bianc**, Hamburg (UPDATE)

„Wie nennt man einen Italiener mit eingegipsten Armen? Stumm!“ (Martin Klein)

UPDATE (August 2023)

Martin Klein, der Chefkoch des Salzburger Ikarus, ist zwar schwerlich der Urheber dieses Scherzes, aber es darf als gesichert gelten, dass er ihn ganz konkret auf Matteo Ferrantino bezog. Das liegt einfach daran, dass der heutige Chefkoch des bianc damals als blutjunger Koch in einem Restaurant auf Mallorca arbeitete, in welchem eines Abends kein Geringerer als Eckart Witzigmann höchstpersönlich zu Gast war. Seither verfolgte der heutige Patron des Ikarus die weitere Entwicklung des aufstrebenden Jungkochs genau und band ihn schon rasch ins Team des legendären Salzburger Restaurants mit ein. Dort hatte er von Berufs wegen natürlich ständig mit dem damaligen Chef Roland Trettl, aber eben auch mit Martin Klein zu tun, der ihn wie kaum ein Zweiter kennt. Tatsächlich wäre Matteo Ferrantino der erste Gastkoch, der schon mal im Team des Ikarus früher arbeitete, sollte er in Zukunft irgendwann eine Einladung in die Mozartstadt erhalten. Es ist bekannt, dass Martin Klein große Stücke auf ihn hält – und das zurecht, hat das aufstrebende Talent inzwischen doch selbst zwei Michelin-Sterne in der Hansestadt erkochen können. Neuen Gästen sei allerdings gesagt, dass der umtriebige Chef in seinem Lokal bisweilen öfter als Entertainer anstatt als Koch auftritt und seine Gäste auf einzigartige Weise bei Laune hält. Ja, lebhaft und leidenschaftlich ist dieser Chef allemal, weshalb das Eingangszitat so perfekt auf ihn zutrifft!

Die hier dargebotene Küche ist allerdings eher mediterran als rein italienisch geprägt – kein Wunder, denn eine weitere Station bei der Legende Dieter Koschina an der Algarve in dessen Villa Joya hinterließ natürlich ihre Spuren beim Chef. Mittelmeerküche wirkte speziell zur Eröffnung des Lokals vor einigen Jahren fast ein wenig befremdlich im gediegenen Hamburg, zumal das Lokal an der Nahtstelle zwischen Speicherstadt und Hafencity in Sichtweite der Elbphilharmonie liegt. Längst hat das Publikum indes seine anfänglichen Vorbehalte abgelegt und diesen für Hamburg etwas gewöhnungsbedürftigen Küchenstil akzeptiert. Man offeriert hier zwei Menüs namens „Emotion“ und Garden“, die beide jeweils € 230 kosten und sich vor allem darin unterscheiden, dass die zweitgenannte Variante vegetarisch gehalten ist.

Ich bin an diesem Abend der allererste Gast nach den Betriebsferien und erbitte pünktlichen Einlass, da es just bei meinem Eintreffen anfängt zu regnen. Es ist schon mein dritter Besuch hier, aber angesichts der Vielzahl an Gästen seither scheint mich Signore Ferrantino nicht sofort einordnen zu können, weshalb ich zu Beginn selbst bei dem sonst so überzeugt auftretenden Chef ein gewisses Restmaß an Nervosität auszumachen glaube. Das legt sich allerdings recht schnell, denn ich finde mich schnell wieder zurecht und suggeriere ein großes Interesse nicht nur an seiner Arbeit, sondern auch an seiner Kochbuchsammlung im Eingangsbereich, die allerdings nur einen winzigen Auszug seiner privaten Kollektion darstellt. Da ich alleine einkehre, werde ich in den Pausen zwischen den Gängen nahezu ständig mit der Lektüre von Kochbüchern aller Couleur beschäftigt sein und im Laufe dieses Abends eine ganze Menge dazulernen. Bis auf die Empfangsdame ist der Service an diesem Abend übrigens rein männlich, doch die emsige Truppe hat alles im Griff, zumal sich der Chef ja in der Rolle des verkappten Servicechefs gefällt.

Nach wie vor lässt es sich in dem schwebend leichten Raum mit viel Holz und Glas schick und entspannt speisen, zumal sich nichts erkennbar verändert hat. Die großzügigen und blanken runden Holztische nehmen dem Lokal jede Steifheit, zumal spätestens mit dem Auftragen des eröffnenden Reigens der Spaß im Vordergrund steht. Dank der ausführlichen Erläuterungen des Chefs und der Opulenz im Allgemeinen ist diese Ouverture längst über die Grenzen der Metropole hinaus bekannt. Nicht weniger als zehn (!) teils grundverschiedene Häppchen läuten den Abend hier zu einem Glas alkoholfreien Apfel-Quitten-Secco aus dem Hause Van Nahmen gewohnt lässig ein – derart lässig, dass einem das exzellente Niveau fast entgehen könnte! Die Apéros werden zwar alle zeitgleich aufgetragen, aber der besseren Einordnung halber sind die Beschreibungen oberhalb der jeweiligen Bilder zu finden.

Der größte Beitrag ist Pan con Tomate (Tomatenbrot) mit Manchego-Käse, gefolgt von …

… Entenleber und Feige auf einem Cassis-Macaron sowie einer Gambastortilla. Weiterhin gehören dazu …

… eine geeiste Gurkenpraline mit Dill und Boquerones (weiße Sardellen) sowie ein dekonstruierter Klassiker der Algarve, nämlich Chicken Piri-Piri.

Die weiteren Häppchen bestehen aus Rindertatar mit schwarzem Knoblauch auf einer Art Kroepoek, dann portugiesische Venusmuschel auf einem Tapiokachip und schließlich scharf gewürzter galizischer Pulpo.

Der portugiesische Klassiker Bacalhau findet schließlich als Brandade Verwendung für ein Cornetto, während die geeiste Praline von grünem Apfel mit Gazpacho-Füllung der Region Andalusien huldigt.

Auch wenn ein altes Sprichwort besagt, dass das erste Mal immer das schönste Mal sei, so hat dieser Reigen auch bei der inzwischen dritten Verkostung dank nur leichter Modifikationen nichts von seinem Reiz verloren. Im Gegenteil: speziell der Pulpo und das Tatar springen mich mit ihrem dichten Geschmack so an als hätte ich sie gerade zum ersten und nicht zum dritten Mal verkostet! Gerade der halbe Macaron mit Cassis entpuppt sich als besondere Eingebung, deren unerwarteter Geschmack angesichts der sonst reduzierten Süße bei den anderen Apéros einen gelungenen und überraschenden Kontrast darstellt.

Die Brotauswahl ist ähnlich aufwendig gehalten und besteht aus einem Grissino mit Lardo und Oregano sowie einem Focaccia, zu welchem man einen Aufstrich aus mediterraner Büffelbutter und Mortadella reicht. Weitere kleine Aufmerksamkeiten bestehen aus einer Praline von grüner Olive mit Gelée von Wermut und Salzzitrone sowie einer Oliventapinade auf einem Crostino – ein ziemlich krasser Ausklang, der die Papillen reinigt und auf kommende Genüsse einstimmt.

Das Maß an Sättigung ist zu diesem Zeitpunkt im Vergleich zu anderen Lokalen nämlich schon recht beachtlich, weshalb ein leichter Einsteiger dringend Not tut. Pochierte rote Garnele ist dabei auf einem Sud von Cantaloupe-Melone gebettet, wobei weitere Fruchtsegmente ebenfalls eingearbeitet sind. Umwickelt ist das zarte Krustentier mit Pata Negra, was einen ziemlich deftigen, aber nicht untypischen Kontrast darstellt. Daran oder an den Tropfen von Zitronengel unter den Kräutern störe ich mich jedenfalls viel weniger als an dem Einfall, den Sud mit Rucolaöl zu veredeln. Die Entscheidung, der Deftigkeit und leichten Süße auch noch eine recht bittere Komponente beizusteuern, wirkt auf mich gekünstelt – aus meiner Sicht eine kontroverse Entscheidung überflüssiger Art, die das Gericht eher ent- als aufwertet. Trotz der vermeintlichen Übersichtlichkeit der Anordnung passiert mir hier einfach zuviel, das nicht in sich stimmig wirkt.

Noch farbenfroher, aber ungleich strukturierter geht es im nächsten Gang zu. Unter einem Netz von Brandteig mit cremigen Tropfen von Zitrone mit Bergamotte findet man Gillardeau-Austern, die abseits aller Konventionen umspielt werden: so ist beispielsweise auf den Schalentieren selbst der italienische Hartkäse Caciocavallo dünn aufgetragen, während der Sud von Bergamotte einen kühnen Kontrast dazu eingeht. Ein solcher Gang erfordert auf jeden Fall Mut, doch diesmal geht das Kalkül dahinter für meine Begriffe besser auf – auch wenn mir die bisherigen Gänge zu denken gegeben. Zum einen fällt nämlich auf, dass die Teller trotz einer weiterhin erkennbaren Vorliebe für knallige Optik gegenüber früher deutlich reduzierter wirken. Die grellen Kontraste in der Aromatik lassen eine bisher ungekannte Experimentierfreude erahnen, selbst wenn die Ergebnisse soweit durchaus zweischneidig ausfielen. Einen modernen Küchenstil pflegt man hier seit jeher, aber ob die Avantgarde mit den Überzeugungen des Chefs korreliert, sei fürs erste jedenfalls mal dahingestellt.

Etwas weniger risikofreudig und damit deutlich gewohnter gerät der nächste Gang. Dennoch überrascht auch hier der im rechten Schälchen praktizierte Purismus, welcher offenbar ganz darauf abzielt, die exzeptionelle Qualität der handgeangelten portugiesischen Rotbarbe unverfälscht ins beste Licht zu rücken. Wie zur Bestätigung erfahre ich aus dem Munde des Chefs höchstselbst, dass der in der mediterranen Küche für sein absolut unverwechselbares Aroma geschätzte Speisefisch in diesem Falle sich quasi selbst würzt: er labt sich in leicht geräucherter Form an einer Suquet – einer spanischen Bouillabaisse – aus der Haut des Fischs. Zurückhaltend akzentuiert wird die kraftvolle Barbe mit einem Schälchen von Passepierre-Algen und Percebes (Felsen-Entenmuscheln) auf einem Gelée von Atlantik-Meerwasser. Die direkte und konzentrierte Salinität macht aus diesem körperbetonten Gang fraglos den bisher  überzeugendsten Beitrag des Abends, wenngleich ich nochmals beim Chef nachfragen sollte, woran man erkennen kann, dass ein Gericht – um seine eigenen Worte zu benutzen – „sexy“ ist?!

Im selben Stile umgesetzt ist auch der nächste Gang, der mit pochiertem und kurz gegartem Wolfsbarsch auftrumpft – so behauptet es jedenfalls die Speisekarte. Ich müsste mich allerdings schon sehr täuschen, wenn der vorliegende Fisch mit seiner typisch weichen und leicht flexiblen Konsistenz kein Seeteufel sein sollte. Wie so etwas passieren kann, weiß ich nicht – eine nicht aktualisierte Speisekarte scheint mir der plausibelste Grund zu sein, aber selbst der Service sprach meinem Gedächtnis zufolge von einem Wolfsbarsch?! In Lokalen dieser Kategorie sollte es normalerweise nicht vorkommen, dass ein Produkt „aus“ ist, aber selbst dann wirkt ein im Einkauf erheblich kostenintensiverer Seeteufel als Back-up nicht wie eine Standardlösung des Problems! Reichlich seltsam, aber wie dem auch sei – viel mehr als einen Salat von wunderbar mürben und vollreifen Ochsenherztomaten sowie eine handwerklich souverän umgesetzte und mit Basilikum verfeinerte Kartoffelsauce braucht es nicht, um den vielleicht herausragendsten Teller des Abends zu kreieren.

Der in den vergangenen zwei Gängen zur Schau gestellte Purismus ist denkbar weit entfernt von den beiden Vorgängern entfernt, bringt aber für meine Begriff erheblich höhere Dividenden ein. Der langjährige Einfluss von Dieter Koschina erweist sich bei solch einem Gang schwerlich als hinderlich, und so scheint die aktuelle Findungsphase gerade in vollen Gange zu sein. Den Verlockungen der Avantgarde zu widerstehen fällt Signore Ferrantino bisweilen noch schwer, aber ich für meinen Teil bin längst zu der Erkenntnis gekommen, dass die reduzierten Beiträge wesentlich besser gelingen. Nachdem die letzten Gäste inzwischen eingetrudelt und mit der Ouverture „verarztet“ sind, tritt der Abend hier tatsächlich in eine Phase ein, in welcher der Chef deutlich länger als zuvor in der Küche verweilt.

Im späteren Verlauf des Abends erfahre ich übrigens, dass Matteo Ferrantino trotz all der illustren Lehrmeister, denen er während seiner Ausbildung zur Hand ging, für die Überzeugungen eines bestimmten Chefs, für welchen er nie arbeitete, besonders empfänglich ist: Santi Santamaria war ein dreifach besternter und viel zu früh an einem Herzinfarkt verstorbener Chef in Katalonien, der zwar eine enge Freundschaft mit Ferran Adrià pflegte, aber ein erklärter Gegner von dessen Molekularküche war und deren Prinzipien entschieden ablehnte. Santamarias Kochbuch findet sich im Präsenzbestand des bianc, weshalb mich Signore Ferrantino mit dem Buch kurz vertraut macht und es mir zur Lektüre überlässt. Meine Spanischkenntnisse erweisen sich dafür als ausreichend, zumal das Buch in sehr flüssigem und gut verständlichem Stil geschrieben ist. Jedenfalls wird mir schon bald klar, dass die beiden Fischgänge den klassisch fundierten Prinzipien des spanischen Großmeisters weitaus mehr als ihre Vorgänger entsprechen.

Die stilistische Vielfalt an diesem Abend wird einigermaßen verwirrend bleiben, aber die Qualität bleibt nach den Schwankungen zum Auftakt des Menüs fortan zumindest konstant hoch: die hauchdünn geschnittenen Tranchen von Miéral-Perlhuhn werden mit Süßmais und durch Aufstechen zerfließenden Eidotter zurückhaltend begleitet. Das Geflügel mit einem Raviolo von  Languste und Kaviar zu paaren dürfte auch noch nicht vielen eingefallen sein. Das klappt geschmacklich besser als erwartet, zumal die insgesamt recht weichen Konsistenzen dem Geflügel den nötigen Raum zur aromatischen Entfaltung lassen. Im Sinne der offenbar angestrebten Reduktion fällt auch die gegenüber früheren Zeiten geringere Zahl an Satelliten positiv auf. Das wirkt zwar in Summe schon recht herbstlich, kann aber ohne Weiteres der Kategorie Soulfood zugeordnet werden – unkomplizierter Genuss mit hohem Wohlfühlfaktor eben.

Als Randnotiz sei auch angemerkt, dass sich der Abend nicht wie in der Vergangenheit schon mal über mehr als fünf Stunden hinzieht, sondern ziemlich flüssig voranschreitet. In seltener Kompaktheit gelangt dann das Pré-Dessert an den Tisch: ein Espuma von Passionsfrucht platziert die Pâtisserie auf Pâte-à-choux (Brandteig) und veredelt das Ganze mit einem betont kräutrigen Pulver von Verbene. Neben dem hinreissenden Spiel rund um Temperaturen und Texturen vermag das Dessert auch durch seine Kompaktheit, eine superbe Balance und eine tolle Mundfülle zu punkten, die durch die herben Kräuternoten noch potenziert wird. Verblüffend gut!

Zum offiziellen Ausklang des Menüs greift die Pâtisserie doch nochmals auf die bewährte und farbenfrohe Optik aus früheren Zeiten zurück – es sehe es ihr absolut nach, denn eine im Grunde genommen eher simple Idee wird in diesem Fall durch die launige Optik klar aufgewertet: dominiert wird diese Kreation von Himbeere in mannigfaltigen Texturen (unter anderem als Ganache) auf einem Champagnersorbet. Hinzu kommen zur Abrundung noch ein paar Segmente von Pfirsich – et voilà: fertig ist ein unkompliziertes, aber souverän und heiter umgesetztes Dessert, das nichts von grünem Gemüse beim süßen Ausklang wissen will und absolut bekömmlich gerät. Unterm Strich wird daraus ein versöhnlicher Abschluss eines Menüs, das nur zu Beginn erahnen ließ, dass hier gerade vieles auf den Prüfstand gestellt und hinterfragt wird.

Etwas wichtigtuerisch wirken die platzraubenden Unterlagen für die fünf kleinen Petits fours zwar schon, aber ihrer klar überdurchschnittlichen Qualität tut es keinen Abbruch: Tiramisu (oben rechts), Stone Brownie (Mitte links), Praline mit Madeira, Schokolade und Haselnuss (oben links), Bonbon von Mandarine, Kaffee und Baileys (unten links), sowie zu guter Letzt Florentiner mit Milchreis und Beeren (unten rechts) halten das gezeigte Niveau bis zum Schluss hoch und bieten noch einiges an geschmacklichen Überraschungen. Dazu passt auch, dass ich mir aus dem Hause Faude noch 2 cl Gurkengeist (!) einschenken lasse – etwas Avantgarde muss eben doch sein!

Die wenig einheitliche Stilistik an diesem Abend interpretierte ich in erster Linie tatsächlich als Orientierungssuche nach einem fortschreitenden Reifeprozess. Per se betrachtet überzeugten die meisten Gerichte, doch ein roter Faden im Sinne einer einheitlichen Dramaturgie fehlte mir an diesem Abend weitgehend. Dass die Entwicklung auch nach meinem Besuch offensichtlich weiterhin in vollem Gange war, belegten meine Abschlussrecherchen vor der Veröffentlichung dieses Berichts: inzwischen gibt es hier nämlich nur noch ein Menü mit dem Namen „simple&sexy“ zu € 230, in welchem die Zahl der Apéros ein wenig reduziert wurde und der Fokus nun offenbar stärker auf die eigentliche Menüfolge gerichtet werden soll. Der Trend zur Vereinfachung und puristischen Tellern hin soll offenbar durch den Begriff „simple“ manifestiert werden – es deckt sich zumindest mit meiner Erkenntnis, dass die am klarsten konzipierten Teller dieses Besuches den stärksten Eindruck hinterließen. Das bedeutet jedoch keinesfalls, dass es Matteo Ferrantino an Ideen mangelen würde – im Gegenteil wirkt es eher so, dass die Fülle an Einfällen gewinnbringend auf mehrere Teller verteilt werden kann anstatt alles auf einen einzigen zu drängen. Dem kreativen Chef dürfte sein Gespür für farbenfrohe Ästhetik auch weiterhin nicht abhanden kommen, so dass wir uns auch in Zukunft sicherlich auf durchdachte und stärker fokussierte Kreationen freuen dürfen. Das Handwerk dazu ist zweifellos vorhanden – nur das Gespür für noch stimmigere Produktallianzen könnte ein wenig Feintuning vertragen.

Unter der Leitung von Sommelier Vadim Kremnev hat der Service die Situation zu jeder Zeit im Griff. Insgesamt bevorzugt man hier einen vergleichsweise sachlichen, aber kompetenten Tonfall, der durch das lebhafte Auftreten des Chefs ohnehin bereichert wird. Auskünfte zu nahezu jedem Produkt oder den Gerichten erhält man auf Nachfrage umgehend, und auch die Getränkeauswahl wirkt sehr vielseitig, durchdacht und souverän auf die Gerichte abgestimmt. In diesem Kontext sei darauf hingewiesen, dass beim Preis-Leistungs-Verhältnis die Gewinnmargen fast ausschließlich bei den Getränken erzielt werden, während die Menüfolge selbst im absolut üblichen Rahmen bepreist ist.

Ich komme übrigens mit dem Chef derart intensiv ins Gespräch, dass der Abend für mich in der Tapasbar „Pan con Tomate“ endet, die demselben Geschäftsführer wie das bianc gehört und nur wenige Meter enfernt liegt. Allerdings weckt mein Klaiverspiel das Interesse des Chefs, denn die Einkehr dort gilt nicht kulinarischen Aspekten (die letzten Gäste waren ohnehin schon gegangen), sondern einer Darbietung auf dem Flügel, der dort steht. Ich entscheide mich für Schuberts lyrisches Ges-Dur-Impromptu und entlocke dem aufmerksam lauschenden Chef ein spürbares Staunen. Ein musikalisches Engagement ist zwar noch nicht dabei herumgekommen, aber Eindruck scheine ich durchaus hinterlassen zu haben. Dessen ungeachtet scheint dieses Lokal auch so für eine zwanglose Stippvisite geeignet, wenn es auch mal weniger als zwei Sterne sein darf. Apropos: diese nennt Signore Ferrantino vollkommen zurecht sein Eigen. Wenn die stilistische Kehrtwende mal vollzogen sein sollte, kann nicht ausgeschlossen werden, dass der begehrte dritte Macaron eines Tages auch noch hinzukommt. Bis dahin kann man sich jedoch getrost mit der Erkenntnis zufriedengeben, dass sich eine Einkehr im bianc auf jeden Fall lohnt: zwanglos speisen auf außerordentlichem Niveau bei einer Stilistik, die weiterhin stetem Wandel unterzogen ist und ergo interessant bleibt. Wir dürfen gespannt sein!

Mein Gesamturteil: 18 von 20 Punkten

 

bianc
Am Sandtorkai 50
20457 Hamburg
Tel.: 040/18119797
www.bianc.de

Guide Michelin 2023: **
Gault&Millau 2023: 3+ Toques
GUSTO 2023: 9 Pfannen
FEINSCHMECKER 2023: 4 F

Menü „Emotion“ in 7 Gängen: € 230

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„Der Italiener hat überhaupt ein tieferes Gefühl für die hohe Würde der Kunst als andere Nationen. Jeder, der nur irgend etwas treibt, will Künstler, Meister und Professor heißen.“ (Johann Wolfgang von Goethe)

UPDATE (Oktober 2020)

Matteo Ferrantino ist mit seiner mediterran geprägten Spitzenküche nicht mehr aus der Hansestadt Hamburg wegzudenken. Sein bianc spielt längst in der höchsten Liga in Norddeutschland mit und ist seit diesem Jahr auch mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnet – nur der Gault&Millau und der FEINSCHMECKER halten sich bislang mit 16 Punkten bzw. 3,5 F noch auffallend zurück. Gerade im hanseatisch-gediegenen Umfeld würde man ein solches Lokal kaum erwarten, doch zur schicken, urbanen Hafencity passt dieses Lokal wie der Topf auf den Deckel. In Sichtweite der Elbphilharmonie bietet man hier sogar für Konzertbesucher (in Corona-Zeiten natürlich nicht so sehr) vor und erstaunlicherweise auch nach dem Konzert kleine Menüs an. Unser Augenmerk gilt aber natürlich nach wie vor dem großen Menü „Emotion“ mit acht Gängen.

Bereits beim ersten Besuch staunten wir nicht schlecht über das schicke Design mit der einsehbaren Küche und dem Baum mitten im Lokal. Hier hatte sich nichts verändert, doch Matteo Ferrantino scheint inzwischen in noch stärkerem Maße zum Entertainer denn zum Koch geworden zu sein – fraglos weiß er ein Team hinter sich, das seinen Instruktionen genau folgt und dem er blind vertrauen kann. Tatsächlich wäre dieses Lokal ohne seinen quirligen und spontanen Chef gleich um ein ganzes Stück ärmer. Gleichwohl tragen auch seine aromensatten und oftmals farbenfrohen Kreationen in nicht unerheblichem Maße zum Erfolg dieses Restaurants bei. Fast schon Legendenstatus genießt auch der Reigen an Amuses bouches, denn solch ausladende Opulenz zum Auftakt sucht man in Hamburg sonst vergebens – beste Voraussetzungen also für einen gelungenen Abend.

Angeboten werden hier im Wesentlichen zwei Menüs: das achtgängige Menü Emotion (sowie eine verkürzte sechsgängige Version davon namens Markt) sowie ein vegetarisches Menü namens Garden. Gemessen an all dem, was in den kommenden Stunden zu erwarten ist, scheint der geforderte Preis von € 180 für das Menü Emotion jetzt schon relativ günstig zu sein: immerhin ist dies ein Zwei-Sterne-Restaurant im Herzen einer Großstadt, das sicherlich ordentlich Pacht abführen muss. Unsere Wahl fällt daher auf die große Parade, die gleich mit den Amuses bouches, einem Knalleffekt sondersgleichen, beginnt.

Zu einem Glas PriSecco (Apfel-Quitte-Akazienblüte) werden nicht weniger als neun (!) Häppchen aufwendig vor dem Gast platziert: Rindertatar mit Aioli im Teigmantel, Bacalhau Brandade (Cornetto), geeiste Gazpacho vom grünen Apfel (erstes Bild von vorne nach hinten), Gurke – Dill – Boquerones, Austernperle mit Bergamotte gefüllt (zweites Bild von vorne nach hinten), Oktopus Gallega, Entenleber – Mango – Lakritz, Chicken Piri-Piri (drittes Bild von links nach rechts) und schließlich Pan con Tomate (viertes Bild). Setzt da jemand etwa auf Beeindruckung? Wenn schon, möchte man da sagen – wenn es so schmeckt, wen kümmert das schon?! Dies ist in Summe ein wirklich exzellenter Einstieg, der trotz aller knalligen Farben und Unterschiedlichkeit extrem durchdacht und sorgsam verarbeitet wirkt. Diese grandiosen Eindrücke mit allen möglichen Facetten aus der mediterranen Küche sind ein wahrhaft zündender Einstieg, der unbedingt Lust auf mehr macht und zurecht diesen Status genießt, zumal er gegenüber dem ersten Besuch kaum verändert wurde.

Abgerundet wird dieser Einstieg auch noch mit Foccaccia und mediterraner Büffelbutter, Grissini, Lardo und geeister grüner Olive mit Anchovis. Wenn die Küche dieses Niveau halten kann, dann kann dieses Menü großartig werden!

Es fängt auch äußerst vielversprechend an, denn die Karotte besteht in Wirklichkeit aus einer kühlen, gezupften Carabinero-Füllung und wurde mit hauchdünnen, weichen Streifen von Karotte umwickelt (bei genauem Hinsehen auf dem Foto zu erkennen) und lackiert. Oliven und Feta setzen griechische Akzente, während der präsente Säurekick des Zitronensuds dem Gang federleichte Frische verleiht – ein grandioser Auftakt voller aromatischer Finessen! Wir erlauben uns übrigens, Herrn Ferrantino zu fragen, wie man eine Karotte so hinbekommt – seine Antwort fällt so kompliziert aus, dass mir diese Details entfallen sind. Die Aussage, dass dahinter etwa 35 Stunden Bearbeitungszeit steckt, hat sich mir dagegen ins Gedächtnis gebrannt!

Auch mit dem grandiosen Toro (Bauchfleisch) des Balfego-Thunfischs versteht die Küche meisterhaft umzugehen: eine erstaunlich harmonische Zusammenstellung von eher zarten Aromen macht aus dem Verzehr eine edle Angelegenheit. Die subtile Marinade des keineswegs knallig in Szene gesetzten Hauptdarstellers korrespondiert wunderbar mit Kirschgel, Parmesan (als Crème und frittiert auf dem Türmchen) und Balsamico. Diese ungewöhnliche Inszenierung erweist sich als überaus durchdacht und in sich stimmig, zumal auch hier wieder ein enormer Aufwand bei den kleinteiligen Begleitern betrieben wurde.

Das Signature Dish des Hauses ist Jakobsmuschel mit Olivenölsud und Melone. Der kurz geflämmte Hauptdarsteller und der Sud sind leicht warm und entwickeln beide eine erstaunlich fruchtige Note. Die warmen ausgebackenen Pralinen sind ebenfalls mit Muschelfleisch gefüllt und erstaunlich kross; außerdem entfalten sie einen Schmelz, der Eindruck macht. Die in dem Sud versteckten Melonenstücke sorgen für mediterrane Frische und einen starken Gesamteindruck.

Ein weiteres Highlight an diesem Abend ist die fast schon grelle Inszenierung des Atlantik-Hummers mit Sellerie, Schnittlauch und Impérial-Kaviar. Die geradezu leuchtende Champagnervinaigrette wurde mit diversen Gewürzen veredelt und betont gekonnt die großartige Konsistenz des Weichtiers. Dieser im Geschmack überaus elegante Gang spart trotzdem nicht mit wohldosiertem Umami und ist laut ihrer eigenen Aussage der Favorit der Servicechefin (deren Namen ich trotz längerer Recherche nicht ermitteln konnte, da sie offenbar noch recht neu zu sein scheint). Wie dem auch sei: ein fast perfekt austariertes Spiel von jodig-salzigen und würzigen Aromen, das noch lange am Gaumen nachhallt.

Hocharomatische, gegrillte Tomaten sowie eine dezente Basilikumsauce bilden das Fundament für zarten, schonend gegarten Loup de mer (Wolfsbarsch), während Pata-Negra-Schinken und Bottarga bewusst einen eher deftigen Kontrast setzen. Diesen Edelschinken mit Wolfsbarsch zu paaren wäre sicherlich auch nicht jedem Koch eingefallen, doch die Balance gerät besser als bei der Ankündigung gedacht. Außerdem ist man im Jahre 2020 ja auch schon froh, wenn Basilkum zur Abwechslung mal nicht in einem Dessert eingesetzt wird! Immer deutlicher kristallisiert sich jedenfalls heraus, dass die Küchenbrigade haargenau weiß, was sie zu tun hat und der Chef getrost nebenher den Entertainer für die Gäste spielen kann.

Ein hinreißendes, fast schon als Bouillion inszeniertes Spektakel ist auch Iberico Secreto, den die Küche mutig liiert mit Chipirones (marinierte Baby-Calamares), Kartoffeln, Chorizo und Kapern. Das Kalkül geht vor allem deshalb auf, weil die Kleinteiligkeit des Gerichts gleichzeitig seine größte Stärke ist. Waren einige der Gänge zuvor eher plakativ, so punktet diese filigrane Eingebung mit enormer Vielfalt bei den Konsistenzen, nicht zu deftigem Geschmack und der lauwarmen Temperatur, die die Dechiffrierung der einzelnen Komponenten gestattet und nicht einfach mit zu großer Hitze bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Das macht wirklich bis zum letzten Bissen Spaß und überzeugt auf ganzer Linie!

Zum Hauptgang überzieht die Küche saftiges Schwarzfederhuhn mit Gelée von Safranreis und kleidet das Ganze in ein Gewand aus Erbsen, gepufftem Quinoa, Herzmuschel und Paprika, wobei letzterer als kugelformige Crème unter dem krossen Chip fruchtig-scharfe Akzente setzt, die für meine Begriffe ruhig sogar noch mehr Power vertragen hätten. So oder so rundet der aufgegossene Paella-Sud die eigenwillige Interpretation dieses Klassikers aus Valencia geschickt mit alternativen Produkten und kunstvollen Texturen ab. Ob nun eher spanisch, portugiesisch, itanlienisch oder griechisch – Matteo Ferrantino scheint die gesamte mediterrane Klavaiatur sicher genug zu beherrschen, um zu wissen, was machbar ist und was nicht. Uns hat der Abend jedenfalls bisher vollkommen überzeugt.

Auch zum Pré-Dessert sollte sich dieser Eindruck nicht abschwächen, selbst wenn sich das Küchenteam mit drei kleinen Happen relativ weit aus dem Fenster lehnte: Erdbeerbaiser mit Vanillecrème (oben rechts) mag noch relativ harmlos sein, doch ein Fenchel-Macaron (oben links) erfordert schon etwas Mut, während das Limetten-Minz-Granité erst recht kühn mit Kokos und Passionsfrucht daherkommt. Ein vorzeitiges Ausruhen gestattet die Küche offenbar weder dem Gast noch sich selbst, denn für das Finale der Menüfolge sollte die Konzentration hoch bleiben …

Beim Verzehr muss man fast schon achtgeben, was hier genau essbar ist und was nicht! Der kunstvolle rote Glasteller trägt Frozen Joghurt mit Cassis-Feige und Mandel. Die texturelle Vielfalt (Mandelblätter sorgen für Biss), die belebende Säure und insbesondere die erfrischende Leichtigkeit dieser Komposition machen aus dem Verzehr nochmals trotz aller Sättigung ein unbeschwertes Vergnügen der besonderen Art – beileibe kein gewöhnliches Dessert, selbst wenn es vergleichsweise simpel gestrickt ist und mit wenigen Komponenten auskommt.

Die Petits fours halten das an diesem Abend zur Schau gestellte Niveau ebenfalls hoch und geraten weit überdurchschnittlich oder sogar exzellent: Mocca-Macaron mit Tonic und Pinienkernen, Cannelé mit Kardamom und Rum, falsche Kirsche aus Amarena, Mascarpone und Thymian, dann eine Salzkaramell-Praline und zu guter Letzt ein Brownie mit Ananas und Whisky (von hinten nach vorne). Vor allem das Cannelé und der Brownie ernten höchste Anerkennung von uns, doch auch der Rest muss sich keineswegs verstecken. Ein würdiger Abschluss, zu dem ein Brand von Sizilianischer Blutorange von der Stählemühle gut passt.

Die kometenhafte Entwicklung des Matteo Ferrantino scheint auch weiterhin mit ungebremstem Tatendrang und unbändiger Kreativität voranzuschreiten. Was wir heuer erlebten, war im Vergleich zu der Darbietung von vor knapp zwei Jahren noch um einiges konzentrierter und mit einer unverwechselbaren Handschrift versehen worden. Während des ganzen Abends gab es kein einziges auch nur annähernd schwaches Gericht, sondern launige und zeitgemäße Küche, die allenfalls hin und wieder etwas den Fuss vom Gaspedal nehmen dürfte. Mit weiter zunehmender Reife wird sich jedoch auch diese marginale Kritik vermutlich schon bald als obsolet erweisen, zumal der noch junge Chef einfach noch einige Zeit braucht, sollte er die höchsten Weihen tatsächlich erreichen – dass er sie mit seinem Team anstrebt, ist für uns unzweifelhaft!

Die gut eingespielte Servicetruppe hat zwar alle Hände voll zu tun, findet aber irgendwie zwischen Weinempfehlungen und Servicearbeit immer noch die Zeit für kurze Späßchen oder Small Talk, obwohl das Lokal auch unter der Woche bis auf den letzten Platz gefüllt ist. Der Eindruck des Hochprofessionellen lässt sich praktisch mühelos auf alle Bereiche des Lokals übertragen und rechtfertigt den Preis für diese Darbietung mit Sicherheit. Die Nebenkosten sind nicht gerade niedrig, doch der für das Menü zu entrichtende Betrag erscheint dafür vergleichsweise günstig. Außerdem genehmigt man sich hier auch in Corona-Zeiten kein Nachlassen und fährt nach wie vor das volle Programm auf – eine Energieleistung, die mir gewaltigen Respekt abnötigt.

Machen wir es kurz: ein Besuch hier ist stets eine kurzweilige Angelegenheit, auch wenn sich der Abend recht lange hinziehen kann. Matteo Ferrantino sorgt für Unterhaltung und tischt hier Gerichte auf, die man so in praktisch noch keiner Form woanders jemals bekommen hat. Das Schönste daran: im bianc hat man sein Potential mit Sicherheit noch lange nicht ausgereizt! Wenn selbst in diesen krisenhaften Zeiten der Betrieb auch unter der Woche trotz Einhaltung aller Restriktionen derart brummt, dann sollte dies eine gewisse Aussagekraft bezüglich der Akzeptanz und der Attraktivität dieses Lokals haben. Wir sind jedenfalls überzeugt und wären schon längst Stammgäste, wenn Hamburg nicht so weit weg wäre …

Mein Gesamturteil: 18 von 20 Punkten

 

bianc
Am Sandtorkai 50
20457 Hamburg
Tel.: 040/18119797
www.bianc.de

Guide Michelin 2020: **
Gault&Millau 2020: 16 Punkte
GUSTO 2020: 9 Pfannen
FEINSCHMECKER 2020: 3,5 F

Menü „Emotion“ in 8 Gängen: € 180

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Dezember 2018

Die Hansestadt Hamburg hat in jüngster Zeit wieder einige neue Restaurants hervorgebracht, die meist mit großem medialen Hype angekündigt wurden. Oft genug erweist sich die Aufregung in den meisten Fällen als unbegründet, da die inhaltliche Substanz nicht mit der hohen Erwartungshaltung mithalten konnte. Zwei Exemplare aus der jüngeren Vergangenheit scheinen jedoch herauszuragen: das Lakeside im noblen Hotel The Fontenay (das mir noch fehlt) und das vor einem Jahr eröffnete bianc in der modernen Hafencity, wo ja bereits Kevin Fehling mit seinem Drei-Sterne-Restaurant The Table vertreten ist. Allerdings ist es (noch) erheblich leichter, im bianc einen Tisch zu bekommen, so dass es höchste Zeit für den Premierenbesuch dieses neuen Etablissements ist.

Hier hat der Italiener Matteo Ferrantino, der schon in der zweifach besternten Villa Joya in Portugal als Souschef tätig war, eine neue Bleibe gefunden. Ihm ist es in erster Linie ein Anliegen, in Hamburg ein mediterran geprägtes Lokal zu etablieren, zumal Ali Güngörmüs seinem Lokal Le Canard Nouveau an der Elbchaussee endgülitg den Rücken gekehrt hat und sich nun seiner bisherigen Dépendance, dem Pageou in München, widmet. Insofern hat das bianc mediterrane Küche derzeit als Alleinstellungsmerkmal in der Hansestadt sicher und damit auch beste Chancen, rasch zu einer namhaften Adresse in Hamburg und Norddeutschland zu werden. Das geräumige Lokal liegt im Erdgeschoss eines Bürohochhauses und wartet mit einer etwas artifiziell anmutenden Inneneinrichtung auf: eine Decke mit quadratisch angeordneten Holzbrettern, ein steinerner Boden mit einem Olivenbäumchen in der Mitte des Lokals sowie eine weithin einsehbare Küche. Die Tische selbst sind kreisrund und fast blank, die Drehstühle äußerst bequem und das ganze Ambiente ist recht licht, wobei Grau- und Brauntöne dominieren. In Sichtweite befindet sich auch die ca. 500 Meter entfernte Elbphilharmonie. Vor diesem Hintergrund nimmt die Küche tatsächlich noch Bestellungen bis 22 Uhr entgegen, so dass geneigte Konzertbesucher nach dem Ende der Veranstaltung durchaus noch hier auf einen Sprung vorbeischauen können. Für das volle Menü reicht das nicht, aber das schaffen ohnehin vermutlich eher wenige der Gäste …

Das große Menü „Emotion“ wird in neun Gängen präsentiert. Diverse Zuschnitte kleineren Formats sind ebenfalls möglich für all diejenigen, die nicht so großen Hunger mitgebracht haben. Ungeachtet der genauen Wahl fährt die Küche zu einem Glas PriSecco „Weißduftig“ von Jörg Geiger ein Defilée an acht Einstiegen auf, das sich wahrlich sehen lassen kann: ein fruchtiges Granny-Smith-Gazpacho wird mit einem Schuss Meerrettich gedopt, Eidotter wird auf einem Sepia-Chip präsentiert und Pfahlmuschel auf einer Gurkenschale mit Tonic veredelt. Weiter geht es mit präzise abgeschmecktem Rindertatar und Aioli, einem vollmundigen Hummermacaron mit Ingwer und einem Oktopus galizische Art auf einem Brotchip. Die Krönung der gesamten Palette ist der superbe und recht große, hauchdünne Cracker mit aromatisierten Tupfen von Krustentieren, doch auch das herzhafte und heiße Chicken Piri-Piri schneidet kaum schlechter ab. Lediglich die Zugabe von Lakritze bei Entenleber und Mango empfinden wir als entbehrlich. Man muss es so deutlich sagen: diese Parade hatte fast schon das Format der legendären Einstiege bei Peter Maria Schnurr (Falco, Leipzig) und Simon Taxacher (Restaurant Simon Taxacher, Kirchberg in Tirol). Ob die Küche dieses Niveau wohl halten kann?

Beim ersten Gang, bestehend aus Wolfsbarsch, Austern, Blumenkohl und Kaviar trifft dies mit Sicherheit zu, denn diese Vorspeise gehört definitiv zu den besten des Jahres. Der roh marinierte und eher sparsam eingesetzte Fisch wird nicht nur von verblüffenden Texturen des Blumenkohls begleitet, sondern auch anders originell in Szene gesetzt: eine silbrige Kugel mit Austerncrème gefüllt verleiht dem Gericht ungeahnte Wucht, während Kaviar, Tupfen von Petersilie und eine Vinaigrette höchst bemerkenswerte säuerliche Spitzen setzen. Großartig umgesetzt und bis ins kleinste Detail ausgeklügelt! So darf es von uns aus gerne weitergehen …

Jakobsmuschel, Artischocke, Anchovis und Olivenöl-Sud wird in einem tiefen, blau gefärbten Glasteller gereicht, was wohl der Meeresaromatik zusätzliche Präsenz verleihen soll. Dabei hätte das dieser Gang nicht nötig, denn auch so sind die zwei puristischen Stücke der gekochten Muschel in dem fruchtigen Sud bestens aufgehoben. In einer Art Tempurateig, der mit etwas frittiertem Schnittlauch getoppt ist, verstecken sich – Überraschung! – zudem zwei Stücke Anchovis, die die mediterrane Note des Gerichts weiter unterstreichen. Puristisch und einfach verdammt gut!

Carabinero mit Tomaten-Couscous, Aioli und grüne Paprika überzeugt ebenfalls fast auf ganzer Linie. Der fest-fleischige Hauptdarsteller badet in einem etwas zu fettigen Paprikasud, bekommt aber durch durch eine knallig grüne Paprikacrème einen dankbaren Begleiter zur Seite gestellt. Das dezent zwischen dem Couscous eingesetzte Aioli ist trotz sparsamer Dosierung spürbar präsent und schafft eine stimmige Verbindung zwischen dem spanischen und marokkanischen Spannungsfeld.

Höchst konzentriert wirkt auch Thunfisch, Aubergine und weißer Balsamico. Der nur kurz gebratene, rosa Fisch entfaltet eine eigentümliche und ungewohnte Aromatik, während Bottarga (Fischrogen, besonders typisch für Sardinien) und Aubergine in dünnen, frittierten Scheiben auf kleinen Türmchen daneben drapiert werden. Besonders gelungen und auch überraschend sämig finde ich den Sud aus dem weißen Balsamico, der viskoser als gedacht gerät, ohne dabei jemals zu schwerfällig zu wirken. Wir halten fest: bis auf einen etwas zu fettigen Sud im dritten Gang gab es bislang wirklich nur positive Eindrücke!

Auf einem rechteckigen gläsernen Teller wird dann Rauchaal mit Rote-Bete-Risotto, Burrata und Kapern kombiniert: was im ersten Moment exotisch klingen mag, ist ein originell konzipiertes Gericht, das im Grunde genommen nur aus dem knalligen und süffigen Rissotto sowie drei Türmchen aus aufgerolltem Aal, mit Burrata gefüllt, besteht. Auch hier gelingt es Ferrantino, säuerliche und und leicht süßliche Aromatik kongenial unter einem Hut zu vereinen.

Sot L’y Laisse mit Steinpilzen und schwarzem Trüffel ist kein ausgewiesen mediterranes Gericht, aber dafür eines mit hohem Wohlfühlfaktor. Hier lehnt sich die Küche nicht so weit aus dem Fenster wie bei manch einer anderen Eingebung, aber die intensive Aromatik der bewährten Begleiter hält auch in der etwas ungewöhnlichen Paarung mit den Pfaffenbäckchen, was sie verspricht. Dieser Gang selbst tanzt stilistisch ein wenig aus der Reihe, aber absolut betrachtet kann man mit so einem Gang wenig falsch machen, zumal der Trüffel alles andere als zurückhaltend darüber gerieben wurde.

Bei Ibérico, Spitzkohl und Risina-Bohnen beweist die Küche dagegen abermals ein unglückliches Händchen: zum einen reichen die Begleiter nicht aus, um den dominierenden fettigen Aromen des Hauptdarstellers etwas Markanteres entgegenzusetzen, worüber auch diverse Texturen und eine aparte Präsentation nicht hinwegtäuschen können. Zum anderen empfinde ich den etwas derben Charakter des Hauptdarstellers nicht gerade als das, was mir bei einem Hauptgericht vorschwebt. Dass Fleisch in den Restaurantküchen im Norden von Deutschland naturgemäß eine weniger gewichtige Rolle als Fisch und Meerestiere spielt, mag kaum verwundern, aber dennoch sehe ich hier alles in allem noch den größten Spielraum für Verbesserungen. An anderer Stelle wäre das Gericht möglicherweise besser aufgehoben, denn für den Hauptgang hätte ich mir doch ein Gericht mit herzhafteren Aromen gewünscht.

Die leichte Enttäuschung ist aber schnell wieder verflogen, denn die vorgegebene Flughöhe ist beim Dessert – oder ist dies doch ein Käsegang? – erneut erreicht: Joghurt, Tête de Moine und Himbeere gelingt viel besser als es zunächst klingen mag. Die Himbeere tummelt sich in allerlei Konsistenzen (Eis, Crème und geliert) auf dem Teller und wird in ihrer Süße von dem Joghurt aufgefangen. Die größte Überraschung an diesem Teller ist jedoch, dass sich der zur Rosette verarbeitete Hartkäse so elegant anschmiegt und trotz seiner Massigkeit absolut gewinnbringend eingesetzt und überhaupt nicht als Fremdkörper angenommen wird. Dieser Gang hat das Zeug zum Signature Dish, denn im Restaurant-Guide des FEINSCHMECKER war auch schon ein Foto von genau diesem großen Wurf zu sehen.

Weiße Schokolade, Pistazie und Birne erweist sich dann als würdiger Abschluss eines über weite Strecken bemerkenswerten Menüs. Penetrante Süße wird allein schon durch die Wahl der Zutaten vermieden, doch Crumble, Eis, Sorbet und Schäumchen sind nur einige der harmonisch integrierten Präsentationsformen der Pistazie, die das Gericht dominiert. Doch auch die Birne (in Form von Gel und geeisten Kugeln) sowie die Schokolade in Form einer kreisrund drapierten Sauce kommen zu ihrem Recht in einem Dessert, dessen Ausgewogenheit und Harmonie überraschen. Zu so später Stunde (ca. 0.45 Uhr) ist meine Wahrnehmung von Details allerdings inzwischen abgestumpft, so dass der plakative Eindruck eines angemessenen Ausklangs hier genügen muss. Die fünf recht gehaltvollen Pralinen aus Arabica, Mascarpone, Erdnuss, Mandel und Pinienkernen nehmen wir schließlich noch zur Kenntnis, aber ihre Wirkung bleibt in überschaubarem Rahmen.

Was für eine Menüfolge! Die Küche, die vor allem von recht leidenschaftlich agierenden südländischen Mitarbeitern frequentiert wird, überzeugte uns an diesem Abend fast durchweg. Immer dann, wenn dem jeweiligen Gericht ein klarer Gedanke zugrunde lag, vermochte der Teller langen und nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen. Wenn es in seltenen Fällen einmal verkopft wirkte, war auch das kulinarische Ergebnis meist ein wenig schwächer. Dass der temperamentvolle Chef sich im Laufe des Abends öfters am Tisch blicken lässt, empfinden wir als eine Angewohnheit, die sehr natürlich wirkt – solange es nicht zu Lasten der Pflichten in der Küche geht. Beim generellen Konzept sollte die Geschäftsleitung dagegen unserer Ansicht nach nochmals an den Stellschrauben drehen: um 1 Uhr waren noch immer fünf Tische besetzt, so dass die Quintessenz nur lauten kann, dass entweder die Zahl der Gänge oder der zu bewirtenden Tische reduziert werden muss. Dass nach mehr als fünf Stunden die Fokussierung auf das Wesentliche fast zwangsläufig verloren gehen muss, ist nur logisch; folgerichtig fiel es mir mit fortschreitender Dauer auch immer schwerer, Gerichte so zu würdigen wie sie es vielleicht verdient hätten. Die an sich gelungene Menüfolge wurde so ohne Zugewinn unnötig in die Länge gezogen – was sie gar nicht nötig gehabt hätte, denn auch mit zwei Gängen weniger wäre der Eindruck ein überaus bleibender gewesen. Das Serviceteam aus durchweg jungen Mitarbeitern geht seine Aufgabe mit Elan an und trägt seinen Teil zum Gelingen des Hauses bei: Casual Fine Dining at its best eben. Doch genau dies lässt sich eben schwerlich mit fünfstündigen Menüfolgen vereinbaren!

Die Küchenleistung an sich finde ich mit den 3 F im Feinschmecker und den 16 Punkten des Gault&Millau 2019 bereits zu niedrig angesetzt; der GUSTO zeigte sich weniger zurückhaltend und vergab als Einstiegsnote bereits beachtliche 9 von 10 Pfannen. Handwerkliche Mängel waren keine auszumachen, sondern schon eher Gerichte, die nicht komplett durchdacht wirkten. Bemerkenswert glückte dagegen stets die Optik, die ungeachtet oft nur weniger Komponenten hinreißend geriet und so manche kulinarische Überraschung parat hatte. Die vergleichsweise kleinen Mängel, die mit etwas Präzision schnell zu beheben sein dürften, wurden spielend von den Qualitäten der leichten und individuellen Küche kompensiert. Wenn man noch die günstige Preispolitik des Hauses (9 Gänge für € 160 im Herzen der Hafencity!) und die generösen Extras bedenkt, dann dürfte dieses neue Lokal schon bald nicht mehr aus der kulinarischen Szene Hamburgs wegzudenken sein. Außerdem wirkte die Küche auf uns nicht so, dass sie ihr Potential schon annähernd ausgereizt hätte, sondern weiterhin munter experimentiert und Neues ausprobiert. Matteo Ferrantinos Küche hat sicherlich jede Menge Perspektive für die Zukunft, so dass es sich sicherlich lohnen soltte, die weitere Entwicklung dieses Restaurants im Auge zu behalten. Ein Michelin-Stern dürfte dem Lokal meines Erachtens im neuen Guide Michelin 2019 sicher sein – zumal höhere Weihen hier unverkennbar angestrebt werden. Schauen Sie vorbei, denn wenn die weiteren fälligen Auszeichnungen erst einmal folgen, werden die Preise wohl kaum fallen …