Mai 2019
Alexander Herrmann ist einer der umtriebigsten Spitzenköche Deutschlands: neben Auftritten in mehr oder weniger entbehrlichen TV-Kochshows und -formaten (die andererseits natürlich ein nettes Zubrot einbringen und seinen Bekanntheitsgrad steigern) unterhält er eine Dépendance im Herzen von Nürnberg (das Impérial), die sich ebenfalls eines recht regen Zuspruchs erfreut. Da verwundert es nicht sonderlich, dass er die Küchenleitung seines Stammhauses längst in andere Hände delegiert hat: Chefkoch Tobias Bätz wurde quasi vom Souschef befördert und zeichnet nun für die Geschicke des Restaurants verantwortlich. Seine Sache hat er bisher offensichtlich ganz ordentlich gemacht, denn zur nicht geringen Überraschung der meisten Gourmets wurde das oberfränkische Restaurant im Februar 2019 mit dem zweiten Michelin-Stern ausgezeichnet. Uns interessiert natürlich die Küchenleistung wesentlich mehr als die Prominenz des Patrons, die in den meisten Fällen eher eine Warnung darstellt (mein entbehrlicher Besuch bei Vincent Klink im vergangenen Jahr ist mir immer noch in unguter Erinnerung). Alexander Herrmann war an diesem Abend offensichtlich auch gar nicht im Hause – um so erfreulicher, dass sich der jüngst ausgezeichnete Chefkoch Tobias Bätz an jedem Tisch blicken ließ und für einen kurzen Plausch zur Verfügung stand.
Der Weg ins beschauliche Wirsberg führt von der A9 über kurvige und ausgesprochen hügelige Straßen in die Ortsmitte, wo das Hotel samt Restaurant unübersehbar den Marktplatz des kleinen Orts dominiert. Das überaus modern und eigenwillig gestaltete Restaurant wartet mit einer hohen Decke, ungewöhnlichen Lampenkonstruktionen, harten Hell-Dunkel-Kontrasten und einem recht geräumigen Speisesaal für gut und gerne 60 Gäste auf, den man in dieser Form sicherlich eher in einer Metropole, aber schwerlich im Herzen von Oberfranken, umgeben von Fachwerkbauten, erwarten würde. Sei’s drum: wie uns schnell klar wird, geht das moderne Design des Lokals durchaus eine stimmige Symbiose mit dem Küchenstil des Restaurants ein, der durchaus als kühn, gewagt oder einfach zeitgemäß interpretiert werden kann. Zwei Menüs (eines davon vegetarisch) stehen hier zur Auswahl: ich entscheide mich für die sechsgängige Variante zu € 164, die mit etlichen Extras aufgewertet wird.
Die stattliche Cocktailkarte ist im Gegensatz zur nicht weiter erwähnenswerten (allerdings ofenwarmen) Brotauswahl die reine Wonne und hält eine große Auswahl an unterschiedlichsten Kreationen zu angemessenen Preisen für jeden Geschmack parat. Das Steckenpferd des Lokals ist es offenbar, irgendwo in Franken einen Produzenten für Produkte zu finden, die es eigentlich gar nicht in Franken gibt. Da kommt schon mal Spargel oder Trüffel auf den Teller – beides nicht gerade Produkte, die man von dieser klimatisch eher rauhen Region erwarten würde. Die Einstimmungen belegen diese Theorie ebenfalls, denn es kommt eine in dünne Scheiben geschnittene „fränkische Papaya“ mit einer Vinaigrette und Chili-Noten in einem kleinen Schälchen – säuerlich und gewöhnungsbedürftig im Geschmack, aber keineswegs mißraten. Dazu gesellen sich zwei weitere Grüße: eine Sauerkrautroulade mit Wollschwein und schwarzem Trüffel sowie Saibling mit Texturen von Sellerie und Meerrettich (gerieben und als Gel). Der letzte Gruß gerät zu einem höllisch scharfen Einstieg und erweckt auch totgeglaubte Geschmackspapillen endgültig wieder zum Leben. Über den Sinn (oder Unsinn) eines solchen Einstiegs ließe sich sicherlich trefflich streiten, doch mutig ist diese Entscheidung allemal. Der offizielle Gruß aus der Küche ist ein lauwarmer Schiefertrüffel an einer Trüffelvinaigrette mit Texturen von Zwiebel und Ackersalat – ein Gang voller Umami, dessen erdig-würzige Aromen geradezu genial am Gaumen aufgehen und uns erahnen lassen, weshalb der Guide Michelin das Lokal aufgewertet haben könnte.
Nach diesem ungewöhnliche Einstieg starten wir ins Menü mit IkeJime-Zander, Ingwer und Lauch. Offenbar huldigt man auch hier dem Zeitgeist, denn manchmal scheint es fast so als wäre für Fisch schon gar keine andere Zubereitungsart mehr als das japanische IkeJime denkbar oder gar erlaubt. Facettenreich gerät der eingelegte und frittierte Ingwer, und auch der sous vide gegarte und anschließend geröstete Lauch steuert interessante Nuancen bei. Spritzer von Limette und eine Soja-Miso-Mayonnaise runden einen interessanten Gang, der allerdings gerne etwas weniger säuerlich hätte geraten dürfen, ab: kein Highlight, aber durchaus inspiriert.
Austern-Udonnudeln wird mit pochierten Gillardeau-Austern, einem hocharomatischen Austernblatt und einem Ceviche-Sud aus Fenchel und Dill veredelt. Der eigentliche Clou des Gerichts ist jedoch ist der fränkische Kaviar auf einem frittierten Algen-Chip, den die Küche von Frankens einzigem Kaviarproduzenten, dem Störzüchter Sebastian Salomon, bezieht. Die präsenten jodig-salzigen Aromen gehen in Kombination mit der Pasta eine ungewohnte Liaison ein, die alles andere als vorsehbar ist und uns gerade deswegen überzeugt und anregend wirkt.
Einen echten Volltreffer landet die Küche mit Schweinerücken, Wildaal und Sellerie. Die Kombination von trocken gereiftem Rücken mit dem Aal, der von Fischwirtschaftsmeister Karl-Peter-Schwegel bezogen wird, ist eine begeisternde Allianz, die durch den fermentierten, knallgrünen Selleriesud kongenial begleitet wird. Wie hier Eleganz und Rustikalität miteinander verquickt werden, hat großen Stil!
Vor dem Hauptgericht gibt es einen Klassiker. „Kalte Ente“ interpretiert die Küche selbstverständlich auf neue Art und Weise: ein Rotweingranité, auf dem sich auch noch Rotweineis befindet, badet in Champagner, der mit schmalen Minzstreifen veredelt wird. Das eiskalte Gericht gerät sehr erfrischend und überzeugt selbst den Abstinenzler in mir!
Als Hauptgericht kreiert die Küche Lammkeule und -bauch, Spargel, Ampferblätter und Rhabarber. Was wie eine höchst gewagte Kombination klingt, erweist sich auf dem Teller als ein launiges und originelles Gericht, das seinen Reiz auch aus farblichen Kontrasten bezieht. Die Röstaromen des Lamms mit der Knoblauch-Rhabarber-Jus werden von gegrilltem Spargel und Spargelmousse abgefedert, während der eingelegte Rhabarber und die Schalotten-Dill-Vinaigrette säuerliche Spitzen setzen. Der Teller stand kurz davor, überfrachtet zu sein, aber so wie die Dinge lagen war dies bislang eins der besten Hauptgerichte dieses Jahres.
Ein höchst ungewöhnlicher Käsegang folgte sodann: was schlicht als gereifter Parmesan angekündigt wurde, war ein Getreiderisotto, auf dem purer Parmesan und in Form eines Chips ruhte. Noten von Zwiebel sowie ein Sauerteigbrot bereicherten die Aromatik dieses Gerichts dabei genauso würdig wie die Sternfrucht-Safran-Jus. Übrigens bezieht die Küche selbst den Safran vom Ehepaar Waldmeyer aus Franken! Der allgemein grassierenden Langeweile bei Käsegerichten hatte die Küche hier wahrlich ein ausdrucksstarkes, intensives Statement entgegenzusetzen, das mich regelrecht begeisterte.
Ein launiges Pré-Dessert war das auf einem Holzstöckchen aufgespießte Sauerampfereis, das mit diversen kleinen Blüten noch verziert war. Das auch optisch höchst ansprechende Intermezzo war hochwillkommen und wurde sogar im Speisesaal einsehbar von der Patisserie zubereitet.
Das Dessert, Butterkuchen und Zitrone, geriet natürlich nicht so nüchtern wie die Ankündigung, denn die Zitrone wurde in einer Vielfalt interpretiert, die das Prädikat „Hochküche“ allemal rechtfertigte. Lemon Curd, Sorbet, eingelegte Schale und Verbene baten Baiser und Butterstreusel zum Tanz, so dass unterm Strich ein recht sommerlich anmutendes Dessert stand, das durchaus seinen Reiz hatte, die Intensität aber im Vergleich zu so manchem Gang davor deutlich herunterfuhr – nicht die schlechteste Entscheidung nach all den Aromenbomben zuvor!
Eine entzückende Idee hatte sich die Patisserie zum Abschluss einfallen lassen: nach sechs Generation Familienbetrieb sollte das anstehende Jubiläum von 150 Jahren so gefeiert werden, indem ein Signature Dish (kann man das über süße Ausklänge überhaupt sagen?) von jedem Chef aufgefahren wurde. In chronolgischer Reihenfolge waren dies zunächst ein Mini-Walnusskuchen sowie eine adrette Neuinterpretation von „Birne Helene“. Die nächste (und gewagteste) Kreation, bestehend aus einem süßen Chip mit Kirsche und Schwarzwälder Schinken, wurde von Herta Herrmann, der Großmutter des Chefs, seinerzeit entworfen.
Ich gestatte mir hier, einen kleinen Exkurs einzuschieben, denn die rüstige Dame zählt heute zarte 104 Jahre und sitzt praktisch immer noch jeden Abend in der Bar nebenan!!! Die noch bei vollem Verstand befindliche Rentnerin erzählte uns wie geradezu selbstverständlich, dass sie im Januar 105 Jahre alt werden würde! Sieht man einmal davon ab, dass ich ohnehin noch nie vor einer leibhaftigen 104-Jährigen stand, so beeindruckte insbesondere die Schlagfertigkeit der Dame (es wäre fast schon eine verharmlosende Untertreibung, sie als „Institution des Hauses“ zu bezeichnen): sie bedaure, dass man sie nicht mehr mit dem Fallschirm springen ließe! Selbst eine bundesweit bekannte Zeitung berichtet inzwischen alljährlich über ihren Geburtstag; sie kennenzulernen lohnt fast schon allein den Besuch hier!
Ein herzhafter Schokotrüffel und ein mit Orange aromatisierter Schaumkuss bringen uns immer näher an die Gegenwart heran, bis schließlich mit der Kreation des bekennenden „Star Wars“-Fans Alexander Herrmann, ein Darth Vader mit Nougat-Karamell gefüllt, die heutige Zeit wieder erreicht ist.
Dass unterschiedlichste Servicekräfte an den Tisch kamen und dabei praktisch ihr eigenes Lieblingsgericht vorstellten, empfanden wir als nette Abwechslung, zumal man auf diese Weise nicht nur von den bereitgestellten Kärtchen, sondern auch aus dem Munde der Ideengeber so manches Wissenswerte erfahren konnte. Was der Service ein wenig an Herzlichkeit vermissen ließ, machte er jedenfalls durch seine Kompetenz und Präsenz wieder locker wett. Dass Getränke und sonstige Extras zu moderaten Preisen angeboten werden, wertet das Vergnügen noch weiter auf.
Was nehmen wir von diesem Abend mit? Ein unterhaltsames und kurzweiliges Menü mit etlichen Highlights beeindruckte uns mehrmals gehörig. Die Küche agiert des öfteren an der Schwelle zur Avantgarde, doch nichts an diesem Abend wirkte völlig überdreht oder seltsam. Eine fast schon bedingungslose Lust am Experimentieren, die hierzulande selten geworden ist, verdeutlichte uns, dass man hier gewillt ist, seinen eigenen Weg zu gehen und sich schlimmstenfalls lieber einmal mehr zu weit aus dem Fenster lehnt als sich auf Bewährtes und Althergebrachtes zu verlassen. Die Individualität der Gerichte sowie die verwendeten Produkte mit Bezug zur Region stellten für uns die größte Stärke der Küchenleistung dar. Das geschmackliche Ergebnis brauchte keine Rechtfertigung, selbst wenn die Schärfe des Meerrettichs oder die Säure des eingelegten Ingwers recht grell gerieten. Trotz aller Moderne wurde im Gegensatz zu früheren Zeiten auf unnötige Showeffekte verzichtet, selbst wenn die farbenfrohe Optik der Gerichte durchaus wahrnehmbar geriet. Alles in allem hatte das Menü mehr Substanz als erwartet und rechtfertigte unserer Meinung nach die Anhebung auf zwei Sterne. Vielleicht ziehen der Gault&Millau (derzeit nur 16 Punkte) und der GUSTO (7 Pfannen) bald nach, denn das hielten wir für angebracht. Franken vermarktet sich ja ganz gerne als Genussregion und kann nun endlich mit diesem Lokal sowie dem Sosein in Heroldsberg gleich zwei neue Zweisterner anbieten – das macht zusammen mit dem längst etablierten Essigbrätlein in Nürnberg die stattliche Zahl von drei Lokalen mit dieser Auszeichnung. Es tut sich was in Franken – wir kommen wieder!