es:senz**, Grassau

„Immer auf dem Sprunge stehen – das nenne ich Leben. Von Sicherheit eingewiegt werden bedeutet sicheren Tod.“ (Oscar Wilde)

November 2022

Edip Sigl ist einer der wenigen Spitzenköche der Republik, die ich bislang nie in leitender Position erleben durfte. Ausgebildet unter anderem im Gut Lärchenhof zu Pulheim, westlich von Köln gelegen, wechselte er danach in die bayrische Landeshauptstadt und arbeitete weiter zielstrebig am Ausbau seiner Fähigkeiten. Bei meinem bisher einzigen Besuch im Münchner Les Deux war er allerdings noch Souschef unter Johann Rappenglück gewesen – als dieser kurz darauf das Lokal verließ, übernahm der ambitionierte Jungkoch ganz selbstverständlich, doch reichte mir die Zeit für eine erneute Stippvisite damals angesichts langer Lockdowns nicht. Als Herr Sigl dann plötzlich seinen Abschied im Frühjahr 2021 verkündete, war somit auch diese Chance vertan. Umso wichtiger war es mir, dieses Versäumnis nun endlich nachzuholen, zumal Herr Sigl an seinem neuen Arbeitsplatz sofort wieder die zwei Sterne erlangen konnte, die er auch schon im Les Deux erkocht hatte. Und was für ein Arbeitsplatz das ist: das mondäne Luxus- und Golfresort Das Achental liegt in Grassau, eingebettet zwischen dem Chiemsee und dem Alpenrand. Das mit reichlich Holz gebaute, mondäne Resort punktet mit großzügigem Luxus allenthalben und hat beste Chancen, zur ersten Adresse in der Region zu werden. Offenbar beflügelt von dieser außergewöhnlichen Lage und den exzeptionellen Rahmenbedingungen verabschiedete sich der Küchenchef kurzerhand von dem eher leichtfüßigen Bistro-Stil seiner vorherigen Wirkungsstätte und krempelte seine Ästhetik von Grund auf um. Vor diesem Hintergrund waren wir sehr gespannt, den neuen, weltoffenen Stil des Chefs kennenzulernen – auch wenn wir uns letztlich für das Menü mit dem stärkeren regionalen Bezug entscheiden sollten.

Bei einer knappen Recherche im Vorfeld fällt mir umgehend auf, dass die Welt bisweilen ein Dorf ist: der Serviceleiter des Lokals ist Simon Adam, der mir noch vom inzwischen geschlossenen Königshof bestens vertraut ist. Ich wusste nicht, ob er mich auch noch erkennen würde, doch zwei Minuten nach der Ankunft im Lokal konnte ich diese Frage zweifellos bejahen. Seine Freude, mich wiederzusehen, war gar derart groß, dass wir unerwartet die Apéritifs spendiert bekamen – da konnten wir leider nicht widerstehen und haben zugestimmt! Wiedersehen macht Freude, kann man da nur sagen – es gibt viel zu erzählen, denn der Maître ist durchaus an einem regen Austausch mit mir nach all der langen Zeit interessiert und geleitet charmant durch den Abend. Auch sonst setzt sich die erfahrene Servicebrigade aus weiteren ehemaligen Mitarbeitern zweier Münchner Legenden zusammen, nämlich dem Tantris und eben jenem Königshof. Die kiloschwere Weinkarte zeigt sich überaus ambitioniert, denn wir erfahren kurzerhand, dass sich diese an den exorbitanten Maßstäben des Königshofs messen soll und nach anderthalb Jahren leider noch nicht ganz dieselbe Klasse erlangt hat. Wer seinerzeit den Weinfundus des Königshofs unter Ausnahme-Sommelier Stéphane Thuriot kennenlernen durfte, der weiß diese Aussage einzuordnen: übersetzt bedeutet sie in etwa, dass man auf die bisherige Größe und Qualität der Weinvorräte durchaus stolz ist, es in der Vergangenheit aber eben doch das eine oder andere Lokal gab, das auf diesem Gebiet noch besser aufgestellt war. Halten wir mal folgendes fest: wenn der Aufbau der Weinsammlung im selben Tempo voranschreitet, dann entsteht hier bald ein Paradies für Vinophile! Lediglich Sommelier Iiro Lutter fehlte an diesem Abend krankheitsbedingt, doch auch der junge Ersatz überzeugte auf ganzer Linie – wie überhaupt die gesamte, fast komplett männliche Servicetruppe.

Das Lokal ist einem Seitenflügel untergebracht und wartet mit einem zwar eher dunklen, dafür aber stimmigen und heimeligen Ambiente auf, dessen größter Blickfang die beiden senkrechten Kaminöfen in der Mitte des Raumes sind. Die vollverglaste Wand zur Rückseite des Baus macht an diesem nasskalten und trüben Novemberabend nicht so viel her, aber an sonnigen Sommertagen ist dies fraglos eine weitere Trumpfkarte. Besagter Weinschrank und die schon jetzt beachtliche Auswahl an Spirituosen können sich ebenfalls sehen lassen – „klotzen statt kleckern“ lautet das Motto hier ganz eindeutig.

Man offeriert zwei Menüs, deren Fokus vor allem auf der Herkunft der Produkte liegt: das eine Menü ist betitelt mit Chiemgau Pur und besteht aus sechs Gängen zu € 185, während die andere Option namens Chiemgau goes around the world mit acht Gängen zu € 285 aufwartet und so ziemlich das Beste an Luxusprodukten versammelt, was derzeit möglich ist. Unsere Wahl fällt auf die erste Option, zumal die in der Karte angekündigten Apéros mengenmäßig durchaus üppig ausfallen und schon einiges hermachen dürften.

Wir haben uns nicht getäuscht, denn optische Askese scheint wahrlich nicht zur Devise des Abends zu werden: stattdessen setzt man mit individuell ausgeklügelten Einfällen bereits Maßstäbe, die beim Vergleich mit anderen Zweisternern fraglos im oberen Drittel anzusiedeln sind: so weicht der zuckerlastige Geschmack der Zuckerwatte in der „Wolke“ benannten Kreation dem herzhaften Geschmack von Essig, Wurzelspeck sowie Brotkrumen ziemlich schnell und betont eher die salzig-würzigen Elemente. Den ersten klaren Bezug zur Region stellt der Macaron her, denn die typische und fangfrische Chiemsee-Renke mit ihrem ganz leicht süßlichem Geschmack wird zwar mit Wasabi und Zwiebeln bewusst in die salzige Richtung interpretiert, bleibt dabei aber federnd leicht. Die Apfeltarte ist ein echter Hingucker und besteht aus mit knalligem Granny-Smith-Gel ummantelter Gänseleber. Erheblich klassischer ist die Herrenschnitte mit Rindertatar, N25-Kaviar und Brioche umgesetzt, die puristisch und luxuriös gerät. Ein recht weit gesteckter stilistischer Rundgang verdeutlicht schon jetzt, dass sich die Küche keinesfalls auf einen zu eng gesteckten Rahmen festlegen will und alle Register ihres Könnens zeigen darf. Kontraste überwiegen daher bei dieser Parade, aber in handwerklicher Hinsicht ist dies alles vollauf gelungen und sicher abgeschmeckt.

Mittelmaß wird hier offenbar nicht mal bei der Brotauswahl geduldet, denn speziell anhand der üppigen Begleiter wird schnell deutlich, dass selbst diesem oft vernachlässigten Teil einer Menüfolge die ihm gebührende Aufmerksamkeit zuteil wird. So gibt es neben Brot, Brioche und geschlagener Alpenrahmbutter auch zwei falsche Kiesel mit einer Füllung aus Räucherfisch einerseits und Essigstand andererseits. Doch damit nicht genug: Chiemgauer Kräutergarten setzt sich zusammen aus einem aparten Arrangement diverser Rüben (große Schale im Hintergrund) und einem kräuterbetonten Aufstrich im Vordergrund. Um es mal auf bayrisch ganz klar auszudrücken: des macht wos her, mai Liaba!

Wer allerdings glaubte, dass damit alles gesagt, pardon, aufgetragen sei, sieht sich auf das Angenehmste überrascht, wenn vor dem Beginn des Menüs gleich noch zwei weitere Amuses präsentiert werden. Wegen der Leichtigkeit von Sauerrahm und dessen Paarung mit geräuchertem Saibling empfinde ich dieses erste Amuse sofort als eine Hommage an Heinz Winkler: zum einen ist dessen Residenz keine zwanzig Fahrminuten entfernt, und zum anderen bestand eines der besten Gerichte des nur Tage zuvor verstorbenen Ausnahmekochs, dessen ich mich entsinne, aus Mariazeller Saibling mit Sauerrahm. Auch in Aschau gesellte sich seinerzeit Ceta-Kaviar hinzu, doch anstelle von Gurke und Tapioka-Perlen favorisierte Edip Sigl Fenchel und ein sehr körperbetontes Gelée von Pernod. Trotz dieser etwas rustikaler klingenden Variante bleibt das Gericht hochelegant, leicht und bekömmlich. Der leichte Biss der Perlen und die Veredelung durch die alkoholische Note runden alles ganz vorzüglich ab. Ich kann die Theorie mit der (aus meiner Sicht bedenkenlosen) Anleihe von Heinz Winkler natürlich nicht beweisen, aber zumindest anhand eines Werbefilms für das Lokal bestätigen, dass der Aschauer Ausnahmekoch auch schon hier einkehrte, da er in einem kurzen Ausschnitt des dreiminütigen Streifens zu erkennen ist.

Zum echten Seelenwärmer schwingt sich das zweite Amuse auf, welches angesichts des grausigen Wetters draußen hochwillkommen ist: unter dem erdigen Maronenschaum verstecken sich hausgemachte Cavatelli al dente und Sot-l’y-laisse (Pfaffenbäckchen) von vorzüglicher Konsistenz, während generös eingesetzter schwarzer Trüffel diesem luxuriösen Teller eine Intensität an erdigen Aromen angedeihen lässt, die unglaublich beglückend und zugleich fordernd ist. Auch dieser Gang bekommt noch einen alkoholischen Feinschliff verpasst: Madeira ist ein ganz vorzüglicher Begleiter und vielleicht auch ein wenig von Jan Hartwig aus Münchner Zeiten inspiriert. Jedenfalls gelingt der virtuose Einsatz von hochprozentigen Produkten einmal mehr ganz wunderbar. Im weiteren Verlauf des Menüs wird allerdings nicht mehr auf Spirituosen zurückgegriffen werden – was für mich nur ein weiterer Beleg dafür ist, dass die Küche Alkohol eben nur dort einsetzt, wo es geschmacklich sinnvoll erscheint.

Der bereits vor dem Menü betriebene Aufwand ist immens, doch der landläufige Verdacht, mit solch ausladenden Paraden nur angeben zu wollen und in Wirklichkeit nur zu langweilen, ist schnell zerstreut. Jeder einzelne Beitrag offerierte isoliert betrachtet ohne jeden Zweifel eine weit überdurchschnittliche Klasse – und wenn es daran überhaupt etwas auszusetzen gibt, dann ist es allenfalls die Tatsache, dass es noch keinen rechten gemeinsamen Nenner zu geben scheint und der Stil der Küche nicht leicht zu definieren ist. Wir fühlen uns jedenfalls bestens unterhalten und erfreuen uns an den ungewohnten Geschmacksbildern, die voller Überraschungen stecken und der Routine erfolgreich den Kampf angesagt haben.

Confierte Talhammer Lachsforelle läutet das sechsgängige Menü Chiemgau Pur leicht und bekömmlich ein. Der Fisch ist vielleicht von der Konsistenz her einen Tick zu weich geraten, aber das ansprechende Bouquet an Begleitern macht diesen Umstand locker wieder wett: dank fruchtbetonter Noten von Apfel und bitteren Akzenten von knackigem Sellerie nimmt dieser Teller einen frischen Charakter an, der allerdings eher frühlingshaft als herbstlich gerät. Rapsblüten, Ceta-Kaviar und Bucheckernöl setzen allerlei reizende Akzente in einem jederzeit transparent anmutenden Gang mit feiner Balance – ein ordentlicher Auftakt mit nur kleinsten Schwächen.

Geradezu unvergesslich gerät der nächste Gang, der es beinahe in meine Menüfolge des Jahres 2022 geschafft hätte: da muss man fast ein ganzes Jahr lang auf Kalbsbries verzichten und bekommt es dann nach der Stippvisite in Thomas Kellermanns Dichter binnen zweier Tage gleich doppelt vorgesetzt! Obschon ganz anders interpretiert als am Tegernsee, macht auch dieses Exemplar enorm viel her und hätte locker das Potential zum Signature Dish: der in Sojaöl ohnehin schon kräftig gebratene Hauptdarsteller ist mit eingelegtem und geflämmtem Rotkohl zudem sehr geschmacksintensiv ummantelt. Der Pfefferschaum verleiht dem Gang noch weitere Umami-Wucht und wird durch rare Felsenbirne (eine Beere, deren Geschmack an Marzipan interessiert) mit nussigen Aromen stilvoll veredelt, und selbst die durchaus herzhaften Blüten von Duftveilchen obenauf sind weit mehr als nur optisches Blendwerk. Es sind aus meiner Sicht vor allem drei Gründe, die dieses phantastische Gericht so denkwürdig machen: erstens ist die optische Präsentation geradezu kryptisch und mit nichts zu vergleichen, zweitens ist das Bries von grandioser Qualität, und drittens ist die hochgradig individuelle Begleitung sowohl einprägsam als auch einfach von vorzüglichem Geschmack – was für eine Eingebung! Dieses perfekte Gericht sollte fortan immer auf der Karte stehen …

Confierter Zander von der Fischerei Lex auf der Fraueninsel im Chiemsee wird mit einer Scheibe von eingelegtem Kürbis bedeckt und mit etwas gegrilltem Chiemsee-Aal obenauf getoppt. Dank des Ingwerschaums bleibt dieser Teller recht zupackend, aber im Vergleich zu seinem Vorgänger ist die Intensität doch deutlich und geschickt gedrosselt worden. Die letzte Finesse besteht in der Beigabe von Kernöl, doch ganz so trennscharf wie zuvor sind die Aromen hier diesmal nicht ganz geraten. Dennoch ist dies wieder ein sehr ordentlicher Gang mit viel Lokalkolorit und Charme.

Durch das kräftige Braten des heimischen Rehs werden dessen Bitterstoffe zum Hauptgang durchaus betont, zumal die Küche diesmal eine fruchtige Begleitung zugunsten deutlich herberer Akzente verwirft. Leicht nussige Facetten von Springkraut sowie Radicchio und rote Bete in optisch auffälligen Farben und Texturen stellen überzeugende Begleiter des Fleischs dar, zumal auch der Korinthensud eher Kraft als Säure beisteuert. Das weniger verspielt und ernster anmutende Hauptgericht erscheint als ein besonders fokussierter Gang, mit dem die Küche den Beweis antritt, dass sie die Devise „weniger ist manchmal mehr“ durchaus verinnerlicht hat. Folgerichtig attestiere ich diesem Hauptgang eine weit überdurchschnittliche Qualität, selbst unter Zweisternern.

Das kleine, aber kompakte Pré-Dessert besteht anfangs lediglich aus einem Kompott von Holunderbeere, das am Platz mit einem dünnflüssigen Joghurt aufgegossen wird. Ist dieser in dem eiskalten Schälchen fest geworden, kommen Chiemgauer Honig, Essig und Crumble ebenfalls noch hinzu. Dieser pfiffige Einfall hält Säure und Süße nicht nur in einer schönen Balance zueinander, sondern wird quasi als komplett dekonstruiertes Dessert vor dem Gast erst wieder zusammengefügt. Mehr als nur einmal habe ich in der Vergangenheit erleben müssen, dass solch vordergründige Praktiken oft nur dazu dienen, über fehlende Substanz hinwegtäuschen zu müssen, doch hier wird die Klasse dieses Einschubs von uns zu keinem Zeitpunkt infrage gestellt. Reizend und vollauf gelungen!

Zum echten Dessert wird ein klassischer Apfelstrudel von Pâtissière Desirée Nieder ebenfalls neuartig interpretiert: auf einer hausgemachten Apfelessenz wird das Strudelteigblatt platziert. Wenn auch Nougatcrème und Vanilleeis eine beachtliche Qualität aufweisen, so wird das Niveau des Vorgängers nicht wirklich erreicht: trotz augenzwinkernder Inszenierung und reichlich Wohlgeschmack hat man hier das Lokalkolorit vielleicht zu sehr bemüht und dabei eine etwas verlegen anmutende Lösung gefunden. Außerdem sind die Portionen beider Desserts praktisch identisch, so dass dieser Beitrag von der Reihenfolge her genauso mit seinem Vorgänger hätte vertauscht werden können. Das ist fraglos keine echte Enttäuschung, aber für einen Zweisterner fehlt mir diesmal doch ausnahmsweise die nötige Klasse.

Mit den Petits fours erhält die süße Abteilung ja nochmals eine Chance, ihr Können zu demonstrieren – und enttäuscht diesmal keineswegs: mit Haselnuss, Schwarzwälder Kirsch, Quitte, Schokoladenträne, Moscow Mule on the Rocks und hausgemachten Pralinen werden alle Facetten der Pâtisserie nochmals gebührend gewürdigt, so dass dieser über weite Strecken wirklich ausgezeichnete Abend ein angemessenes Ende fand.

Wir lassen den Abend schließlich würdig mit einem Bas-Armagnac Baron G. Legrand von 1965 ausklingen und müssen dafür angesichts sehr gastfreundlicher Preise keineswegs gleich persönliche Insolvenz anmelden. Diese seltene Trouvaille rundet einen sehr gelungenen Abend überaus stimmig ab und nährt in uns den Wunsch, dem Lokal schon bald wieder einen Besuch abzustatten.

Die Gründe dafür sind mannigfaltiger Natur: das es:senz lässt uns jederzeit spüren, dass man hier ambitioniert auftritt und weiter nach oben strebt. Dafür sorgen nicht nur üppige finanzielle Rahmenbedingungen, die sich beispielsweise schon jetzt in der Breite des Weinkellers oder der Güte der verwendeten Produkte manifestieren, sondern auch die kluge Weitsicht und Politik des Managements: alle Schlüsselpositionen wurden adäquat mit erfahrenen und hochkompetenten Mitarbeitern besetzt. Das relativ dunkel gehaltene Ambiente des Lokals ist unverwechselbar und hat etwas Heimeliges – durchaus angemessen, denn man fühlt sich dank der großzügigen Abstände zu den Nachbartischen sehr wohl und jederzeit beim Service bestens aufgehoben, der sogar bei den beiden noch recht jungen Kindern am Nebentisch hochprofessionell agiert und sich keinerlei Missfallen oder Respektlosigkeit (wofür es ohnehin keinen Anlass gegeben hätte) anmerken ließ. Außerdem stellt sich Chefkoch Edip Sigl gleich zu Beginn vor und nimmt sich am Ende auch nochmals ordentlich Zeit für uns – ein Umstand, der keineswegs als selbstverständlich zu erachten ist.

Ich fiebre der weiteren Entwicklung dieses Lokals mit großer Aufmerksamkeit entgegen, weil dieser überzeugende Auftritt die Ambitionen des gesamten Teams eindrucksvoll untermauerte und Edip Sigl – auch erst ein Mittdreißiger – schon jetzt eine ganz klare Vorstellung davon hat, wie sein Küchenstil einmal aussehen soll und welche Sphären er noch erreichen möchte. Mit dem Abschied aus München konnte er offenbar seine eigenen Vorstellungen weitaus stärker in die Tat umsetzen – ein Umstand, den man seiner vor Kreativität sprühenden Küche deutlich anmerkt. So wies beispielsweise das ikonische und doch recht eigenwillig inszenierte Kalbsbriesgericht allemal das Potential für ein Signature Dish auf, das Stammgäste in Zukunft vielleicht nicht mehr missen möchten. Seinen eigenen Stil umreißt Edip Sigl sinngemäß derart, dass seine Küche unterhalten und auch durchaus mal fordern, aber keinesfalls den Gast verstören oder gar abschrecken soll. Mit dieser vergleichsweise kryptischen Formulierung zeigt er einerseits, dass eine nähere Beschreibung seiner Stilistik gar nicht so leichtfällt, aber andererseits die Neugier beim Gast zusätzlich geweckt werden soll – was uns betrifft, so ist es ihm jedenfalls vollauf gelungen! Wir erlebten einen selten kurzweiligen Abend mit einer auffälligen Spannweite bei der Intensität der Aromen: von zart und subtil bis forsch und extrem zupackend war so ziemlich alles vertreten. Insbesondere die kluge Würze und deren genaue Dosierung fielen uns ein ums andere Mal positiv auf. Dass die Küche zudem zwei recht unterschiedlich anmutende Menüs gleichzeitig aufbietet, beweist, dass hier jemand ganz genau weiß, was er kann und sich selbst sowie seinem Team zumuten möchte.

Marginale Schwächen machten wir noch bei der aromatischen Feinjustierung des einen oder anderen Gangs aus, denn der Verzicht auf die eine oder andere Komponente hätte für unsere Begriffe zumindest hier und da mal erwogen werden können. In seltenen Fällen kam es auch vor, dass der gewünschte Grad an Perfektion nicht immer erreicht werden konnte, weil die Umsetzung einer bestimmten Idee noch nicht komplett glücken wollte. Lassen wir aber andererseits die Kirche im Dorfe, denn zum einen gelang dies bei so manchem Gericht schon souverän (allen voran beim Kalbsbries), und zum anderen können auch nach anderthalb Jahren an neuer Wirkungsstätte (zumal in Post-Corona-Zeiten) noch nicht alle Routinen perfekt eingespielt sein. Dank seines noch recht jungen Alters bleiben dem ambitionierten Chef ja auch durchaus noch ein paar Jahre, um seine kulinarische Welt noch weiter zu verfeinern und auszubauen. Ich halte es daher ohne Weiteres für möglich, dass wir bei einer gleichermaßen fortschreitenden Entwicklung wie bisher in vier, fünf Jahren hier einen potentiellen Dreisterner vorschlagen können. Bis dahin tröste ich mich mit der Erkenntnis, dass ein Besuch schon jetzt eine überaus lohnende Angelegenheit darstellt und auch dank normaler Nebenkosten (im Chiemgau beileibe keine Selbstverständlichkeit!) regelmäßig erwogen werden kann. Das Kalbsbries-Gericht sollte während eines Besuchs schleunigst zu einem Ritual werden: da es nicht auf schnell verderbliche saisonale Produkte angewiesen ist, fordere ich hiermit offiziell die Einführung dieses Gangs als Pflicht – dann darf das grundsympathische Team jederzeit mit weiteren Besuchen meinerseits rechnen!

Mein Gesamturteil: 18 von 20 Punkten

 

es:senz
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www.das-achental.com

Guide Michelin 2022: **
Gault&Millau 2022: 3+ Toques
GUSTO 2023: 8 Pfannen
FEINSCHMECKER 2023: 4 F

6-gängiges Menü „Chiemgau Pur“: € 185