, sondern auch mit einer Stippvisite in der Küche zu vorgerückter Stunde. Da wir die letzten Gäste sind, ist sich der völlig bodenständige Chefkoch Detlef Schlegel nicht zu schade, sein Küchenteam sogar noch zum Fototermin zusammen zu trommeln und redselig Auskünfte zu erteilen. Gelebte Herzlichkeit in Reinkultur und auf allen Ebenen – das ist perfektes Gastgebertum mit Vorbildcharakter!

Sicherlich ist das Falco das kulinarische Aushängeschild der Stadt, doch die Konkurrenz schläft bekanntlich nicht. Unserer Meinung nach ist es allerhöchste Zeit, dass der rote Gourmetführer den einfach besternten Stadtpfeiffer in die Zwei-Sterne-Liga befördert. Selten haben wir einen beeindruckenderen Abend in einem Einsterner verbringen dürfen. Da in einem riesigen Umkreis von Leipzig nichts auch nur annähernd so Qualitatives wie die beiden im Zentrum gelegenen Sternerestaurants existiert, ist es schwer vorstellbar, dass Gourmets, die nach Leipzig kommen, nach diesem Bericht hier nicht vorbeischauen. Wir haben den Abend in vollen Zügen genossen, keine Sekunde bereut und planen einen weiteren Besuch bei der nächsten Stippvisite in Leipzig ganz bestimmt wieder ein. Vor diesem Hintergrund scheue ich mich nicht, dem GUSTO meinen Respekt für seine mutige Entscheidung bei der Ernennung von Detlef Schlegel zum Koch des Jahres zu zollen und honoriere diesen außergewöhnlichen Abend mit der zweithöchsten Note.

Mein Gesamturteil: 19 von 20 Punkten

 

Stadtpfeiffer
Augustusplatz 8
04109 Leipzig
Tel.: 0341/2178920
www.stadtpfeiffer.de

Guide Michelin 2021: *
Gault&Millau 2021: 17 Punkte
GUSTO 2022: 9,5 Pfannen
FEINSCHMECKER 2021: 3 F

6-gängiges Menü: € 145