„Manche Gäste verstehen den Wert der heimischen Produkte nicht und missinterpretieren die Speisen. Kein Hummer – keine Kreativität. Das Gegenteil ist der Fall: Es ist viel schwieriger, mit unspektakulären Zutaten spektakulär zu kochen. Aber machen Sie sich keine Sorgen: gänzlich werden Hummer, Trüffel und Kaviar nicht verschwinden, ich sehe da durchaus eine friedliche Koexistenz mit der regionalen Küche.“ (Eckart Witzigmann)
UPDATE (Mai 2024)
Als sich Ende März die bedeutendsten Vertreter der Spitzengastronomie in der Handelskammer Hamburg zur alljährlichen Michelin-Gala einfanden, wurden sie Zeuge der Ernennung eines neuen Dreisterners, der einigermaßen überraschend kam: Edip Sigl hatte mit seinem es:senz in Grassau die Tester offenbar derart nachhaltig überzeugt, dass er sich nun im Alter von 35 Jahren mit den höchsten Weihen des Guide Michelin schmücken darf! An sich nährte diese Auszeichnung den Wunsch nach einem erneuten baldigen Besuch, doch die Umstände, die zu meiner jüngsten Stippvisite führten, waren in keinster Weise geplant …
Alles hatte damit begonnen, dass zwei Wochen zuvor einem Automarder meine Schläuche offenbar mindestens genauso gut geschmeckt hatten wie mir die Ente beim Galaabend in der Residenz Heinz Winkler mit Hans-Peter Wodarz. Als Konsequenz musste mein Fahrzeug einer Reparatur im Chiemgau unterzogen werden, die zwecks Abholung einen erneuten Besuch in der Region unumgänglich machte. Freilich hatte ich mit einer Wahrscheinlichkeit von unter 1% damit gerechnet, bei einer Anfrage fünf Tage vorher an einem Samstagabend einen Platz für eine Person zu bekommen, nachdem sich die Vorlauffrist seit der Ernennung zum Dreisterner im Durchschnitt je nach Wochentag zwischen vier und acht Wochen bewegt – doch überraschenderweise klappte es trotzdem!
Zumindest würde sich dieser Besuch schon mal darin von den anderen unterscheiden, dass ich zur Abwechslung mal nicht in der dunklen Jahreszeit einkehre und gleich den weitläufigen Garten mit Blick auf die Chiemgauer Alpen genießen kann. Ansonsten erfreut man sich wie immer an dem geräumigen und sehr stilsicher eingerichteten Lokal mit großzügigem Abstand zu den Nachbartischen, was fraglos einen ganz eigenen Charme versprüht. Erfreulicherweise hatte auch die neue Auszeichnung keine besonders signifikante Erhöhung der Menüpreise zur Folge, so dass man hier nach wie vor ein relativ moderat bepreistes Essvergnügen auf Drei-Sterne-Niveau erleben darf. Dieses wird weiter durch die Tatsache aufgewertet, dass hier nach wie vor zwei Menüs zur Auswahl stehen, die es möglichst vielen Gästen recht machen sollen: während das eine namens Chiemgau pur die heimischen Produkte ins beste Licht rückt, liegt der Fokus bei der Alternative namens Chiemgau goes around the world bei den besten Viktualien, die von weiter her angereist sind. Kleine Missverständnisse sind da trotzdem nicht ausgeschlossen, denn wenn hier etwa ein Saibling aus Übersee auf der Karte steht und trotzdem Teil des Menüs Chiemgau pur ist, so liegt dies – wie Einheimische natürlich wissen – einfach daran, dass der fünf Kilometer entfernte Nachbarort „Übersee“ heißt …
Fraglos ist das es:senz in allen Schlüsselpositionen bestens aufgestellt und in jeder Hinsicht darauf ausgerichtet gewesen, nach den drei Sternen zu streben – und dennoch gehörte es nicht zu meinem engsten Favoritenkreis, weshalb ich besonders gespannt war, ob die Entwicklung binnen eines halben Jahres schon wieder solch dramatische Ausmaße angenommen hatte, dass meine leichten Zweifel beseitigt werden konnten. Besonders fortschrittlich gibt man sich offensichtlich bei der alkoholfreien Begleitung, denn obwohl ich keine Einwände gegen den Obstschaumwein vom letzten Besuch gehabt hätte, gießt man mir diesmal etwas ganz anderes ins Glas, nämlich einen pasteurisierten Kombucha mit Melone und Szechuan-Pfeffer. Es klingt exotisch, schmeckt aber wesentlich besser als erwartet, selbst wenn Kombucha nicht zu meinen bevorzugten Getränken gehört.
Dazu tischt der Service die ersten vier Apéros auf, die in diesem Fall ausschließlich auf Bewährtes setzen – zumindest gemessen daran, dass sie noch identisch mit den Beiträgen von vor sechs Monaten sind. Die Blicke auf sich zieht allen voran die ikonische „Wolke“ aus Zuckerwatte mit Essiggelée, Wurzelspeck und Brotkrumen auf einem Grissino, die so individuell gerät wie kaum ein anderes Häppchen auf diesem Niveau. Bei „Mon Chérie“ verarbeitet die Küche Entenleber zu einer Mousse, ummantelt von Kirschgelée und auf einem Sauerteigchip mit Périgord-Trüffel platziert – ein nicht zu süßer, sondern eher herber und vorzüglich abgeschmeckter Beitrag. Recht kühn dagegen einmal mehr der Macaron von weißer Zwiebel mit grünem Apfel, auf dem Kalbstatar und N25-Kaviar thronen, während die Tartelette mit Räucheraal, Zwiebel und Meerrettich einmal mehr das besondere Talent des Chefs unterstreicht, dicht gedrängte Petitessen mit großer Transparenz und enormer Spannung kreieren zu können.
Die Brotauswahl sieht ebenfalls noch ähnlich aus, unterscheidet sich aber doch in einem Punkt: Brot und Brioche kommen mit geschlagener Alpensalzbutter an den Tisch, die einmal mehr mit Kürbisstaub und Senfvinaigrette animierend verfeinert wurde. Dazu reicht der Service Kornelkirschen und den ikonischen Chiemgauer Kräutergarten mit Wurzelgemüse, Kapuzinerkresse, Bärlauch und Olivenstaub. Der angesprochene Unterschied besteht in der eingelegten Tomate, die den Paprika vom letzten Mal ersetzt, mit Meerfenchel, hausgemachtem Frischkäse und Chardonnay-Essig. Keine Frage – diese Brotauswahl hat weit mehr als Routine zu bieten und kann sich in jeder Hinsicht sehen lassen!
Stammgäste wissen jedoch nur zu gut, dass dennoch nicht weniger als zwei weitere Amuses folgen, bevor es richtig losgeht: das Tatar von der heimischen Renke bekommt als stilsichere Begleiter marinierten Fenchelsalat und ein Crumble von gerösteten Hanfsamen zur Seite gestellt, doch vollendet wird die Kreation erst mit der vom Chef persönlich am Platz aufgegossenen Dillvinaigrette. Das ist fraglos wunderbar ersonnen und säurebetont umgesetzt, doch den Clou schlechthin erfährt diese Eingebung durch das gut versteckte Pernodgelée, dessen präsente und kontrastierende Anisnote enorme Reizpunkte setzt und sämtliche Sinne schärft. Hier zegt die Küche, wie man eine im Grunde simple Idee enorm aufwertet und durch sicheres Handwerk weitaus komplexer als gedacht umsetzt. Ganz vorzüglich!
Im Mittelpunkt des warmen Amuse steht ein Erbsen-Panna-Cotta mit N25-Kaviar und gegrillten Erbsen, grünen Mandeln, einem Chip aus frittierter Hühnerhaut und einer Beurre blanc. Isoliert betrachtet lässt die Zubereitung der Einzelkomponenten auf großartige Arbeit schließen, aber in Summe fehlt mir hier ein roter Faden oder ein verbindendes Element, das all diese recht disparitätischen Komponenten schlüssig zusammenführt. Salinität, Deftigkeit und Vegetabiles wetteifern mir hier ein wenig untereinander um die Vorherrschaft und gehen für mich letztlich kein besonders sinniges Arrangement ein. Wie schon vor einem halben Jahr beweist die Küche gerade beim warmen Amuse durchaus Mut und verlässt ausgetretene Pfade, doch für meine Begriffe scheint das Kalkül noch nicht immer aufzugehen.
Stärkere Ergebnisse erzielt die Küche für meine Begriffe immer dann, wenn sie in einer klaren Struktur die Essenz eines Produkts – daher auch der Name des Lokals – herauszumeißeln versucht (und es in der Mehrzahl der Fälle auch souverän schafft). Da das eine oder andere Gericht noch gewisse Ähnlichkeiten mit den Darbietungen von Dezember aufweist, entscheidet sich Edip Sigl dafür, mir einen sechsgängigen Querschnitt aus beiden Menüs anzubieten, dem ich selbstredend nicht widerspreche. Die Preisgestaltung bleibt dabei unangetastet, so dass für sechs Gänge € 220 und für acht Gänge € 330 fällig werden, auch wenn man zwischen beiden Menüs hin und her springt – ein Ansatz, den im Hinblick auf das Eingangszitat sicherlich auch Eckart Witzigmann absegnen würde.
Der Auftakt stammt jedenfalls aus dem „mondänen“ Menü und rückt Balfego-Thunfisch ins beste Licht. Die kontrastierenden Eigenschaften von Akami (Rücken) und Toro (Bauch) treten dabei besonders deutlich zutage, denn der signifikant festfleischigere Rücken ist deutlich von dem fettigeren Bauch mit einem hohen Maß an Marmorierung zu unterscheiden. Beide wurden vermutlich gebeizt und sind auf einem Auberginentatar von enormer Tiefe drapiert. Ganz und gar im Sinne einer puristisch-japanischen Begleitung bettet man das Ganze auf einer straffen Ponzuvinaigrette mit vorzüglich abgeschmeckten Tropfen von Lauchöl. Die generöse Nocke von N25-Kaviar krönt ein wunderbar bekömmliches, auffallend transparentes und ultrafrisches Gericht auf die denkbar würdigste Weise. Fraglos ein kleines Meisterwerk!
Nun gilt es, meine Begeisterung zu zügeln, denn es ist „Gefahr“ im Verzug: wann immer Kalbsbries auf der Karte steht, darf man hier von einem Erlebnis ausgehen, das fast schon dem Münchner Kollegen Jan Hartwig als ultimativem Großmeister auf diesem Gebiet Konkurrenz macht! Der ikonische Klassiker vom Winter ist der Jahreszeit entsprechend diesmal etwas leichter und frühlingshafter umgesetzt, schlägt aber wieder voll ein: die mit Teriyaki lackierte Innerei wird scharf angebraten, so dass sie innen von wunderbar cremiger Konsistenz bleibt und außen mit einer selten knusprigen Hülle überzeugt – man möchte eine Ode allein auf dieses Produkt anstimmen! Der geschäumten Pfeffersauce schwört Edip Sigl auch weiterhin zurecht die Treue, denn sie liefert animierende, markige Würze ohne zu übertreiben. Ein Crumble von Speckwürfeln und Sonnenblumenkernen geht eine wunderbare Liaison mit den optisch dominanten Kopfsalatherzen ein und bewahrt so einen leichten Charakter, der mit Texturen spielt und ganz nebenbei den Lenz willkommen heißt. Diese Variante steht dem Signature Dish in überhaupt nichts nach – einfach exzellent!
Langostino kommt in zweierlei Varianten auf den Teller: das Scherenfleisch wird à la Winkler’sche Schule innen leicht glasig interpretiert und mit einer Hollandaise von Erbse als Dip gereicht, während der Hauptteller dasselbe Produkt in einem Arrangement von grünem und weißem Spargel, geschmolzenem Lardo und Krabbenchips ein wenig versteckt. Eine in puncto Intensität wohldosierte Krustentierbisque verleiht dem farbenfrohen und schlicht gestalteten Gang ein passendes aromatisches Gewand, das allenfalls ein wenig mit der Erbse fremdelt, die ja nun schon zum zweiten Mal in der Menüfolge bemüht wurde. Jedenfalls legt dieser Gang beredtes Zeugnis davon ab, wie man mit gänzlich unscheinbarem Know-how ein ohnehin schon superbes Ausgangsprodukt wie das Scherenfleisch noch weiter veredelt.
Fast schon Klassikerstatus genießt auch der nächste Gang, den ich noch in bester Erinnerung habe und der mir daher gerne auch ein weiteres Mal vorgesetzt werden darf. Die für die Verhältnisse dieser Küche ungewohnt bunte Inszenierung lenkt zum Glück nicht davon ab, dass der über Holzkohle auf der Haut gegrillte Saibling von der Thalheimer Mühle (beim letzten Mal kam allerdings Huchen zum Einsatz) dank einer krossen Haut, aber ungleichmäßiger Farbe innen seine Qualitäten voll ausspielen darf und locker einem wesentlich teureren Fisch buchstäblich das Wasser reichen kann. Dennoch scheinen ein paar Modifikationen stattgefunden zu haben, denn trotz gleicher Optik gibt die Menükarte als weitere Begleiter diesmal Erbsen, Pfifferlinge, Schalotten und Kernöl an, womit die angegebenen Produkte nur in Teilen gleich sind wie bei der Premiere. Der Saiblingskaviar ist weiterhin eingebunden, während der Fokus der Menükarte diesmal mehr auf dem Topping der beiden Brotchips lag. Sei’s drum – ein paar Rätsel bleiben so oder so. Auf die kongeniale Sauce selbst geht der Service leider nicht näher ein – offenbar Küchengeheimnis, oder?!
Die launige Erfrischung mit der Sechuan-Blüte und dem Champagner-Yuzu-Granité verfehlte ihre Wirkung – vor allem bei Premierengästen – auch weiterhin nicht: siehe den vorherigen Bericht für Details, insbesondere zu der außergewöhnlichen Blüte und ihrer Wirkung.
Zum Hauptgang gestatte ich mir etwas völlig Außergewöhnliches: es bietet sich mir die Gelegenheit, auch als völliger Anfänger auf dem Gebiet des Weins etwas zu erleben, was selbst viele Connoisseure wohl noch nicht von sich behaupten können. Bei der Durchsicht der Weinkarte stoße ich auf einen Rotwein aus Armenien: den Areni Noir Karasi aus dem Jahre 2016 vom Weinberg Zorah, der auf 1400 Metern Meereshöhe liegt! Eigentlich ist diese Flasche nicht für den offenen Ausschank gedacht, aber nach einem kurzen Gespräch mit Maître Simon Adam ist das Problem geritzt. Nach entsprechender Rücksprache mit Sommelier Iiro Lutter fühlt sich dieser offenbar eher geschmeichelt und schenkt mir (zum erschwinglichen Preis) ein Glas zum Hauptgericht ein, das sich zudem noch als überaus passend erweisen sollte. Möglich macht es die Vinothek Steines in Oberding (zwischen dem Münchner Flughafen und Erding gelegen), die auf solche Raritäten spezialisiert zu sein scheint.
Achental Wagyu stammt von Rindern auf den Weiden direkt in unmittelbarer Umgebung zum Resort, deren Fleisch im Vergleich zu den japanischen „Kollegen“ weniger Marmorierung aufweist und insgesamt von einer herberen Aromatik gekennzeichnet ist. Durchaus nicht zurückhaltend gegart, paart die Küche das Hauptprodukt mit geräucherter Spitzpaprika, etwas Kraut und einer nicht zu kraftvollen Jus, die zudem durch den Einsatz von etwas Schmand in ihrer Wirkung abgeschwächt wird. Pommes soufflés und Zwiebeln in Texturen sind passende Begleiter eines Hauptgerichts, dessen Charakteristik nicht so weit von einem Szegediner Gulasch entfernt ist – jedenfalls teilt der Service mein Empfinden nach diesem Gang durchaus!
Selten genug erlebt man heutzutage auskomponierte Käsegänge, aber hier gewährt man ihnen immer noch ein Habitat: den klassischen Blauschimmelkäse Fourme d’Ambert verteilt die Küche auf einem Sud von Rhabarber mit Senffrüchten. Garniert ist das Türmchen mit Amarettini und aufgeschnittenen Mandeln. Dem weitgehend harmonisch gestalteten Einfall verleihen die Senffrüchte ein paar kleine Kanten, aber in Summe ist dies ein relativ harmloser Beitrag mit durchaus prägnanten Nussnoten, der aber etwas vorhersehbarer gerät als vieles andere und noch nicht ganz die Klasse von so manch anderer Eingebung aufweist.
Unter den beiden zur Auswahl stehenden Desserts fällt meine Wahl auf das erste von beiden und damit dasjenige, das eher als eine Art Pré-Dessert konzipiert ist. Der intendierten Wirkung tut es indes keinen Abbruch, denn das fragil an den Tellerrand angelehnte Türmchen hält nur dadurch, dass der zuvor tiefgekühlte Teller in eiskaltem Zustand angerichtet wird und die Komponenten dadurch eine gewisse Zeit haften bleiben. Auf einem mit Haselnussöl angereichterten Sud von roter Bete balanciert ein Sorbet von Joghurt und Vanille, das mit allerlei kühnen Texturen von der Rübe, Haselnuss und Korianderkresse umspielt wird. Zweierlei imponiert mir sehr an diesem kompakten Einfall so ziemlich abseits aller Routine: zum einen die variable Bandbreite bei den Temperaturen und zum anderen die Betonung der desserttauglichen Qualitäten der Bete. Die vielseitig verwendbare Rübe ist ein Darling vieler Chefs, aber dass sie nun auch in der Pátisserie ihre Anhänger findet, zeigt, welches Potential in ihr steckt! Nicht unerwähnt bleiben soll, dass dieser Ausklang kaum Süße aufweist und für ein Dessert recht gesund gerät. Hinreißend!
Auch für die Petits fours zeichnet Pâtissière Désirée Nieder verantwortlich, die beim Auftragen zusammen mit dem Chef an meinen Tisch kommt – was laut Edip Sigl nicht oft der Fall ist und als besondere Ehre zu verstehen ist! Dabei müsste sich die junge Könnerin keineswegs so oft in der Küche verstecken, denn gemessen am Level dieser Petitessen wird schnell klar, dass ein gelungenes Menü hier überaus würdig und weit überdurchschnittlich abgerundet wird. Neben nicht nur hausgemachten, sondern auch handbemalten (!) Pralinen (eine davon mit Crème brûlée gefüllt), überzeugen auch die Nusseichel, die Birne Helene mit Eierlikör, die Erdbeertarte mit Chantilly und Zitrone, der Basil Smash on the Rocks sowie als Höhepunkt das Toffifee aus Holunderbeerenkompott auf Nougatgelée mit Salzkaramell gleichermaßen.
Verlässlische Konstanten gibt es in diesem neuen Dreisterner bereits erfreulich viele: da wäre zum einen der versierte Service unter der Leitung des erfahrenen Maîtres Simon Adam, der jederzeit flexibel auf Anfragen reagiert und sich gegebenenfalls – wie an diesem Abend – sogar als erfolgreicher Fänger einer verirrten Hornisse verdingt. Die Kommunikation zwischen den aufmerksamen und hochkompetenten Servicekräften funktioniert bestens, und auch Sommelier Iiro Lutter, der über einen beneidenswert großen Fundus an großen Bouteillen verfügt, beweist ein gutes Gespür für die Wünsche seiner Gäste, welche er sachlich-kompetent und mit großem Fachwissen berät. Die Besetzung aller Schlüsselpositionen (Chef, Pâtissière, Service, Sommelier) mit herausragendem Personal war fraglos ein essentieller Baustein auf dem Weg zu drei Sternen.
Eckpfeiler des Sigl’schen Küchenkosmos stellen auf jeden Fall die größtenteils überragenden Saucen dar, deren Fundament die Handschrift des legendären und zu früh verstorbenen Heinz Winkler ganz klar erkennen lässt. Besonders souverän gelingen dem stets fokussiert und doch bescheiden wirkenden Edip Sigl und seinem Team außerdem die Teller, die mit vergleichsweise wenigen Komponenten auskommen und in einer überaus klaren Struktur eine kulinarische Botschaft vermitteln, die im Einklang mit dem Credo des Chefs steht: die Essenz der Dinge zu erfassen. Klassische Prinzipien und Zubereitungen der Kochkunst gehen dabei Hand in Hand mit zeitgemäßen Inszenierungen, deren Optik recht variabel erscheint – von fast nüchtern bis auffallend farbenfroh ist alles vertreten. Hin und wieder erliegt die Küche für meine Begriffe noch der Versuchung, zu viele nicht wirklich bereichernde Komponenten zu verwenden und damit die Qualität der durchweg exzellenten Produkte teils noch zu verwässern. Mir scheint, Edip Sigl entwickelt derzeit eine Vorliebe für ein relativ schlankes Repertoire an Produkten, die er immer wieder neu interpretiert; dies muss beileibe kein Nachteil sein, wie beispielsweise das Kalbsbries deutlich belegt. Ein Abend hier gerät fast immer enorm abwechslungsreich, wenngleich so etwas wie ein Nenner, der allen Gerichten gemeinsam ist, noch nicht so stark ausgeprägt zu sein scheint und vielleicht noch eine Aufgabe für die Zukunft darstellt. Die Küche selbst sah ich schon beim letzten Ma(h)l auf einem hervorragenden Weg, wenngleich ich angesichts obiger Ausführungen dabei bleibe, dass die Auszeichnung mit drei Sternen für mich dennoch überraschend früh gekommen ist. Anderen Lokalen hätte ich größere Chancen eingeräumt, zumal die Entwicklung dort schon über mehr als nur zwei bis drei Jahre läuft.
Aber nun gut: der rote Gourmetführer hat gesprochen, und dem Team sei die Auszeichnung von Herzen gegönnt! Dass der Chiemgau fünfzehn Jahre nach dem Verglühen des dritten Sterns für die nur fünfzehn Kilometer entfernte, legendäre Residenz Heinz Winkler in Aschau wieder zu den führenden Gourmetregionen der Republik zählt, haben wir nicht nur dem strahlenden Talent eines außerordentlich begabten Chefs, sondern auch den Besitzern des Resorts, Dieter Müller und seiner Frau Ursula Schelle-Müller, zu verdanken, die mit ihrem Engangement eine solche Auszeichnung erst ermöglichen. Randnotiz: der Besitzer des Resorts ist selbstredend nicht identisch mit dem ehemaligen Chef des dreifach besternten Schloss Lerbach, aber mit einem solchen Namen kann doch nur eine große Affinität zur Hochküche gegeben sein, oder?!
Nicht zuletzt dank eines immer noch sehr kulanten Preis-Leistungs-Verhältnisses lohnt sich ein Besuch hier mit Sicherheit. Nur etwas Geduld sollte man angesichts gewöhnlich wochenlanger Vorlaufzeit bei der Reservierung einplanen – so viel Glück wie der Schreiberling dieser Zeilen hat man hier nicht so oft!
Mein Gesamturteil: 19 von 20 Punkten
es:senz
Mietenkamer Straße 65
83224 Grassau
Tel.: 08641/4010
www.das-achental.com
Guide Michelin 2024: ***
Gault&Millau 2023: 3+ Toques
GUSTO 2024: 9 Pfannen
FEINSCHMECKER 2024: 4,5 F
6-gängiges Menü „Chiemgau Pur“: € 220
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„Quintessenz des Glücklichseins: nicht von, sondern für etwas leben. Das heißt: die Quelle des Glücks liegt einzig in mir.“ (Nina Ruge)
UPDATE (Dezember 2023)
Mancherorts hätte das Chaos an diesem Wochenende im Südosten der Bundesrepublik kaum größer sein können: die bayrische Landeshauptstadt ächzt unter den Schneemassen und muss daher den gesamten ÖPNV im Großraum München aus Sicherheitsgründen einstellen. Auch der Chiemgau bekommt eine heftige Portion der weißen Pracht ab und versinkt unter einer Schneedecke, die selbst in tiefen Lagen bis zu einem halben Meter dick liegt. Lange habe ich im Vorfeld daher mit mir gerungen, ob ich diese Reise überhaupt antreten sollte oder nicht, zumal bis kurz zuvor nicht absehbar war, wie schlimm es denn nun konkret werden würde. Letztlich sollte alles viel reibungsloser als erwartet ablaufen, auch wenn die Freilegung meines eingeschneiten Wagens am nächsten Morgen einige Zeit in Anspruch nehmen sollte. Doch was nimmt man nicht alles für ein Wochenende mit zwei kulinarischen Highlights in Kauf?!
Station eins meines Kurztrips ist das zweifach besternte Restaurant es:senz in Grassau, das ich zwar erst im Jahr zuvor besucht habe, das aber angeblich dermaßen rasche Fortschritte für sich verbuchen konnte, dass mir selbst dieser vergleichsweise kurze Zeitraum schon grenzwertig lang erschien für frische, neue Eindrücke – steht hier doch mit Edip Sigl ein überaus ambitionierter Mittdreißiger am Herd, der bereits im Münchner Les Deux reüssierte und auch an neuer Wirkungsstätte rasch wieder das zuvor erreichte Zwei-Sterne-Niveau erlangte. Nach knapp drei Jahren im Chiemgau scheint der persönliche Stil abermals deutlich gereift und bietet in kulinarischer Hinsicht solch inspirierte Erlebnisse, dass ich kurzentschlossen handelte und meinen Wunsch, schon bald wieder einkehren zu wollen, in die Tat umsetzte.
Wie gehabt kann sich der Gast hier wahlweise zwischen zwei Menüs entscheiden, deren prinzipieller Unterschied in den verwendeten Produkten besteht. Während das sechsgängige Menü Chiemgau Pur (€ 195) im Allgemeinen auf regionale Produkte allererster Güte zurückgreift, kommen bei der achtgängigen Alternative Chiemgau goes around the world (€ 295) die besten Viktualien aus aller Welt zum Einsatz. Ganz gleich, für welches Menü man sich entscheidet oder auch einen Querschnitt aus beiden wählt: die keineswegs zurückhaltende Würze mancher Gerichte bei gleichzeitig großer Kompaktheit und Reduktion auf des Wesentliche ist ein essentieller Baustein im kraftvollen, aber nie überdrehten Stil des Küchenchefs. Solide französische Techniken treffen hier auch mal auf gewagtere Zubereitungen, aber ein großer Gespür für Harmonie ist bei aller Wucht trotzdem stets zu erkennen. Das hat dem ehrgeizigen Chef bislang beispielsweise auch drei rote Hauben im G&M und die zweithöchste Note im FEINSCHMECKER eingebracht. Dennoch ist an ein Nachlassen nicht zu denken, soll doch dieses mondäne Resort eines Tages gleichberechtigt hell für die Region erstrahlen wie einst die legendäre und nur wenige Kilometer entfernte Residenz Heinz Winkler, in der sich Edip Sigl vor vielen Jahren seine Sporen als Chef de Partie verdiente. Die weiteren Stationen können sich aber auch sehen lassen, denn unter ihnen befinden sich das Gut Lärchenhof in Pulheim und das schon damals dreifach besternte Amador, das sich seinerzeit noch in Langen befand, aber nach einer weiteren Etappe über Mannheim inzwischen in Wien angesiedelt ist. In seiner Veranstaltungsreihe mit den illustren Four-Hands-Dinnern erwies Edip Sigl im Jahre 2022 seinem ehemaligen Ausbilder Juan Amador übrigens die Ehre, ihn als allerersten Gastkoch für diese Veranstaltungsreihe einzuladen. Sein anderer bedeutender Mentor, Heinz Winkler, ist ja zwischenzeitlich leider verstorben, kehrte aber selbstverständlich vor seinem allzu frühen Ableben ebenfalls bei seinem ehemaligen Mitarbeiter ein.
Angesichts all dieser schon nach kurzer Zeit errungenen beachtlichen Erfolge konnte mir im Hinblick auf das bevorstehende Festmahl selbst das widrige Wetter die Laune nicht verhageln, zumal ich mich spätestens beim überaus herzlichen Empfang durch die Servicetruppe schon wieder wie in einem zweiten Wohnzimmer fühle. Das überwiegend in braunen Holztönen gehaltene Ambiente versprüht weihnachtliches Flair, zumal das sanft lodernde Feuer in dem kegelförmig bis zur Decke reichenden Kamin etwas ungemein Beruhigendes hat. Servicechef Simon Adam freut sich offenbar ganz besonders auf das Wiedersehen und plauscht gleich zu Beginn des Abends recht ausgiebig mit mir, offeriert aber nebenbei schon mal einen ersten Apéritif, der mir nicht bekannt vorkommt: der Obstschaumwein „von Wiesen“ aus dem Hause Griesel in Bensheim an der Hessischen Bergstraße entpuppt sich als unerwartet herber, aber andererseits sehr animierender alkoholfreier Secco von straffer Säure, der mir nach kurzer Eingewöhnungszeit ausgesprochen gut zusagt. Die Apéros werden gar vom Meister der Küche höchstselbst erläutert und präsentiert: da wäre zunächst der Klassiker des Hauses, die „Wolke“ aus Zuckerwatte, Essig und Wurzelspeck auf einem dünnen Grissino, welche den grellen Kontrast aus deftigen und süßen Aromen mutig thematisiert und in Szene setzt. Neu sind dagegen die weiteren Beiträge, nämlich der Apfel-Macaron mit Flussbarsch und N25-Kaviar als Topping sowie der Räucheraal mit Zwiebeln, Rettich und Meerrettich. Abgerundet wird die Parade mit einem klassischer gehaltenen Häppchen namens „Mon Cherie“ (ist diese Schreibweise einem etwaigen Namensrecht geschuldet?!) mit Entenleber, Herbsttrüffel und Kirsche. Beim Macaron imponiert mir die mit der mineralischen Frische des Fischs gepaarte Fruchtigkeit, während die ausgeprägte Salinität beim Aal ebenfalls ihre Vorzüge hat. Der erdig-herbe Charakter der Praline rundet diesen vorzüglichen Reigen variabel ab und verdeutlicht, dass hier jemand offensichtlich Ernst macht!
Auch bei der Brotauswahl macht das Küchenteam Nägel mit Köpfen: zu Kartoffelbrot und Brioche reicht man einen aparten Reigen aus eingelegten Kornelkirschen (die eher nach Oliven schmecken!), eine faszinierend abgeschmeckte Butter mit Senfvinaigrette (kann auch aus dem kleinen schwarzen Kännchen nachgeschenkt werden) und Kürbisstaub sowie zu guter Letzt einen filigranen Kräutergarten mit gepickeltem Rettich, Eiszapfen, Radieschen, Kräutern und einem Kürbisfrischkäse mit Olivenstaub. Doch trotz des immensen Aufwands hat die Küche immer noch nicht genug und setzt noch einen oben drauf: Paprika auf Meerfenchel und hausgemachtem Frischkäse in Chardonnay-Essig muss einem auch erst mal einfallen! Welch große Leidenschaft steckt in diesem oft sonst so stiefmütterlich behandelten Teil der Menüfolge – umwerfend!
An dieser Stelle folgt ein erstes Amuse: Tatar von roh marinierter Lachsforelle mit einer gelierten Gazpacho von gelber Bete versteckt sich unter einem Espuma von Senfgurke. Die vermeintlichen Speckwürfel obenauf sind in Wahrheit aus einem Umami-Sud (vom Hersteller des N25-Kaviar) gemacht und beweisen, dass Täuschung durchaus ein Teil des Kalküls in diesem Hause ist. Jedenfalls punktet dieser scheinbare bizarre Einfall mit großer Transparenz zwischen allen Komponenten, angenehmen Texturen und einer feinsinnigen Balance. Dass dies ein selten origineller Beitrag von großer Spannung ist, braucht fast schon nicht mehr betont zu werden!
Das warme Amuse ist ain augenzwinkernder Spaß, der allerdings mit etwas weniger Substanz Vorlieb nehmen muss: das in Gestalt eines Hahns geformte Hühnerfett wird mit einer körperbetonten und winterlich gewürzten Hühneressenz aufgegossen, während rechts Hühnerhaut vom Brathendl eine erstaunliche Liaison mit schwarzem Wintertrüffel eingeht – manche Gäste mögen sich entweder am verspielten Charakter oder an der vermeintlichen Unvereinbarkeit von solch profanen Elementen wie Hühnerhaut mit Luxusprodukten wie Trüffeln stören, doch zeigt die Küche damit die prinzipielle Bereitschaft, auch mal die ausgetretenen Pfade zu meiden, selbst wenn dies schwerlich der Höhepunkt des Abends werden sollte.
Schon der Auftakt ins Menü sollte die Messlatte gleich in beeindruckende Höhen hängen: roh marinierten Zander von der Fischerei Lex am Chiemsee kombiniert Edip Sigl eher ungewöhnlich mit Holunderknospen und bettet ihn dann auf gelierter Zitronenverbene. Seinen Reiz bezieht dieses Entrée zum einen aus der wunderbar schlüssigen Begleitung mit Perlen von Fingerlimette (die eher einer Gurke ähnlich sieht) und Bucheckernöl zur geschmacklichen Abrundung, zum anderen aber natürlich von der unglaublich generösen Nocke an N25-Kaviar, der am Platz vom Service zugegeben wird und nicht mal in der Karte annonciert ist! Dieses „Detail“ setzt dem grandiosen Dialog von Säure und Salinität zwar erst die Krone auf, doch auch so beeindrucken die Bekömmlichkeit, die schnörkellose Reduktion und der körperbetonte Charakter des Gerichts über die Maßen. Mit diesem kreativen und handwerklich tadellosen Gang hinterlässt der Chef eine beeindruckende Visitenkarte für alle etwaigen Neulinge, doch auch Connoisseure kommen angesichts der geistigen Durchdringung dieses Tellers voll auf ihre Kosten. Superb!
Wenn es nach mir ginge, sollte der nächste Gang, der mir noch vom Vorjahr bekannt ist, hier zum Pflichtprogramm eines Besuches gehören: nach geradezu asketischen Monaten ohne Kalbsbries war dieser Gang bereits bei der Premiere so wohltuend anders und unerwartet als die meist vorhersehbaren und eher zögerlichen Alternativen in anderen Lokalen, doch schien mir zwecks eines noch besseren Ergebnisses abermals an den Stellschrauben nachjustiert worden zu sein. Wie schon im Jahr zuvor wird die kurz über Binchotan gegrillte Innerei ausgesprochen kraftvoll mit geflämmtem Rotkohl, eingelegter Felsenbirne und Pfefferschaum akzentuiert. An der Konzeption dieses so kosmopolitisch wirkenden und doch ganz regional auftretenden Meisterwerks wurde definitiv nichts verändert, doch die minutiöse Optimierung sorgte heuer für ein noch schlüssigeres, vor Umami strotzendes Ergebnis. Sollte das Gericht auf der Karte stehen, dann bloß nicht versäumen und notfalls separat bestellen – es lohnt sich! Zum Dahinschmelzen!
Farbenfroher als bisher geht es beim nächsten Gang zu, doch seinen Prinzipien bleibt sich der Chef treu: der auch Donaulachs genannte Huchen stammt von der nahen Kinsauer Mühle und wird sowohl auf der Haut gegrillt als auch kraftvoll gegart. Der klare, frische Geschmack des Hauptdarstellers brilliert und wird von der vermeintlich lebhaften Entourage aus Saubohnen, Kürbis, Kernöl, Saiblingskaviar und Dill keineswegs zugedeckt. Im Gegenteil: die recht dezente Begleitung lenkt den Fokus auf die grandiose Sauce von monumentaler Kraft und enormer Tiefe – leider wird sie vom Service nicht näher erläutert, doch lassen die generell abermals optimierten Saucen in diesem Hause ganz auf die Schule von Heinz Winkler schließen. Mit der farbenfrohen Inszenierung beweist Edip Sigl auch ästhetisches Gespür, doch viel wichtiger scheint ihm noch ein anderes Anliegen: wo, wenn nicht mit dem Chiemsee vor der Haustür, macht die Hinwendung zu Süßwasserfischen als Alternative zu meist überfischten Salzwasserfischen mehr Sinn als hier? Mit diesem Gang gelingt dem Chef jedenfalls ein ganz vorzügliches Plädoyer für dieses Ansinnen.
Enormen Einfallsreichtum beweist die Küche auch, wenn es darum geht, dem Einerlei bei Erfrischungen vor dem Hauptgang einen Riegel vorzuschieben: zunächst soll der Gast die vor ihm liegende, kleine Sechuanblüte essen, die von einer südamerikanischen Kresseart stammt. Ihr Verzehr hat überhaupt nichts Gefälliges an sich, sondern bitzelt zunächst ein wenig im Mund und betäubt dann mit ihrem pelzig-würzigen Geschmack die Geschmackspapillen. Sodann genieße man das eiskalte, mit Laurent-Perrier aufgegossene Yuzugranité – erfrischend und herb zugleich. Dieser praktisch gänzlich ohne Süße auskommende Einfall ist ein echter Grenzgang von unvergesslicher Wirkung – wie auch immer man zu dieser Darbietung steht.
Deutlich gediegener wird es dann wieder zum Hauptgericht: der tiefrot und gleichmäßig gebratene Chiemgauer Rehrücken profitiert von einer aromatisch präsenten Walnusskruste und wird in seinem erdig-mineralischen Charakter durch weitere wuchtige und gehaltvolle Begleiter verstärkt. Geschmorte rote Bete und Radicchio tragen animierene Bitterstoffe bei, während die unwahrscheinlich dichte Portweinsauce dem Gang eine aristokratische Noblesse verpasst. Ob der Staub von Liebstöckel noch etwas beiträgt, sei dahingestellt, aber so oder so gelingt dem Küchenteam ein Plat principal von großem Ernst ohne jedwedes Chichi. Auch dieser starke Teller zeugt von der weiter gewachsenen Reife des Meisters, der inzwischen ausgesprochen variabel bei der Intensität der einzelnen Gänge zu Werke geht und trotz einer Präferenz für mutige Aromen durchaus akribisch abwägt, welche Dramaturgie an dieser oder jener Stelle im Menü angemessen erscheint. Sein Gespür hat ihn abermals nicht im Stich gelassen!
Da es in diesem Jahr ausgesprochen wenige auskomponierte Käsegänge gab, bitte ich darum, das erste Dessert der Menüfolge durch Sainte Maure de Touraine ersetzen zu lassen. Der milde Ziegenweichkäse thront auf einer halbflüssigen Weißweinbutter und wird hauptsächlich mit Texturen von Birne und einigen Wildkräutern umspielt. Im Vergleich zur bisherigen Artistik gerät dieser Teller zwar eher risikolos, aber dank einer feinen Balance wird der zurückhaltende Käse auf geschmacklich sichere und angemessene Weise begleitet. Einen Adrenalinrausch setzt dieser Gang nicht gerade frei, aber angesichts der fast vom Aussterben bedrohten Gattung des komponierten Käsegangs ist man ja schon für jeden Beitrag dieser Art dankbar, zumal das frittierte Brot ein passender Begleiter ist.
Nach der kleinen Exkursion auf eher fremdes Terrain übernimmt nun die Pâtisserie, die mit Désirée Nieder zudem erstklassig besetzt ist: bei der Rolling Pin Convention Germany 2023 in Berlin wurde sie zur besten Pâtissière Deutschlands gekürt und steigt weiter in ihrer Bedeutung für dieses Restaurant auf. Einen ersten Vorgeschmack ihres Könnens demonstriert sie mit dem Pré-Dessert, bestehend aus Safraneis auf Basis von weißer Schokolade. Zusammen mit einer Karamellspirale drapiert sie den Hauptdarsteller auf einem steirischen Kürbiskernöl und setzt zudem mit fermentierter Hagebutte weitere überraschende Akzente der subtilen Art. Die wohldosierte und umschmeichelnde Süße dieses bar aller Routine ersonnenen Desserts gefällt absolut. Das weckt Neugier und Lust auf das eigentliche Dessert …
… doch passiert an dieser Stelle etwas gänzlich Unvorhergesehenes. Da mein Termin an diesem Abend eher spät angesetzt ist, sind mir die meisten Gäste im Ablauf voraus, was mich natürlich nicht weiter stört. So kommt es, dass das etwas ältere Ehepaar am Tisch nebenan, dem ich im Laufe des Abends nicht mehr als ein gewöhnliches Maß an Aufmerksamkeit widme, sein Mahl vor mir beendet und sich beim Servicechef verabschiedet. Beim Verlassen des Lokals müssen sie meinen Tisch passieren, doch anstatt daran vorbeizulaufen bleiben sie stehen und bedanken sich stattdessen bei mir! Sichtlich verdutzt stammle ich vor mich hin und gebe zu erkennen, dass mir nicht ganz klar ist, worauf sie anspielen. Der Mann klärt mich auf, dass sie meine Internetpräsenz kennen würden und mich schon den ganzen Abend immer wieder beobachtet hätten, sich aber nicht sicher waren. Als sie auf Nachfrage die Bestätigung vom Service erhielten, dass ich es wirklich bin, ist es ihnen ein Anliegen, zum Ausdruck zu bringen, dass sie meine Seite regelmäßig besuchen und meine Rezensionen durchaus zur Kenntnis nehmen. Insbesondere meine Eindrücke aus dem Vorjahr vom es:senz hatten sie als regelmäßige Stammgäste besonders interessiert, weshalb sie die neue Rezension schon erwarten würden. Noch kurioser erscheint allerdings die Tatsache, dass der Mann ein auf Vereinsniveau agierender Schachspieler ist und eher über dieses Thema auf meine Seite gestoßen ist! Nun ja, es hat eine Weile gedauert mit der Rezension, aber möge sie dennoch Freude bereiten!
Nach der Verabschiedung widme ich mich wieder den lukullischen Freuden, doch offenbar hat mich dieses Ereignis dennoch aus der Bahn geworfen: wie ich erst hinterher feststelle, habe ich vor lauter Verwirrung vergessen, ein Foto des Desserts zu machen, das nun leider der Phantasie überlassen bleiben muss. Jedenfalls scheint man hier einem Trend zu folgen, den ich kurz zuvor bei Thomas Schanz auf ähnliche Weise erlebt habe: ja nicht zuviel im Voraus preisgeben! Die kreisrunde, leicht geeiste und mit Schokosplittern garnierte Schokohülle (von Original Beans Schokolade mit einem Kakaoanteil von 82%) ist innen mit Texturen von Quitte sowie Macadamianüssen einer weißen Schokocrème gefüllt. Die Schokolade bleibt in all ihrer Vielfalt voll im Mittelpunkt des Geschehens und besticht mit variabler Süße, die in keinster Weise vorhersehbar ist. Optisch setzt dieser Beitrag auf Understatement, aber geschmacklich bewegt sich der Einfall absolut auf Oberliganiveau. Selbiges gilt auch für die hausgemachten Pralinen, Schokoladenträne, Feige, Apfelweintorte, Espresso Martini on the Rocks und flüssiges Toffifee. Man beachte insbesondere die handbemalte Praline …
Das war fraglos ein runder Abschluss eines über weite Strecken herausragenden Abends. Dass Spitzengastronomie immer Teamarbeit ist, wird in diesem Lokal so deutlich sichtbar wie kaum irgendwo anders: mit Chefkoch Edip Sigl, Pâtissière Désirée Nieder, Servicechef Simon Adam und Sommelier Iiro Lutter ist das es:senz auf allen Schlüsselpositionen exzellent besetzt. Dieser in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzende Umstand stellt eine clevere Maßnahme der Geschäftsleitung dar auf dem langen, steinigen und beschwerlichen Weg zu drei Sternen hin. Es ist für mich offenkundig, dass dies das erklärte Ziel darstellt, auch wenn es bislang noch keiner deutlich artikuliert hat. Die Voraussetzungen wie die entsprechende Finanzkraft im Hintergrund, hinreichende Medienpräsenz, eine ausreichend große Zahl an motivierten Mitarbeitern und die notwendige Beharrlichkeit sind absolut gegeben. Es lohnt sich jedoch auch, die vier Protagonisten nochmals separat unter die Lupe zu nehmen.
Chefkoch Edip Sigl brachte schon bei seinem Amtsantritt eine gehörige Portion an Erfahrung und Leidenschaft mit, die beide unerlässliche Bedingungen für die höchsten Weihen darstellen. Sein untrügliches Gespür für kraftvolle, aber nie überdrehte Statements, das ständige Hinterfragen des bisher Erreichten und das makellose Handwerk gestatten es ihm, mit souveräner Leichtigkeit und in schöner Regelmäßigkeit neue Gerichte zu ersinnen, die immer noch besser werden. Meist steht ein herausragendes Produkt im Mittelpunkt, bei dem sich der Chef dennoch nicht scheut, es kraftvoll anstatt zurückhaltend zu begleiten. Seine Meisterschaft auf dem Gebiet der Saucen gestattet es ihm, den Regler je nach Bedarf mal voll aufzudrehen oder auch herunterzufahren. Die Integration heimischer Produkte ist nicht nur Mittel zum Zweck, sondern gelingt vorzüglich und wirkt keinesfalls nur pflichtbewusst oder gar vorgeschoben, nur um den Idealen einer Klientel zu huldigen, die sich Regionalität auf ihre Fahnen geschrieben hat. Das sachliche Auftreten des Chefs und seine enge Zusammenarbeit mit den Produzenten seiner Produkte verdeutlicht, dass hier ein akribischer Arbeiter am Werk ist, der nichts dem Zufall überlassen will und jedem Detail, das der Verbesserung seiner Arbeit dient, seine Aufmerksamkeit widmet.
Die junge Pâtissière Désirée Nieder teilt die Visionen ihres Chefs offenbar voll und ganz, denn auch ihr scheinen Mittelmaß und Müßiggang vollkommen fremd zu sein. Eine Auszeichnung wie die obige in noch jungen Jahren zu erhalten ist beileibe keine Selbstverständlichkeit, sondern das Ergebnis harter Arbeit und bedingungsloser Hingabe. Gerade das launige Pré-Dessert sparte nicht mit Überraschungen und ist mir noch in bester Erinnerung. Ich bin mir sicher, dass wir von diesem großen Talent noch einiges erwarten dürfen.
Servicechef Simon Adam ist ein ausgesprochen versierter Gastgeber mit langjähriger Erfahrung aus den Münchner Vorzeigelokalen Tantris und dem leider nicht mehr existierenden Königshof. Er dirigiert eine sicher und aufmerksam zu Werke gehende Servicetruppe mit ruhiger Hand und hat ein geradezu seismologisches Gespür für die Befindlichkeit des Gastes. Meine Konversationen mit ihm sind nicht nur stets gewinnbringend, sondern immer auch sehr angenehm, auf Augenhöhe geführt und auf gegenseitigem Respekt beruhend – ein Gastgeber aus dem Bilderbuch!
Sommelier Iiro Lutter bringt jede Menge Erfahrung aus Anbaugebieten an der Mosel und in der Pfalz mit – kein Wunder, dass die atemberaubende Weinkarte des es:senz, die in Zukunft noch weiter ausgebaut werden soll, einen gewissen Schwerpunkt bei diesen Regionen setzt. Die Kompetenz des Sommeliers steht für mich sowieso außer Frage, doch von den menschlichen Qualitäten des gebürtigen Finnen konnte ich mich ebenfalls überzeugen: zum einen gelang es ihm, mir als absolutem Weinbanausen ein Glas Rotwein zum Hauptgericht schmackhaft zu machen, nämlich einen relativ schlanken Granato Foradori von 2016. Zum anderen bekam ich noch am Ende meines Besuches, als das Lokal quasi schon verwaist und ich als letzter Gast übriggeblieben war, eine Privataudienz inklusive Führung durch den Weinkeller und intensiver Erläuterung. Die ungeplante Verlängerung meines Besuches störte weder den Sommelier noch den Servicechef im Geringsten, weshalb ich mich überaus ernst genommen fühlte und diesen Bonus sehr genoss.
In Summe kratzte dieser Abend fraglos an der Marke von 19 Punkten – und ich hege auch keinen Zweifel, dass diese Note beim nächsten Besuch absolut erreicht werden kann. Kleinere Beiträge, die mit der Ästhetik ein wenig fremdelten oder auf unnötige Spielereien setzten (wie beim warmen Amuse) sowie der im Kontext noch ein wenig verloren wirkende Käsegang stellen im Prinzip meine einzigen kleinen Vorbehalte dar. Sollte es dem Team gelingen, noch konstanter zu agieren, dann steht der Beförderung meinerseits bestimmt nichts mehr im Wege, zumal es bis zum nächsten Ma(h)l keine Ewigkeit mehr dauern sollte. Auf den Schneesturm kann ich nächstes Mal verzichten, aber wenn es unbedingt sein muss, würde ich auch diesen in Kauf nehmen …
Mein Gesamturteil: 18 von 20 Punkten
es:senz
Mietenkamer Straße 65
83224 Grassau
Tel.: 08641/4010
www.das-achental.com
Guide Michelin 2023: **
Gault&Millau 2023: 3+ Toques
GUSTO 2024: 8,5 Pfannen
FEINSCHMECKER 2024: 4,5 F
6-gängiges Menü „Chiemgau Pur“: € 195
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„Immer auf dem Sprunge stehen – das nenne ich Leben. Von Sicherheit eingewiegt werden bedeutet sicheren Tod.“ (Oscar Wilde)
November 2022
Edip Sigl ist einer der wenigen Spitzenköche der Republik, die ich bislang nie in leitender Position erleben durfte. Ausgebildet unter anderem im Gut Lärchenhof zu Pulheim, westlich von Köln gelegen, wechselte er danach in die bayrische Landeshauptstadt und arbeitete weiter zielstrebig am Ausbau seiner Fähigkeiten. Bei meinem bisher einzigen Besuch im Münchner Les Deux war er allerdings noch Souschef unter Johann Rappenglück gewesen – als dieser kurz darauf das Lokal verließ, übernahm der ambitionierte Jungkoch ganz selbstverständlich, doch reichte mir die Zeit für eine erneute Stippvisite damals angesichts langer Lockdowns nicht. Als Herr Sigl dann plötzlich seinen Abschied im Frühjahr 2021 verkündete, war somit auch diese Chance vertan. Umso wichtiger war es mir, dieses Versäumnis nun endlich nachzuholen, zumal Herr Sigl an seinem neuen Arbeitsplatz sofort wieder die zwei Sterne erlangen konnte, die er auch schon im Les Deux erkocht hatte. Und was für ein Arbeitsplatz das ist: das mondäne Luxus- und Golfresort Das Achental liegt in Grassau, eingebettet zwischen dem Chiemsee und dem Alpenrand. Das mit reichlich Holz gebaute, mondäne Resort punktet mit großzügigem Luxus allenthalben und hat beste Chancen, zur ersten Adresse in der Region zu werden. Offenbar beflügelt von dieser außergewöhnlichen Lage und den exzeptionellen Rahmenbedingungen verabschiedete sich der Küchenchef kurzerhand von dem eher leichtfüßigen Bistro-Stil seiner vorherigen Wirkungsstätte und krempelte seine Ästhetik von Grund auf um. Vor diesem Hintergrund waren wir sehr gespannt, den neuen, weltoffenen Stil des Chefs kennenzulernen – auch wenn wir uns letztlich für das Menü mit dem stärkeren regionalen Bezug entscheiden sollten.
Bei einer knappen Recherche im Vorfeld fällt mir umgehend auf, dass die Welt bisweilen ein Dorf ist: der Serviceleiter des Lokals ist Simon Adam, der mir noch vom inzwischen geschlossenen Königshof bestens vertraut ist. Ich wusste nicht, ob er mich auch noch erkennen würde, doch zwei Minuten nach der Ankunft im Lokal konnte ich diese Frage zweifellos bejahen. Seine Freude, mich wiederzusehen, war gar derart groß, dass wir unerwartet die Apéritifs spendiert bekamen – da konnten wir leider nicht widerstehen und haben zugestimmt! Wiedersehen macht Freude, kann man da nur sagen – es gibt viel zu erzählen, denn der Maître ist durchaus an einem regen Austausch mit mir nach all der langen Zeit interessiert und geleitet charmant durch den Abend. Auch sonst setzt sich die erfahrene Servicebrigade aus weiteren ehemaligen Mitarbeitern zweier Münchner Legenden zusammen, nämlich dem Tantris und eben jenem Königshof. Die kiloschwere Weinkarte zeigt sich überaus ambitioniert, denn wir erfahren kurzerhand, dass sich diese an den exorbitanten Maßstäben des Königshofs messen soll und nach anderthalb Jahren leider noch nicht ganz dieselbe Klasse erlangt hat. Wer seinerzeit den Weinfundus des Königshofs unter Ausnahme-Sommelier Stéphane Thuriot kennenlernen durfte, der weiß diese Aussage einzuordnen: übersetzt bedeutet sie in etwa, dass man auf die bisherige Größe und Qualität der Weinvorräte durchaus stolz ist, es in der Vergangenheit aber eben doch das eine oder andere Lokal gab, das auf diesem Gebiet noch besser aufgestellt war. Halten wir mal folgendes fest: wenn der Aufbau der Weinsammlung im selben Tempo voranschreitet, dann entsteht hier bald ein Paradies für Vinophile! Lediglich Sommelier Iiro Lutter fehlte an diesem Abend krankheitsbedingt, doch auch der junge Ersatz überzeugte auf ganzer Linie – wie überhaupt die gesamte, fast komplett männliche Servicetruppe.
Das Lokal ist einem Seitenflügel untergebracht und wartet mit einem zwar eher dunklen, dafür aber stimmigen und heimeligen Ambiente auf, dessen größter Blickfang die beiden senkrechten Kaminöfen in der Mitte des Raumes sind. Die vollverglaste Wand zur Rückseite des Baus macht an diesem nasskalten und trüben Novemberabend nicht so viel her, aber an sonnigen Sommertagen ist dies fraglos eine weitere Trumpfkarte. Besagter Weinschrank und die schon jetzt beachtliche Auswahl an Spirituosen können sich ebenfalls sehen lassen – „klotzen statt kleckern“ lautet das Motto hier ganz eindeutig.
Man offeriert zwei Menüs, deren Fokus vor allem auf der Herkunft der Produkte liegt: das eine Menü ist betitelt mit Chiemgau Pur und besteht aus sechs Gängen zu € 185, während die andere Option namens Chiemgau goes around the world mit acht Gängen zu € 285 aufwartet und so ziemlich das Beste an Luxusprodukten versammelt, was derzeit möglich ist. Unsere Wahl fällt auf die erste Option, zumal die in der Karte angekündigten Apéros mengenmäßig durchaus üppig ausfallen und schon einiges hermachen dürften.
Wir haben uns nicht getäuscht, denn optische Askese scheint wahrlich nicht zur Devise des Abends zu werden: stattdessen setzt man mit individuell ausgeklügelten Einfällen bereits Maßstäbe, die beim Vergleich mit anderen Zweisternern fraglos im oberen Drittel anzusiedeln sind: so weicht der zuckerlastige Geschmack der Zuckerwatte in der „Wolke“ benannten Kreation dem herzhaften Geschmack von Essig, Wurzelspeck sowie Brotkrumen ziemlich schnell und betont eher die salzig-würzigen Elemente. Den ersten klaren Bezug zur Region stellt der Macaron her, denn die typische und fangfrische Chiemsee-Renke mit ihrem ganz leicht süßlichem Geschmack wird zwar mit Wasabi und Zwiebeln bewusst in die salzige Richtung interpretiert, bleibt dabei aber federnd leicht. Die Apfeltarte ist ein echter Hingucker und besteht aus mit knalligem Granny-Smith-Gel ummantelter Gänseleber. Erheblich klassischer ist die Herrenschnitte mit Rindertatar, N25-Kaviar und Brioche umgesetzt, die puristisch und luxuriös gerät. Ein recht weit gesteckter stilistischer Rundgang verdeutlicht schon jetzt, dass sich die Küche keinesfalls auf einen zu eng gesteckten Rahmen festlegen will und alle Register ihres Könnens zeigen darf. Kontraste überwiegen daher bei dieser Parade, aber in handwerklicher Hinsicht ist dies alles vollauf gelungen und sicher abgeschmeckt.
Mittelmaß wird hier offenbar nicht mal bei der Brotauswahl geduldet, denn speziell anhand der üppigen Begleiter wird schnell deutlich, dass selbst diesem oft vernachlässigten Teil einer Menüfolge die ihm gebührende Aufmerksamkeit zuteil wird. So gibt es neben Brot, Brioche und geschlagener Alpenrahmbutter auch zwei falsche Kiesel mit einer Füllung aus Räucherfisch einerseits und Essigstand andererseits. Doch damit nicht genug: Chiemgauer Kräutergarten setzt sich zusammen aus einem aparten Arrangement diverser Rüben (große Schale im Hintergrund) und einem kräuterbetonten Aufstrich im Vordergrund. Um es mal auf bayrisch ganz klar auszudrücken: des macht wos her, mai Liaba!
Wer allerdings glaubte, dass damit alles gesagt, pardon, aufgetragen sei, sieht sich auf das Angenehmste überrascht, wenn vor dem Beginn des Menüs gleich noch zwei weitere Amuses präsentiert werden. Wegen der Leichtigkeit von Sauerrahm und dessen Paarung mit geräuchertem Saibling empfinde ich dieses erste Amuse sofort als eine Hommage an Heinz Winkler: zum einen ist dessen Residenz keine zwanzig Fahrminuten entfernt, und zum anderen bestand eines der besten Gerichte des nur Tage zuvor verstorbenen Ausnahmekochs, dessen ich mich entsinne, aus Mariazeller Saibling mit Sauerrahm. Auch in Aschau gesellte sich seinerzeit Ceta-Kaviar hinzu, doch anstelle von Gurke und Tapioka-Perlen favorisierte Edip Sigl Fenchel und ein sehr körperbetontes Gelée von Pernod. Trotz dieser etwas rustikaler klingenden Variante bleibt das Gericht hochelegant, leicht und bekömmlich. Der leichte Biss der Perlen und die Veredelung durch die alkoholische Note runden alles ganz vorzüglich ab. Ich kann die Theorie mit der (aus meiner Sicht bedenkenlosen) Anleihe von Heinz Winkler natürlich nicht beweisen, aber zumindest anhand eines Werbefilms für das Lokal bestätigen, dass der Aschauer Ausnahmekoch auch schon hier einkehrte, da er in einem kurzen Ausschnitt des dreiminütigen Streifens zu erkennen ist.
Zum echten Seelenwärmer schwingt sich das zweite Amuse auf, welches angesichts des grausigen Wetters draußen hochwillkommen ist: unter dem erdigen Maronenschaum verstecken sich hausgemachte Cavatelli al dente und Sot-l’y-laisse (Pfaffenbäckchen) von vorzüglicher Konsistenz, während generös eingesetzter schwarzer Trüffel diesem luxuriösen Teller eine Intensität an erdigen Aromen angedeihen lässt, die unglaublich beglückend und zugleich fordernd ist. Auch dieser Gang bekommt noch einen alkoholischen Feinschliff verpasst: Madeira ist ein ganz vorzüglicher Begleiter und vielleicht auch ein wenig von Jan Hartwig aus Münchner Zeiten inspiriert. Jedenfalls gelingt der virtuose Einsatz von hochprozentigen Produkten einmal mehr ganz wunderbar. Im weiteren Verlauf des Menüs wird allerdings nicht mehr auf Spirituosen zurückgegriffen werden – was für mich nur ein weiterer Beleg dafür ist, dass die Küche Alkohol eben nur dort einsetzt, wo es geschmacklich sinnvoll erscheint.
Der bereits vor dem Menü betriebene Aufwand ist immens, doch der landläufige Verdacht, mit solch ausladenden Paraden nur angeben zu wollen und in Wirklichkeit nur zu langweilen, ist schnell zerstreut. Jeder einzelne Beitrag offerierte isoliert betrachtet ohne jeden Zweifel eine weit überdurchschnittliche Klasse – und wenn es daran überhaupt etwas auszusetzen gibt, dann ist es allenfalls die Tatsache, dass es noch keinen rechten gemeinsamen Nenner zu geben scheint und der Stil der Küche nicht leicht zu definieren ist. Wir fühlen uns jedenfalls bestens unterhalten und erfreuen uns an den ungewohnten Geschmacksbildern, die voller Überraschungen stecken und der Routine erfolgreich den Kampf angesagt haben.
Confierte Talhammer Lachsforelle läutet das sechsgängige Menü Chiemgau Pur leicht und bekömmlich ein. Der Fisch ist vielleicht von der Konsistenz her einen Tick zu weich geraten, aber das ansprechende Bouquet an Begleitern macht diesen Umstand locker wieder wett: dank fruchtbetonter Noten von Apfel und bitteren Akzenten von knackigem Sellerie nimmt dieser Teller einen frischen Charakter an, der allerdings eher frühlingshaft als herbstlich gerät. Rapsblüten, Ceta-Kaviar und Bucheckernöl setzen allerlei reizende Akzente in einem jederzeit transparent anmutenden Gang mit feiner Balance – ein ordentlicher Auftakt mit nur kleinsten Schwächen.
Geradezu unvergesslich gerät der nächste Gang, der es beinahe in meine Menüfolge des Jahres 2022 geschafft hätte: da muss man fast ein ganzes Jahr lang auf Kalbsbries verzichten und bekommt es dann nach der Stippvisite in Thomas Kellermanns Dichter binnen zweier Tage gleich doppelt vorgesetzt! Obschon ganz anders interpretiert als am Tegernsee, macht auch dieses Exemplar enorm viel her und hätte locker das Potential zum Signature Dish: der in Sojaöl ohnehin schon kräftig gebratene Hauptdarsteller ist mit eingelegtem und geflämmtem Rotkohl zudem sehr geschmacksintensiv ummantelt. Der Pfefferschaum verleiht dem Gang noch weitere Umami-Wucht und wird durch rare Felsenbirne (eine Beere, deren Geschmack an Marzipan interessiert) mit nussigen Aromen stilvoll veredelt, und selbst die durchaus herzhaften Blüten von Duftveilchen obenauf sind weit mehr als nur optisches Blendwerk. Es sind aus meiner Sicht vor allem drei Gründe, die dieses phantastische Gericht so denkwürdig machen: erstens ist die optische Präsentation geradezu kryptisch und mit nichts zu vergleichen, zweitens ist das Bries von grandioser Qualität, und drittens ist die hochgradig individuelle Begleitung sowohl einprägsam als auch einfach von vorzüglichem Geschmack – was für eine Eingebung! Dieses perfekte Gericht sollte fortan immer auf der Karte stehen …
Confierter Zander von der Fischerei Lex auf der Fraueninsel im Chiemsee wird mit einer Scheibe von eingelegtem Kürbis bedeckt und mit etwas gegrilltem Chiemsee-Aal obenauf getoppt. Dank des Ingwerschaums bleibt dieser Teller recht zupackend, aber im Vergleich zu seinem Vorgänger ist die Intensität doch deutlich und geschickt gedrosselt worden. Die letzte Finesse besteht in der Beigabe von Kernöl, doch ganz so trennscharf wie zuvor sind die Aromen hier diesmal nicht ganz geraten. Dennoch ist dies wieder ein sehr ordentlicher Gang mit viel Lokalkolorit und Charme.
Durch das kräftige Braten des heimischen Rehs werden dessen Bitterstoffe zum Hauptgang durchaus betont, zumal die Küche diesmal eine fruchtige Begleitung zugunsten deutlich herberer Akzente verwirft. Leicht nussige Facetten von Springkraut sowie Radicchio und rote Bete in optisch auffälligen Farben und Texturen stellen überzeugende Begleiter des Fleischs dar, zumal auch der Korinthensud eher Kraft als Säure beisteuert. Das weniger verspielt und ernster anmutende Hauptgericht erscheint als ein besonders fokussierter Gang, mit dem die Küche den Beweis antritt, dass sie die Devise „weniger ist manchmal mehr“ durchaus verinnerlicht hat. Folgerichtig attestiere ich diesem Hauptgang eine weit überdurchschnittliche Qualität, selbst unter Zweisternern.
Das kleine, aber kompakte Pré-Dessert besteht anfangs lediglich aus einem Kompott von Holunderbeere, das am Platz mit einem dünnflüssigen Joghurt aufgegossen wird. Ist dieser in dem eiskalten Schälchen fest geworden, kommen Chiemgauer Honig, Essig und Crumble ebenfalls noch hinzu. Dieser pfiffige Einfall hält Säure und Süße nicht nur in einer schönen Balance zueinander, sondern wird quasi als komplett dekonstruiertes Dessert vor dem Gast erst wieder zusammengefügt. Mehr als nur einmal habe ich in der Vergangenheit erleben müssen, dass solch vordergründige Praktiken oft nur dazu dienen, über fehlende Substanz hinwegtäuschen zu müssen, doch hier wird die Klasse dieses Einschubs von uns zu keinem Zeitpunkt infrage gestellt. Reizend und vollauf gelungen!
Zum echten Dessert wird ein klassischer Apfelstrudel von Pâtissière Desirée Nieder ebenfalls neuartig interpretiert: auf einer hausgemachten Apfelessenz wird das Strudelteigblatt platziert. Wenn auch Nougatcrème und Vanilleeis eine beachtliche Qualität aufweisen, so wird das Niveau des Vorgängers nicht wirklich erreicht: trotz augenzwinkernder Inszenierung und reichlich Wohlgeschmack hat man hier das Lokalkolorit vielleicht zu sehr bemüht und dabei eine etwas verlegen anmutende Lösung gefunden. Außerdem sind die Portionen beider Desserts praktisch identisch, so dass dieser Beitrag von der Reihenfolge her genauso mit seinem Vorgänger hätte vertauscht werden können. Das ist fraglos keine echte Enttäuschung, aber für einen Zweisterner fehlt mir diesmal doch ausnahmsweise die nötige Klasse.
Mit den Petits fours erhält die süße Abteilung ja nochmals eine Chance, ihr Können zu demonstrieren – und enttäuscht diesmal keineswegs: mit Haselnuss, Schwarzwälder Kirsch, Quitte, Schokoladenträne, Moscow Mule on the Rocks und hausgemachten Pralinen werden alle Facetten der Pâtisserie nochmals gebührend gewürdigt, so dass dieser über weite Strecken wirklich ausgezeichnete Abend ein angemessenes Ende fand.
Wir lassen den Abend schließlich würdig mit einem Bas-Armagnac Baron G. Legrand von 1965 ausklingen und müssen dafür angesichts sehr gastfreundlicher Preise keineswegs gleich persönliche Insolvenz anmelden. Diese seltene Trouvaille rundet einen sehr gelungenen Abend überaus stimmig ab und nährt in uns den Wunsch, dem Lokal schon bald wieder einen Besuch abzustatten.
Die Gründe dafür sind mannigfaltiger Natur: das es:senz lässt uns jederzeit spüren, dass man hier ambitioniert auftritt und weiter nach oben strebt. Dafür sorgen nicht nur üppige finanzielle Rahmenbedingungen, die sich beispielsweise schon jetzt in der Breite des Weinkellers oder der Güte der verwendeten Produkte manifestieren, sondern auch die kluge Weitsicht und Politik des Managements: alle Schlüsselpositionen wurden adäquat mit erfahrenen und hochkompetenten Mitarbeitern besetzt. Das relativ dunkel gehaltene Ambiente des Lokals ist unverwechselbar und hat etwas Heimeliges – durchaus angemessen, denn man fühlt sich dank der großzügigen Abstände zu den Nachbartischen sehr wohl und jederzeit beim Service bestens aufgehoben, der sogar bei den beiden noch recht jungen Kindern am Nebentisch hochprofessionell agiert und sich keinerlei Missfallen oder Respektlosigkeit (wofür es ohnehin keinen Anlass gegeben hätte) anmerken ließ. Außerdem stellt sich Chefkoch Edip Sigl gleich zu Beginn vor und nimmt sich am Ende auch nochmals ordentlich Zeit für uns – ein Umstand, der keineswegs als selbstverständlich zu erachten ist.
Ich fiebre der weiteren Entwicklung dieses Lokals mit großer Aufmerksamkeit entgegen, weil dieser überzeugende Auftritt die Ambitionen des gesamten Teams eindrucksvoll untermauerte und Edip Sigl – auch erst ein Mittdreißiger – schon jetzt eine ganz klare Vorstellung davon hat, wie sein Küchenstil einmal aussehen soll und welche Sphären er noch erreichen möchte. Mit dem Abschied aus München konnte er offenbar seine eigenen Vorstellungen weitaus stärker in die Tat umsetzen – ein Umstand, den man seiner vor Kreativität sprühenden Küche deutlich anmerkt. So wies beispielsweise das ikonische und doch recht eigenwillig inszenierte Kalbsbriesgericht allemal das Potential für ein Signature Dish auf, das Stammgäste in Zukunft vielleicht nicht mehr missen möchten. Seinen eigenen Stil umreißt Edip Sigl sinngemäß derart, dass seine Küche unterhalten und auch durchaus mal fordern, aber keinesfalls den Gast verstören oder gar abschrecken soll. Mit dieser vergleichsweise kryptischen Formulierung zeigt er einerseits, dass eine nähere Beschreibung seiner Stilistik gar nicht so leichtfällt, aber andererseits die Neugier beim Gast zusätzlich geweckt werden soll – was uns betrifft, so ist es ihm jedenfalls vollauf gelungen! Wir erlebten einen selten kurzweiligen Abend mit einer auffälligen Spannweite bei der Intensität der Aromen: von zart und subtil bis forsch und extrem zupackend war so ziemlich alles vertreten. Insbesondere die kluge Würze und deren genaue Dosierung fielen uns ein ums andere Mal positiv auf. Dass die Küche zudem zwei recht unterschiedlich anmutende Menüs gleichzeitig aufbietet, beweist, dass hier jemand ganz genau weiß, was er kann und sich selbst sowie seinem Team zumuten möchte.
Marginale Schwächen machten wir noch bei der aromatischen Feinjustierung des einen oder anderen Gangs aus, denn der Verzicht auf die eine oder andere Komponente hätte für unsere Begriffe zumindest hier und da mal erwogen werden können. In seltenen Fällen kam es auch vor, dass der gewünschte Grad an Perfektion nicht immer erreicht werden konnte, weil die Umsetzung einer bestimmten Idee noch nicht komplett glücken wollte. Lassen wir aber andererseits die Kirche im Dorfe, denn zum einen gelang dies bei so manchem Gericht schon souverän (allen voran beim Kalbsbries), und zum anderen können auch nach anderthalb Jahren an neuer Wirkungsstätte (zumal in Post-Corona-Zeiten) noch nicht alle Routinen perfekt eingespielt sein. Dank seines noch recht jungen Alters bleiben dem ambitionierten Chef ja auch durchaus noch ein paar Jahre, um seine kulinarische Welt noch weiter zu verfeinern und auszubauen. Ich halte es daher ohne Weiteres für möglich, dass wir bei einer gleichermaßen fortschreitenden Entwicklung wie bisher in vier, fünf Jahren hier einen potentiellen Dreisterner vorschlagen können. Bis dahin tröste ich mich mit der Erkenntnis, dass ein Besuch schon jetzt eine überaus lohnende Angelegenheit darstellt und auch dank normaler Nebenkosten (im Chiemgau beileibe keine Selbstverständlichkeit!) regelmäßig erwogen werden kann. Das Kalbsbries-Gericht sollte während eines Besuchs schleunigst zu einem Ritual werden: da es nicht auf schnell verderbliche saisonale Produkte angewiesen ist, fordere ich hiermit offiziell die Einführung dieses Gangs als Pflicht – dann darf das grundsympathische Team jederzeit mit weiteren Besuchen meinerseits rechnen!
Mein Gesamturteil: 18 von 20 Punkten
es:senz
Mietenkamer Straße 65
83224 Grassau
Tel.: 08641/4010
www.das-achental.com
Guide Michelin 2022: **
Gault&Millau 2022: 3+ Toques
GUSTO 2023: 8 Pfannen
FEINSCHMECKER 2023: 4 F
6-gängiges Menü „Chiemgau Pur“: € 185