„Das Geheimnis der Japaner ist eben, dass sie arbeiten und nicht Vorträge darüber halten.“ (Peter F. Drucker)
Januar 2022
Regelrechte Schockwellen gingen durch die Gourmetszene der bayerischen Landeshauptstadt, als im Juni 2020 Tohru Nakamuras Werneckhof Knall auf Fall von den Besitzern, den Gebrüdern Geisel, wegen wirtschaftlicher Schieflage im Zusammenhang mit der Pandemie geschlossen wurde. Nach gut einem Jahr völligen Leerstands hat inzwischen Sigrid Schelling, die langjährige Souschefin von Hans Haas, das Lokal übernommen und bietet nun dort eigene Kreationen sowie liebgewonnene Klassiker des langjährigen Tantris-Chefs Hans Haas an, der ja bekanntlich Ende 2020 den Kochlöffel an den Nagel hängte und sich wegen der Pandemie leider heimlich, still und leise in den sowas von verdienten Ruhestand verabschieden musste.
Tohru Nakamuras Zukunft dagegen schien lange Zeit ungeklärt. Im Herbst 2020 wurde dann in der rückseitig zum Marienplatz gelegenen Schreiberei, dem ältesten Bürgerhaus Münchens, das Pop-up-Restaurant Salon rouge eröffnet, das trotz (oder gerade wegen?) seiner feststehenden Öffnung von nur sechs Monaten reichlich Aufmerksamkeit erlangte. Der unerwartete Erfolg des nur als temporäre Lösung angesehenen Unterfangens schien aber alle Beteiligten selbst überrascht zu haben, denn schon bald nach der erneuten Schließung setzen wohl umfangreiche Verhandlungen ein – mit dem Ziel, in derselben Räumlichkeit dauerhaft ein Gourmetrestaurant zu etablieren. Nach einiger Zeit wurde dann verkündet, dass Tohru Nakamuras neues Restaurant tatsächlich an derselben Stelle im Herbst 2021 neu entstehen sollte. Aufgrund der umfangreichen Sanierung wurde zwischenzeitlich bis zur Eröffnung ein Ersatzquartier im Werkviertel für ca. drei Monate installiert. Außerdem ließ es sich der talentierte Koch natürlich nicht nehmen, eine höchst willkommene Anfrage des Salzburger Ikarus zu akzeptieren: als einer von insgesamt fünf Gastköchen sollte er das Geburtstagsmenü zum 80. Geburtstag des Patrons und Jahrhundertkochs Eckart Witzigmann gestalten – mein frenetischer Bericht über jene Stippvisite in Salzburg zeugt davon, welch ein außergewöhnliches Mahl dort tatsächlich zelebriert wurde.
Zurück nach München: seit Dezember 2021 hat Tohru Nakamura nun also sein neues und endgültiges Domizil in der Schreiberei bezogen. Unter dem (etwas sperrigen) Namen Tohru in der Schreiberei wird es ab sofort wieder eine der besten Küchen Deutschlands zu erleben geben, denn zum Zeitpunkt der Schließung des Werneckhofs gehörte der Ausnahmekoch schon zu den zwanzig besten Vertretern seiner Zunft in Deutschland. Im Frühjahr dieses Jahres wird übrigens noch das Zweitrestaurant Schreiberei hinzukommen, das derzeit wegen laufender Sanierung noch nicht geöffnet hat. Hoffen wir, dass Herr Nakamura nun nach zwei aufregenden und unruhigen Jahren seinem Metier wieder etwas konzentrierter nachgehen kann. Dass es ihm an Gästen mangeln wird, scheint ausgeschlossen: ein Vorlauf von einem Monat für einen reservierten Tisch unter der Woche stellt hier nichts Ungewöhnliches dar. Jetzt bleibt nur noch abzuwarten, ob der Hype gerechtfertigt ist …
An einem geradezu frühlingshaft warmen Januartag ist alles für einen großen Abend bereitet: die Öffnung des Lokals um bereits 17 Uhr wegen der aktuellen Maßnahmen kommt uns eher gelegen, da die Ankunft nach der langen Heimfahrt wenigstens noch zu einer halbwegs christlichen Uhrzeit erfolgt. Doch daran denken wir am Anfang des Mahls natürlich noch nicht, sondern harren vielmehr gespannt der Eindrücke, die uns an diesem Abend erwarten sollten. Der Weg zum Lokal selbst führt durch einen unscheinbaren Seiteneingang, auf den ein ähnlich unauffälliges Schild hinweist, über eine steile Treppe in den ersten Stock. Dort erwartet den Gast ein relativ spärlich beleuchtetes Ambiente in Terrakotta-Farben, durch das allerdings ein ausgesprochen warmes Licht strömt. In diesem Ambiente gehen die kreisrunden und blanken Holztische eine wohltuende optische Symbiose ein, die davon zeugt, wie durchdacht hier doch letztlich alles wirkt. Die faltbare Speisekarte, die von der Form einem Herrenanzug durchaus nicht unähnlich ist, liegt dabei schon zu Beginn auf dem Tisch. Sie hat allerdings kaum mehr als dekorativen Charakter, denn eine Wahl bei der Menüfolge hat man nicht. Es besteht aus zwölf fest vorgegebenen Gängen zu einem Preis von € 245, wobei schon zwischen Apéros und echten Gängen anhand der Portionsgrößen unterschieden werden kann.
Zum Auftakt lasse ich mir einen Cocktail von grünem Apfel kredenzen, der fein abgeschmeckt ist mit Noten von Estragon und Ingwer.
Weiter geht es mit einem HOTATE SANDO (eine Art japanischer Sandwich) von Jakobsmuschel, gerösteter Kombu und Piment d´Espelette. Zwischen zwei senkrecht aufgestellten Scheiben von frittiertem Brot befindet sich nicht nur das Fleisch der Jakobsmuschel, sondern auch der Bart, wenn ich den Service richtig verstanden habe – insofern eine Überraschung, da dieser meines Wissens nicht zu den verwertbaren Teilen gezählt wird. Gebettet auf einer Beurre blanc, versprüht diese Petitesse ausgeprägt asiatische Aromen, die trotz durchaus herzhafter Zubereitungen leicht, bekömmlich und vor allem filigran wirkt. Auch das findet absolut Anklang.
Optisch vollkommen auffällig, aber dennoch unentbehrlich ist natürlich die Grunddisziplin der japanischen Küche, die DASHI. Das „gelebte Nichts“, wie es auch manchmal genannt wird, besteht in diesem Fall aus Ma-Kombu, bretonischer Katsuoboshi (geräuchertem Bonito) und Shiitake-Pilzen. Reiner und intensiver könnte das nicht sein – und japanischer auch nicht: das ist die Quintessenz der fernöstlichen Küche in einem einzigen Schälchen vereint. Es sieht denkbar einfach aus – und doch kann man angesichts des großen Aufwands dabei so viel falsch machen!
Damit geleiten wir sanft zum Hauptteil des Menüs hinüber, welches mit Seeforelle, Bete, Yuzu und Wasabi eingeläutet wird. Das Ergebnis ist eine Sensation: der in drei Varianten (kurz geflämmt, als Tatar und eingelegt) präsentierte Hauptdarsteller labt sich an einer geklärten Buttermilch, während er von roter Bete (frittiert und eingelegt) und Ceta-Kaviar auf höchst diffizile Weise federleicht begleitet wird. Etwas geriebenes Wasabi sorgt für dezente Schärfe, während die Spritzigkeit von etwas Yuzu dem Gericht den letzten Feinschliff verleiht. Das ist grandios ausbalanciert, von geradezu betörender Frische und trotz aller Komplexität ungeheuer transparent im Geschmack. Ein Meisterwerk!
Das erst jetzt gereichte Brot stammt von der Bäckerei Arnd Erbel im mittelfränkischen Dachsbach, einem 1.000-Seelen-Ort eine halbe Stunde westlich von Erlangen. Die Reputation dieses Bäckers ist in Gourmetkreisen allerdings weit über die Grenzen Bayerns hinaus bekannt, und so erhalten wir in der weit entfernten Landeshauptstadt Sauerteigbrot von überragender Qualität mit einem Schnittlauchsud und Butter, die mit Miso, Yuzu, Bonito, Shiso und Knoblauch veredelt wurde – das Suchtpotential der Butter im Verbund mit der exzeptionellen Qualität ist immens. Dass man einer Brotauswahl noch eine derartige Aufmerksamkeit schenkt wie hier, beobachten wir leider auch immer seltener.
Ich gestehe, dass die Beschreibung aller Erlebnisse dieses Abends angesichts der Komplexität dieser Küche und der bisweilen fehlenden Vertrautheit mit allen japanischen Details, Produkten und Techniken zu einer durchaus herausfordernden Angelegenheit geriet, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder gar uneingeschränkte Korrektheit erhebt – die teils rauschhaften Eindrücke allesamt adäquat zu erfassen fiel mir teils wirklich schwer. Allerdings sind es ja genau diese fremdartigen Eindrücke, deretwegen man voller Vorfreude ein derartiges Lokal aufsucht. Die Erweiterung des kulinarischen Horizonts ist aus meiner Sicht ein Prozess, der stets im Fluss bleiben sollte und mit jedem ungewöhnlichen Lokal weiter bereichert wird. Schon allein deshalb sind weitere Stippvisiten hier in Zukunft fest eingeplant. Wie meine weiteren Ausführungen unten aufzeigen, ist dies jedoch bei weitem nicht der einzige Grund für ein ausgesprochen wohlwollendes Plädoyer meinerseits.
Trotz einer Folge von zwölf Menüpunkten stellte sich hinterher nicht die geringste Form von Völlegefühl ein, sondern lediglich eine tiefe Ausprägung von Beglückung. Sämtliche noch so leise Befürchtungen, Tohru Nakamura könnte in der langen und unsteten Zeit etwas verlernt haben, wurden an diesem Abend souverän zerstreut. All die Qualitäten, die seine Küche schon zu Zeiten des Werneckhofs ausgezeichnet hatten, waren auch heuer zu erleben. Dabei glaubte ich ausgemacht zu haben, dass das Profil abermals geschärft werden konnte, denn die allzu knallige Optik früherer Tage mit Blumen und weiteren ungewöhnlichen essbaren Komponenten, die natürlich ein geistiges Kind seines Mentors Sergio Herman waren, wurde erheblich entschlackt. Vergleichsweise kleinteilig sind die Darbietungen auf den Tellern zwar immer noch, aber Überflüssiges oder Effekthascherei suchten wir vergebens. Der konzentrierte und in seiner Intensität unvergleichlich variable Geschmack, der stets filigran bis ins letzte Detail ausgelotet schien, erweist sich wohl als das auffälligste Merkmal seiner Küche – dennoch wäre es nicht angemessen, die Vorzüge dieser Küche allein darauf zu reduzieren. Nein, auch der stilsichere Umgang mit unterschiedlichsten Produkten und Aromenwelten gelingt hier ein ums andere Mal scheinbar mühelos und ohne in die bisweilen zu beobachtende Beliebigkeit so mancher Fusion-Küche abzudriften. Überraschungen stimmiger Art gab es an diesem Abend jedenfalls zuhauf zu bewundern, denn allein schon die Bandbreite der Viktualien (man denke nur an den Degenfisch) dürfte auch selbst erfahrenste Gourmets noch mit unbekannten Eindrücken verzücken. Wenn sich Tohru Nakamura erst einmal endgültig an seiner neuen Wirkungsstätte eingelebt hat, dann dürfen wir künftig von großen Genussmomentent ausgehen. Unter derartigen Vorzeichen schon jetzt eine solche eingespielt wirkende Leistung abzurufen nötigt mir jedenfalls allen Respekt ab.
Eine stimmige und anständig bepreiste Getränkebegleitung rundete zudem eine Serviceleistung ab, die wir als sehr angenehm empfanden. Unter der Leitung der Klaas-Zwillinge Markus und Tobias verrichtet die Servicebrigade einen authentischen Job: mit dem richtigen Maß an Diskretion, auskunftsfreudig und mit sicherem Gespür für die Belange der Gäste. Davon könnte sich so manches höher dekorierte Lokal gerne noch ein Scheibchen abschneiden. Der geforderte Preis bedurfte sicherlich auch keiner Rechtfertigung und erwies sich als angebracht.
Unerwartete Unterstützung bei der Einschätzung meiner Eindrücke erhielt ich von hochkompetenter Seite: im Laufe des Abends schweifte mein Blick öfters durchs „Publikum“ und blieb immer wieder an einem bestimmten Gast haften. Sah dieser dem Zwei-Sterne-Koch Christoph Rainer vom Luce d’Oro in Elmau nur sehr ähnlich oder war er es wirklich? Die Antwort erhielt ich gegen Ende des Abends, als Herr Rainer direkt an meinem Tisch vorbeilief, mich ansprach und mich begrüßte. Nach dem Austausch von ein paar freundlichen Worten ergab sich beim Verlassen des Lokals eine einmalige Gelegenheit: da die beiden Profis noch eine ganze Weile am Ausgang fachsimpelten, nutzte meine Begleitung die Chance, die beiden Chefs für ein gemeinsames Foto mit mir zu bitten. Tohru Nakamura zählt für mich schon lange zu den offensten und humorvollsten Vertretern seiner Branche, so dass ich mir eine Ablehnung dieser Bitte seinerseits beim besten Willen nicht vorstellen konnte. Auch Christoph Rainer sagte selbstverständlich zu, so dass nun ein weiteres Foto mit zwei Spitzenköchen (natürlich dummerweise mit Maske …) gleichzeitig meine private Sammlung ziert. Ich nehme an, dass Herr Rainer den Hausherrn nach unserem „Abgang“ noch darüber aufklärte, wer ich sei – ich ging stark davon aus, dass der Chef mich nicht kennen würde. Seine persönlichen Impressionen mit den Highlights des Abends veröffentlichte Herr Rainer in einer Facebook-Story, wo ich wenig überrascht und in meinem Urteil bestätigt zur Kenntnis nahm, dass ihm dieser außergewöhnliche Abend ebenso gut wie mir zugesagt hatte. Wenn der rote Gourmetführer noch den Besuch eines Inspektors hier vor der Veröffentlichung des neuen Guides für 2022 einrichten kann, dann darf man auf jeden Fall fest von zwei Sternen ausgehen – der dritte Macaron schien bekanntlich schon zu Werneckhofs Zeiten in greifbarer Nähe. An der Pforte zum höchsten Heiligtum des Michelin klopfte diese Darbietung jedenfalls unüberhörbar an, aber mal sehen, was die rote Gourmetbibel diesmal im Frühjahr wieder für ein Kaninchen aus dem Hut zaubert …
Mein Gesamturteil: 19 von 20 Punkten