„Ich hasse Silvester. Da saufen auch die Amateure.“ (Harald Juhnke)
UPDATE (Dezember 2023)
Nachdem wir in den vergangenen Jahren jedes Mal etwas anderes am Altjahresabend ausprobiert hatten (oder wegen Corona auch ganz darauf verzichten mussten), war ich umso erfreuter festzustellen, dass diesmal der unweit meiner Heimat gelegene Landgasthof Adler in Rosenberg inzwischen schon so gut aufgestellt war, um ein Silvesterarrangement anbieten zu können, das sich zudem preislich im mehr als fairen Rahmen bewegte. Flugs wurde also die Reservierung getätigt, zumal die Aussicht auf eine staufreie Anreise und eine entspannte Atmosphäre mitten auf dem Land unsere Lust auf diesen Abend nur erhöhte.
Wir betreten also voller Vorfreude den stattlichen Landgasthof am Rande der Ostalb, erklimmen die knarzende Treppe und stellen beim Betreten des Gastraums fest, dass alle Tische dem Anlass angemessen diesmal sogar mit einem Leintuch eingedeckt worden waren – mon Dieu! Die meisten Tische waren zum Zeitpunkt unseres Eintreffens schon besetzt, doch derjenige rechts von uns war noch frei: er war, wie ich schon bald höchst erfreut feststellen durfte, für Familie Bauer reserviert. Der ehemalige Chef Josef Bauer und seine Frau Marie-Luise trafen etwas vor ihrer Tochter und deren Mann ein, was mir die unverhoffte Gelegenheit gab, ein gutes Viertelstündchen mit der Legende von der Ostalb zu plaudern. Dabei machte der 81-Jährige auf mich einen ausgesprochen aufgeräumten Eindruck: körperlich in ordentlicher Verfassung und immer noch von absolut scharfem Verstand. Selbstverständlich erfuhr ich wieder viel Neues und versprach ihm auch, etliche seiner ehemaligen Kollegen zu grüßen, wenn ich ihnen demnächst begegnen sollte (so zum Beispiel anderthalb Monate später beim Besuch im Landhaus Scherrer in Hamburg geschehen, als ich dem überraschten, aber hocherfreuten Chef Heinz Wehmann die Grüße überbrachte). Nach diesem wunderbaren Auftakt konnte eigentlich nichts mehr schiefgehen …
Die Küche hatte sich unter dem heutigen Chef Michael Vogel ein ambitioniertes Programm in Form eines sechsgängigen Menüs zum sehr günstigen Preis von € 140 (es war ja immerhin Silvester …) vorgenommen, welches sie angesichts von Personalmangel vermutlich an den Rand des Machbaren brachte – es sei aber schon jetzt vorweggenommen, dass die Aufgabe mit Bravour gemeistert werden konnte. Großen Anteil sollte daran auch Serviceleiter Pascal Maier haben, der mit einem hohen Maß an Aufmerksamkeit und viel Präsenz im Gastraum zusammen mit den weiteren Kellnerinnen für einen reibungslosen Ablauf des Abends sorgte.
Zwei kleine Amuses bilden den Auftakt zum letzten Mahl des Jahres: ein kaltes Taco, interpretiert als Fingerfood mit Reh, Rotkohl und Kapuzinerkresse sowie eine gebackene Praline mit Crème von Saibling auf einer Brunoise von mit Kümmel und Anis gewürztem Fenchel und einer Vinaigrette von Schnittlauch. Während das Taco dank filigraner Kleinarbeit und sorgsamer Balance die herbe Aromatik des Wilds betont, erzielt das eher plakativ gehaltene zweite Amuse seine Wirkung, indem es auf unkomplizierte Weise den aromensatten Fisch in den Mittelpunkt stellt und dezent begleitet. Eine gewisse Schlichtheit und ein hohes Maß an Zugänglichkeit zeichnete die Teller auch schon unter Josef Bauer aus – dass Michael Vogel logischerweise kein Interesse daran zeigt, an den Grundfesten dieser Küche zu rütteln, leuchtet ein. Ach ja: als alkoholfreien Cocktail kredenzt man einen Tonic mit Noten von Zwetschge und Süßholz – reizend!
Eines der neuen und effektvollsten Gerichte, die Michael Vogel seit der Übernahme kreiert hat, ist das Tatar vom Rind in einer verblüffenden Auslegung – siehe untenstehend den Bericht über den Besuch vom Mai 2023. Dem feierlichen Anlass angemessen wird das Rind allerdings diesmal durch noch edlere Krustentiere ersetzt, was dem Ganzen einen noch eleganteren und hochwertigeren Touch gibt. An den übrigen Komponenten wurde dagegen nicht gerüttelt, denn gerade die kühne und unverwechselbare Kombination aus Sorbet von Kopfsalat, Schnittlauch-Vinaigrette und die animierende Würze von Jalapeño verleiht dem Gang sein einzigartiges Kolorit. Es geht vergleichsweise bunt zu auf dem Teller, aber die Kompaktheit und Reduktion auf das Wesentliche als Markenzeichen dieser Küche bleiben dabei erhalten – ein in dieser Form höchst seltenes Esserlebnis, für das allein sich die Anreise schon gelohnt hat. Ob nun die klassische Variante mit Rind oder doch die exotische mit Krustentieren – an meinem herausragenden Urteil vom letzten Besuch hat sich nichts geändert. Absolut beeindruckend!
Von geradezu ergreifender Schlichtheit präsentiert sich der nächste Gang: auf der Haut gebratener und kurz geflämmter Steinbutt braucht nichts weiter als eine herrlich süffige, leicht geschäumte Beurre blanc und ein exzellentes Safranrisotto al dente, um eine grandiose Wirkung zu erzielen. Die Zubereitung des Steinbutts ist derart grandios, dass ich ihn zu den fünf besten Beiträgen jemals mit diesem Fisch zählen würde – von mustergültiger Konsistenz, unbeschreiblich saftig und und höchst organisch eingebettet. Dazu kommen noch perfekt dosierte Würze und eine bekömmliche Aromatik, der überhaupt nichts Schweres oder Belastendes anhaftet. Das ist eine genuine Sensation!
Wie vielseitig das Repertoire ist, das die Küche trotz reduzierter Möglichkeiten beherrscht, zeigt sich auch beim Thema Pasta: hausgemachte und ganz vorzügliche Tortellini sind gefüllt mit einer Farce vom Fasan und Champignonsegmenten. Das viel zu selten auf Menükarten auftauchende Geflügel, dessen herbe Aromatik fast schon in Richtung Wild tendiert, harmoniert jedenfalls prächtig mit den erdigen Noten von Champignoncrème und luxuriösen Alba-Trüffeln. Als verbindendes Element kommt abermals eine Beurre blanc zum Einsatz, doch allein der unbeschreibliche Duft, der von diesem Einfall ausgeht, verspricht schon vor dem Verzehr ein hochklassiges Erlebnis: ohne falsche Zurückhaltung werden die herausragenden Eigenschaften der Produkte hier ins beste Licht gerückt. Um es klar zu sagen: das Ergebnis ist grandios!
Entenleber vor dem Hauptgang zu servieren stellt durchaus ein kleines Wagnis dar: als Terrine oder Parfait kann dieses Produkt ein durchaus intensives Maß an Sättigung bewirken, weshalb die Bevorzugung der wesentlich leichteren, gebratenen Variante eine kluge Wahl darstellt. Die ungewöhnliche Begleitung mit einer Vanille-Mais-Crème verleiht diesem Gang einen noblen Feinschliff, der für einen Landgasthof fast schon bizarr anmutet. Der geerdete Gegenpart mit frittiertem Brot und fermentiertem Knoblauch an einer winzigen Salatgarnitur fängt dies jedoch auf, so dass unterm Strich ein bekömmlicher und recht schlichter, aber eigenwilliger Beitrag von gedrosselter Intensität steht, der vielleicht nicht die hypnotische Kraft der Vorgänger erreicht, aber dennoch zu überzeugen vermag.
Den Hirschrücken zum Hauptgang kleidet die Küche in ein durchaus farbenfrohes und heiteres Gewand. Neben den für die Schweiz typischen Quarkpizokeln (fraglos eine Hommage an die Zeit bei Andreas Caminada) sowie Karotte und Shiitake in Texturen fällt auf, dass die Küche einer rustikalen Speck-Pfeffer-Jus den Vorzug vor einer (ungleich aufwendigeren) Sauce Rouennaise gibt. Der ungleichmäßig rot gebratene Hirschrücken erweist sich als absolut vorzüglich, während ein winziges, nicht annonciertes Detail in Form der rosafarbenen Tropfen von Preiselbeer-Mayonnaise das Gericht exzellent abrundet. Mit diesem Beitrag bewahrt Michael Vogel den ursprünglichen Charakter des Wirtshauses und erhebt doch gleichzeitig den Anspruch, etwas zu schaffen, das normale Ansprüche bei weitem überragt – und es gelingt fraglos ausgezeichnet! Vermutlich ist dies das beste und anspruchsvollste Hauptgericht unter seiner bisherigen Ägide.
Das Pré-Dessert huldigt der Jahreszeit und dem Anlass, indem ein Champagner-Granité mit einer Praline von Glühwein ansprechend kombiniert wird. Das erfrischt und reinigt die Geschmackspapillen nochmals vor dem Dessert.
Der Ausklang des Menüs besteht aus einem Limoncellosorbet auf einem Süppchen aus Kumquats und betont erwartungsgemäß die säuerlichen Noten der Produkte. Dazu reicht man noch Champagnercrème im Glas auf einem nicht näher definierten Sponge, was am objektiv schwächsten Beitrag des Abends nichts mehr zu ändern vermag. Natürlich ist die Küche dem Prinzip der für sie so typischen Schlichtheit gerade bei den Desserts treu geblieben, aber zum einen scheint dies alles andere als saisonal, und zum anderen wirkt es auf Dauer etwas massig und folglich auch eintönig. Dieser kleine Vorbehalt sei dem Team nach all den superben Darbietungen zuvor aber zugestanden, denn in Summe hat dieser Abend meine Erwartungen doch um einiges übertroffen.
Nicht zuletzt dank des unverhofften Treffens mit Josef Bauer geriet dieser Abend zu einem mehr als würdigen Ausklang des alten Jahres, doch auch die Küche hatte großen Anteil am Gelingen: über gewisse Strecken wuchs sie sogar über sich hinaus, doch auch die „normalen“ Momente gerieten überzeugend genug, um unter etwaigen Premierenbesuchern die Anhängerschaft dieses Lokals auszubauen. Überforderung des Gastes wird hier konsequent vermieden, wenngleich hin und wieder gewisse Reizpunkte gesetzt werden, um die Gäste auch mal aus der Komfortzone zu locken: schon früher kamen beispielsweise immer wieder mal Innereien auf den Teller. Im Bezug auf diesen Abend kann ich beispielsweise konstatieren, an einer Hand abzählen zu können, wie oft ich bislang Fasan gegessen habe. Auch Krustentiere in Form von Tatar erlebt man eher selten, weshalb ein Besuch hier selbst erfahrenen Gourmets immer noch etwas zu bieten hat.
Bei den konventionelleren Produkten überraschte mich diesmal dagegen die sensationelle Zubereitung, mit der für meine Begriffe ein neues Level erreicht schien. Anders kann ich die Sternstunde beim Steinbutt kaum erklären – es wirkt, als hätten besonders auf Fisch spezialisierte Großmeister wie Anton Mosimann, Jörg Müller und Martin Fauster dem Chef ihre besten Tipps verraten und er machte dann einfach das Beste daraus! Auch die Pasta lässt erahnen, dass Michael Vogel während seiner Lehrzeit bei Andreas Caminada sehr genau hingeschaut haben muss! Der Preis für die Höhenflüge besteht wohl darin, dass sich speziell die Desserts angesichts des enormen zuvor geleisteten Aufwands noch nicht auf demselben Niveau bewegen können (wie der Chef selbst mir gegenüber schon freimütig angedeutet hat), aber dafür bewahren gerade die Hauptgerichte den ursprünglichen Charakter des Lokals als Wirtshaus auf besonders schöne Weise. Es erhebt sich zudem die Frage, ob es gerecht ist, bei einer Ausnahmesituation denselben Maßstab wie an einem konventionellen Abend anzulegen: zugegebenermaßen trieb auch mich die leichte Befürchtung um, dass sich das Team diesmal zuviel aufgebürdet haben könnte, doch dieser Abend strafte all diejenigen, die davon ausgingen, Lügen.
Zusammen mit dem ursprung in Königsbronn bildet der Adler in Rosenberg somit weiterhin die kulinarische Spitze der Ostalb. Es bleibt mir jedenfalls schleierhaft, weshalb der Guide Michelin dem Lokal auch heuer wieder den Michelin-Stern verweigerte. Mit der Aussage, dass der Adler wohl zu den besten fünfzig Lokalen in Deutschland ohne Michelin-Stern gehört, geht man jedenfalls kein großes Wagnis ein. Nach der fünfeinhalb Jahre dauernden Abstinenz ist diese Institution somit wieder auf allerbestem Wege, zu neuen Höhenflügen anzusetzen. Anders ausgedrückt: der Adler fliegt wieder!
Es ist mir daher ein ausdrückliches Bedürfnis, dem Team des Landgasthofs für diesen gelungenen Abend zu danken und Josef Bauer meinen Respekt vor seinem Lebenswerk zu zollen. Ich komme auch weiterhin, versprochen!
Mein Gesamturteil: 17 von 20 Punkten
Landgasthof Adler
Ellwanger Str. 15
73494 Rosenberg
Tel.: 07967/513
www.landgasthofadler.de
Guide Michelin 2023: –
Gault&Millau 2023: 2+ Toques
GUSTO 2024: 7 Pfannen
FEINSCHMECKER 2024: 2,5 F
6-gängiges Silvestermenü: € 140
======================================================================
„Einfachheit ist das Resultat der Reife.“ (Friedrich Schiller)
UPDATE (Mai 2023)
Selbst kurzfristige Besuche lassen sich zumindest unter der Woche hier recht spontan einrichten, so dass es an einem Mittwochabend mal wieder soweit ist: schon beim Betreten des wuchtigen Lokals und dem Emporsteigen der knarzenden Treppe beginnt das Blut wieder in mir zu wallen. Kein Wunder, denn allzu beachtlich waren die Darbietungen bei den vorangegangenen Besuchen bereits, als dass man von irgendeiner Enttäuschung ausgehen müsste. Vieles erinnert zudem nach wie vor an die guten, alten Zeiten unter Josef Bauer: sei es das unverwechselbare Interieur oder die Gestaltung der Speisekarte, die aus einer Handvoll Gerichten à la carte und einem Überraschungsmenü mit derzeit bis zu fünf Gängen besteht. Nach wie vor ist diese auch nicht im Internet einsehbar – das nennt man wohl gelebte Kontinuität!
Ich entscheide mich diesmal für eine viergängige Auswahl à la carte (ca. € 70), weil ich einen Gang, den ich beim letzten, nicht dokumentierten Besuch verkosten durfte, unbedingt nochmals erleben möchte, solange er noch auf der Karte steht – dazu gleich noch mehr. Ins Glas lasse ich mir als Apéritif einen alkoholfreien Eins-Zwei-Zero vom Weingut Leitz im hessischen Geisenheim einschenken (der Ort, an dem einst Nils Henkel vor Corona auf Burg Schwarzenstein ganz groß aufkochte) und bekomme dazu ein kaltes Gurkensüppchen mit geräuchertem Aal vorgesetzt. Abgeschmeckt mit Pfeffer und einem Hauch Meerrettich, kann dieser rustikale Einstieg sowohl mit feiner Würze als auch geschmacklicher Tiefe punkten und läutet gefühlt schon den Frühsommer ein. Wer übrigens an dieser Stelle das ikonische Zwiebeltörtchen vermisst (so wie ich), dem sei gesagt, dass dieses Apéro künftig wohl nur noch in der kälteren Jahreszeit aufgetischt werden wird. Der unveränderten Brotauswahl widme ich diesmal kein Foto – wen’s interessiert, der darf gerne in früheren Rezensionen stöbern (siehe unten).
Dann ist es soweit: das bereits vor ein paar Wochen schon einmal georderte Rindertatar ist der neueste Geniestreich aus der Feder – pardon, dem Kochtopf – von Michael Vogel. Die raffinierte und höchst stimmige Verfeinerung mit Kräutern, Zwiebeln, Dill und essbaren Blüten überwältigt mich regelrecht, doch sind es die weiteren Details, die das Ganze erst richtig außergewöhnlich machen: zusätzlich zum gut sichtbaren Matjes gelangen noch ein animierend-scharfes Sorbet von Jalapeño und etwas Schnittlauchöl auf den Teller. Während mit der erstgenannten Komponente der Regler mal so richtig aufgedreht wird, schafft das Öl eine stimmige Verbindung zwischen den herzhaften Zutaten, die eine vorzügliche Balance zwischen Salinität und Würze einnehmen. In Verbindung mit der mineralischen Frische des Tatars wird daraus ein grandioses Meisterwerk und eines der besten Gerichte, das ich je in einem „sterne-freien“ Lokal genießen durfte. Die Konkurrenz ist groß, aber ein Kandidat für meine Menüfolge des Jahres ist dieser umwerfende Gang mit Sicherheit!
Kontrastprogramm dazu gibt es im nächsten Gang, denn das saisonale Süppchen von Bärlauch mit frittierten Croutons bringt wunderbar kräutrige und frühlingshafte Aromen ins Spiel. Im Vergleich zu Boris Rommels elegantem Beitrag zwei Wochen zuvor im Nobellokal Le Cerf ist diese Interpretation deutlich körperbetonter und auch etwas herber, aber im Grunde genommen erwartet man hier auch nichts anderes. Großartig schmeckt das trotz allem, zumal das Süppchen wirklich schön heiß ist – ein Umstand, der vor wenigen Jahren noch keine Erwähnung verdient hätte, doch in den letzten Jahren ist es anderswo zum Teil derart in Mode gekommen, selbst Hauptgerichte nur etwas über lauwarmer Temperatur zu servieren, dass man sich heutzutage selbst schon darüber freut! Das ist ein vergleichsweise schlichter, aber richtig starker Beitrag.
Wie Michael Vogel freimütig bekennt, gibt es bei den Hauptgerichten (und den Desserts) noch am meisten Probleme, weil die arbeitsintensiven Höhenflüge derzeit einfach mangels geeignetem Personal noch nicht zu stemmen sind. Heißt übersetzt: man findet hier jede Menge Gerichte auf der Karte wie Roastbeef oder Kalbsrahmgulasch, die sich wirklich wie ein simples und recht banales Wirtshausgericht lesen (nur eben in viel besserer Qualität) und so manchen Gast sicherlich gerade deswegen anlocken. Ich dagegen lasse mir einfach eine etwas größere Portion einer Vorspeise auf der Karte zubereiten und bekomme daher schön magere und marinierte Kalbszunge vorgesetzt. Das weißliche Hirn in der Panade dagegen ist am ehesten mit Kalbsbries zu vergleichen, gerät aber noch weicher von der Konsistenz und cremiger. Zusammen mit der Salatgarnitur von Mairübli und marinierten Kräutern, unter denen Liebstöckel dominiert, bekommt dieser Hauptgang trotz der Schlichtheit in der Präsentation große Ausdruckskraft – ein echtes Plädoyer für die in den letzten Jahrzehnten immer seltener gewordenen Innereien.
Im Sinne einer erstrebenswerten Nachhaltigkeit und gegen die Verschwendung sollte diese Praxis ohnehin wieder häufiger in den Küchen Einzug halten, zumal geschmacklich damit keinerlei Abstriche verbunden sind. Im Gegenteil: ich behaupte, dass man ahnungslosen Gästen diesen Teller ohne Weiteres hätte vorsetzen können und es ihnen geschmeckt hätte – zumindest solange wie man sie nicht einweiht, was sich darauf befindet! Aus meiner Sicht ist dies jedenfalls ein großer und schnörkelloser Genuss, der darauf beruht, die besten Eigenschaften eines Produkts zu erkennen und diese ins bestmögliche Licht zu rücken – was hier der Fall ist.
Das Pré-Dessert besteht diesmal aus einem Passionsfruchtespuma mit Müsli: dank des fruchtig-intensiven Geschmacks (für einen Schaum recht bemerkenswert) wird durchaus ein beachtlicher und unkomplizierter Genuss mit Nachhall am Gaumen. Schön!
Einer der größten Klassiker aus vergangenen Tagen ist der bewährte Quarkflan, der hier immer wieder in neuen Kombinationen zelebriert wird. Diesmal umspielen eingelegter Rhabarber und Vanilleeis das wie immer schlichte Dessert, das freilich ohne die große Raffinesse der Vorgänger auskommen muss und den Besuch dennoch angemessen abrundet. Ein Stück von der wie immer zum Ende offerierten Apfel-Mandel-Torte (ohne Foto, siehe frühere Beiträge) schlage ich natürlich ebenfalls nicht aus …
Wenn man bedenkt, mit welchen Widrigkeiten dieses Lokal nach wie vor zu kämpfen hat, dann mutet es umso erstaunlicher an, zu welchen Höhenflügen Michael Vogel zumindest punktuell in der Lage ist. In der sicheren Gewissheit, selbst bei einfacher gehaltenen Gerichten stets noch ein wirklich vorzeigbares Niveau vorgesetzt zu bekommen, lässt es sich hier ganz zwanglos und ohne entsprechende Garderobe speisen. Noch immer scheint es hier Gäste zu geben, die tatsächlich zum ersten Mal vorbeischauen und ob der gezeigten Parade in regelrechte Begeisterungsstürme ausbrechen. Verständlich ist es, denn selbst dem erfahrenen Gourmet, als den ich mich inzwischen doch ganz gerne bezeichnen würde, hat dieses Lokal noch immer etwas Neues zu bieten. Jedenfalls habe ich trotz mehrerer Besuche pro Jahr bisher weder unter Josef Bauer noch unter Michael Vogel ein Menü gegessen, das nur aus mir schon bekannten Gerichten bestanden hätte. Umgekehrt bedeutet dies natürlich nicht, dass man sich an keinen Wiederholungen freuen würde, denn Josef Bauers Klassiker wie die Kombination von roter Bete mit Blumenkohl und Ei oder die legendären Champagner-Kutteln möchte man auf keinen Fall missen – weshalb sie auch in weiser Voraussicht regelmäßig von Michael Vogel auf die Karte gesetzt werden. Selbiges trifft jedoch genauso auf die fast schon klassischen Kreationen von Michael Vogel zu, denn mein jüngster Besuch war nicht zuletzt von dem inspirierenden Gedanken beflügelt, das wenige Wochen zuvor verkostete Rindertatar nochmals erleben zu dürfen – und ich wurde nicht enttäuscht!
Dennoch gelingt es dem Chef trotz personeller Engpässe immer wieder souverän, genau abzuschätzen, was er sich zumuten kann und was nicht. Dies ist auch der Grund, weshalb mancher arbeitsintensive Klassiker aus der Zeit von Josef Bauer noch schmerzlich auf der Karte vermisst wird, doch mit seinen eigenen Akzenten kompensiert der junge neue Chef diesen Umstand ganz locker. Viele seiner Gerichte wirken so, dass man ihnen tatsächlich nur selten ansieht, wer denn nun der Urheber ist (auch ich bin natürlich nicht mit allen Bauer’schen Klassikern vertraut), und doch spielt es auch keine echte Rolle. Die zauberhafte Schlichtheit, die hier schon immer die besten Gerichte ausgezeichnet hat, wohnt praktisch allen Kreationen inne – ob nun neu oder alt. Insofern war ich von dem Tatar zu Beginn besonders überrascht, weil ich bisher nur ganz selten ein derart farbenfrohes Gericht in diesem Hause erleben durfte. Freilich ändert dies nichts daran, dass die Aromen in messerscharfer Klarheit und ohne jede Verkünstelung zutage treten. Außerdem dürfte sich der Einfluss eines so genialen Chefs wie Andreas Caminada, bei dem Michael Vogel unter anderem ausgebildet wurde, schwerlich als Nachteil erweisen. Sicher ist nur, dass der Adler wieder auf bestem Wege ist, zu ungeahnten neuen Höhenflügen anzusetzen. Gebannt verfolge ich die weitere Entwicklung und muss fast schon achtgeben, die Messlatte nicht zu hoch anzusetzen, wenn man alle zwei Monate hier einkehren kann – ein Privileg sondergleichen!
Dieses Lokal muss mit Sicherheit zu den besten Lokalen Deutschlands ohne Michelin-Stern gezählt werden. Dass die rote Gourmetbibel heuer dem Restaurant die ersehnte Auszeichnung verwehrte, überraschte mich einigermaßen – dennoch dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis es soweit ist. Bis dahin sehe ich mein Urteil insofern bestätigt, da der G&M in seiner inzwischen erschienenen jüngsten Ausgabe zwei rote Hauben vergibt und damit den Trend bestätigt, den Michael Vogel seit der Wiedereröffnung im Februar 2022 erkennen ließ. GUSTO und FEINSCHMECKER haben die Wiederauferstehung dieses legendären Landgasthofs ebenfalls schon zur Kenntnis genommen und leisten weiter Vorschub für einen höheren Bekanntheitsgrad. Die nicht üppig ausgestattete Ostalb wäre ohne diese Adresse kulinarisch gesehen jedenfalls erheblich ärmer.
Die sympathischen Betreiber, das gastfreundlich kalkulierte Preis-Leistungs-Verhältnis, das unverwechselbare Ambiente, die Abgeschiedenheit der Ostalb und eine leicht fassbare Küche voller Raffinessen – all das bekommt man hier geboten. Worauf warten Sie noch?!
Mein Gesamturteil: 17 von 20 Punkten
Landgasthof Adler
Ellwanger Str. 15
73494 Rosenberg
Tel.: 07967/513
www.landgasthofadler.de
Guide Michelin 2023: –
Gault&Millau 2022: –
GUSTO 2023: 7 Pfannen
FEINSCHMECKER 2023: 2,5 F
4-gängiges Menü à la carte: ca. € 90
======================================================================
„Das Große geschieht so schlicht wie das Rieseln des Wassers, das Fließen der Luft, das Wachsen des Getreides.“ (Adalbert Stifter)
UPDATE (Juli / September 2022)
Meiner Freude über die Wiedereröffnung dieses Lokals hatte ich ja schon bei meiner ersten Rezension hinreichend Ausdruck verliehen, selbst wenn nach wenigen Wochen natürlich noch nicht alles wie geschmiert laufen konnte. Schon der zweite Besuch nur wenige Wochen später ließ schon erste Fortschritte (auch im Service) erkennbar werden, doch spätestens mit den nächsten beiden Besuchen – die so eng beieinander lagen, dass ich sie zu einer einzigen Rezension zusammenfasse – wurde das gewohnte Niveau zu Zeiten von Josef Bauer praktisch schon wieder bestätigt. Erfreulicherweise finden die Stammgäste jetzt auch liebgewonnene Klassiker aus der damaligen Zeit auf der Karte, aber auch Neues und Eigenständiges aus der Küche von Michael Vogel.
Da fällt die Wahl trotz einer einigermaßen überschaubaren Karte schon mal schwer: soll man etwa Gerichte à la carte nach den eigenen Vorlieben zusammenstellen oder sich doch vom Überraschungsmenü verzaubern lassen? Ich entscheide mich zusammen mit meinen beiden Begleitern, die tatsächlich zum ersten Mal hier einkehren (ja, so etwas soll es auch noch geben!) für das Überraschungsmenü (vier Gänge zu € 80), habe aber schon den nächsten Besuch dabei im Hinterkopf, der nur wenige Wochen danach stattfinden sollte und dann einer Auswahl à la carte gewidmet sein soll. Die unerfahrenen Novizen gewöhnen sich natürlich ebenfalls schnell an das zwanglose, doch absolut unverwechselbare Ambiente und stehen bereit, sich davon zu überzeugen, ob der erfahrene Gourmet zu viel versprochen hatte oder nicht.
Los geht es natürlich wie immer wie mit dem Zwiebelkuchen, dessen Mundfülle selbst dann begeistert, wenn er einmal minimal schwächer als beim letzten Besuch ausfällt. Saftig sowie mit wunderbarem Schmelz ist und bleibt diese Visitenkarte ein nicht wegzudenkendes Ritual hier, dem man jedes Mal freudig entgegensehen darf – zumal im Herbst in der Vergangenheit bisweilen sogar noch ein Gläschen neuer Wein kostenlos dazu serviert wurde. Noch ist es nicht so weit, weshalb Sprudel mit Holundersirup einen würdigen Ersatz darstellt. Die Brotauswahl gerät ähnlich wie beim letzten Besuch, so dass ich mir ein Foto davon diesmal erspare und mich eher dem Gespräch mit meinen Kompagnons widme, da sie so einige Fragen an mich richten.
Beim ersten Gang muss ich unwillkürlich schmunzeln, weil ich nur wenige Stunden zuvor im Bildband der damaligen Aubergine von Eckart Witzigmann las, dass Terrinen (mit Ausnahme von Gänseleberterrinen) offenbar aufgrund ihres hohen Schwierigkeitsgrades von immer mehr Köchen gemieden würden – wohlgemerkt ein Statement von vor 25 Jahren! Ich grüble tatsächlich, wann ich das letzte Mal eine Terrine vorgesetzt bekommen habe, und was kommt nur wenige Stunden später auf den Tisch? Es ist eine meisterhafte Terrine von Lachs und Joghurt, die mit etwas Meerrettich-Schnee und Wildkräutern sommerlich leicht begleitet wird. Mich beeindruckt nicht nur das Handwerk und die für die Verhältnisse dieses Hauses fast schon gewagte Optik, sondern auch mit welcher Präzision die Aromen filigran in Szene gesetzt werden. Details wie der fermentierte Knoblauch oder die Tropfen von Knoblauch-Mayonnaise stellen weit mehr als nur entbehrliche Kleckse dar, sondern steuern wohldosierte Würze zu einem kleinen Meisterwerk bei, dessen Gelatine übrigens nichts mit der so häufig zu beobachtenden Minderwertigkeit bei diesem Produkt zu tun hat. Was für ein formidabler Auftakt!
Auch zu Zeiten von Josef Bauer zelebrierte man hier vereinzelt Gerichte, deren aromatische Kühnheit in solch einem ländlichen Rahmen regelrecht faszinierte – und das, obwohl die Teller dabei immer strukturiert und aufgeräumt wirkten. Ein besonders krasses Beispiel erleben wir im nächsten Gang, mit dem sich Michael Vogel für meine Begriffe so weit aus dem Fenster lehnt wie noch nie bisher: jedenfalls muss man sich auch erst einmal trauen, Zander mit Birne, Zwiebel und Kokosnuss zu paaren! Die nur leicht süßliche Brunoise der Birne stellt eine fast schon geniale Begleitung des perfekt gegarten Zanders dar, der durch die Kokossauce eine völlig ungewöhnliche, ja exotische und indisch anmutende Begleitung zur Seite gestellt bekommt. Dass Zwiebeln und Dill in diese geradezu abgefahrene Idee sogar noch stimmig und mit Mehrwert integriert werden können, stellt dabei die vielleicht größte Überraschung an diesem Gang gar – ein echt mutiges Statement, das die Küche hier setzt!
Bei den Hauptgerichten geht es oft etwas bodenständiger zu, doch dafür bekommt man mit etwas Glück Produkte vorgesetzt, die sowohl in einem „echten“ Sternerestaurant als auch in einem Landgasthof selten anzutreffen sind: in diesem Falle ist es Roulade vom Wildschwein aus eigener Jagd, was der Qualität allemal zugute kommt. Mit dem Wegfall langer Lieferwege hat das Fleisch die Chance, trotz seines herben Charakters bestens zur Geltung zu kommen: saftig, intensiv und durchaus herzhaft. Die Begleiter in Form von Spätzle und bunten Karotten könnten kaum schwäbischer geraten, doch die fluffigen Spätzle stellen genauso Extraklasse dar wie die variable und doch ideale Konsistenz der ansonsten kaum verfremdeten Karotten. Diesmal punktet die Küche mit souveräner Bodenständigkeit bei spürbarer Leidenschaft – eine Kunst, die längst nicht jeder beherrscht.
Ein Pré-Dessert in Form eines höchst schlicht dargebotenen Rosensorbets auf etwas Müsli (welches auch im hauseigenen Laden erworben werden kann) entpuppt sich als gekonnter Gaumenkitzler, dessen ausgeprägte Aromatik einmal mehr verblüfft.
Zum echten Dessert aktiviert die Küche dann den Klassiker-Alarm: endlich wieder mal den legendären Quarkflan mit Limette genießen dürfen! Schon zu Josef Bauers Zeiten einer meiner absoluten Lieblinge im Dessertbereich, darf ich hocherfreut zur Kenntnis nehmen, dass Michael Vogel und sein Team die DNA des Hauses bereits vollkommen verinnerlicht haben und dieses lauwarm interpretierte Meisterwerk von superber Konsistenz derart überzeugend in Szene setzen als hätte es hier nie eine Kunstpause von mehr als fünf Jahren gegeben! Dazu reicht man selbstverständlich gemäß der Tradition das ikonische Holundersüppchen mit Himbeeren und Sauerrahmeis – und perfekt ist die Nostalgie! Meine Begleiter sind inzwischen auf Wolke Sieben entschwebt, und auch mir fällt es schwer, angesichts dieser Ehrerbietung an den Meister die Fassung zu wahren, obwohl ich dieses Gericht natürlich schon mindestens dreimal unter Josef Bauer verkosten durfte. Ganz ehrlich: meinetwegen könnte dieses Dessert immer im Sommer aufgetragen werden! Wer braucht schon Experimente, wenn er so ein elegantes und schlichtes Dessert vorzeigen kann, dessen Größe praktisch nur auf seiner außergewöhnlichen geschmacklichen Qualität beruht?
Den würdigen Ausklang bildet wie schon beim letzten Besuch das kostenlos angebotene Stück Apfel-Mandel-Torte, dessen Würdigung in bebilderter Form hiermit nachgereicht sei. Nicht zu süß, von traumhafter Qualität und makelloser Zubereitung – was will man mehr?!
Längst ist der Funke auf meine Begleiter übergesprungen, doch im Gegensatz zu ihnen genieße ich den Vorteil, dass mein Wohnort erheblich näher an dieser Veste des guten Geschmacks liegt als deren Zuhause und mir regelmäßige Besuche somit leichter fallen – ein Umstand, von dem ich nur wenige Wochen später schon wieder weidlich Gebrauch mache.
Es ist inzwischen Anfang September, doch noch immer schaufelt ein Hoch drückende Hitze nach Süddeutschland und heizt dem Lokal somit ganz schön ein. Das kann mich jedoch nicht abhalten, denn die Vorfreude auf einen weiteren Klassiker (hoffentlich steht er noch auf der Karte!) lässt meinen Puls schon wieder in die Höhe schnellen. Höchst spontan entscheide ich mich, mit dem Vorlauf von nicht einmal einer Stunde hier anzurufen, mich (erfolgreich) nach einem freien Tisch zu erkundigen und reise sofort an. Diesmal soll es eine persönliche Zusammenstellung sein …
Kaum angekommen, stelle ich überrascht fest, dass das Lokal noch verwaist ist und sich nicht sonderlich viele Gäste an diesem Nachmittag auf die Ostalb „verirren“ werden – offenbar hat sich entweder die Qualität oder die Wiedereröffnung des Lokals noch nicht herumgesprochen! Von der Ehefrau des Chefs erfahre ich im Laufe des Mittags, dass unlängst drei junge Biker an einem Samstagabend – in erster Linie auf der Suche nach einem Nachtquartier – hier einkehrten und offenbar keine Ahnung hatten, welchen Zufallstreffer sie soeben gelandet hatten. Ein einziges Abendessen hier genügte dann schon, um ihnen das Versprechen zu entlocken, dass sie wiederkommen würden!
Ich entscheide mich diesmal für vier Gänge à la carte, lasse aber später das Dessert doch weg, da mein recht reichhaltiges Frühstück an diesem Morgen verhinderte, dass ich nur wenige Stunden danach vier Gänge schaffen würde. Doch selbst drei Gänge haben noch jeden Besuch hier gelohnt, so dass ich mein Kommen auf keinen Fall bereue. Nach den obligatorischen Einstimmungen (Brot und Zwiebelkuchen) und einem Apfel-Kirsch-Saft freue ich mich auf ein neues Gericht, das im Grunde genommen mit drei Komponenten auskommt: der Thunfisch wurde zunächst in geröstetem Sesam gewälzt und dann knapp gebraten, so dass er innen schön glasig und außen saftig gerät. Die wuchtige Teriyakisauce passt wunderbar dazu, doch wird sie gleichzeitig bewusst von Sellerie in zweierlei Varianten in ihrer Wirkung etwas relativiert: die Crème links und die Salatgarnitur zur rechten verfehlen ihre Wirkung nicht und schaffen einen harmonischen, doch präsenten Kontrast in diesem neuen Gericht, das mehr als vorzeigbar gerät. Ein großer Wurf gleich wieder zu Beginn!
Eine sichere Bank ist auch das nächste Gericht, ein Klassiker zu Zeiten von Josef Bauer. Wer mit Innereien auf Kriegsfuß steht, wird möglicherweise keinen Gefallen daran finden, doch alle anderen erkennen in dieser kulinarischen Visitenkarte zurecht einen Gang der ganz besonderen Art, stellt er doch den Hauptgrund für meine diesmalige Einkehr ein: Champagner-Kutteln mit Morcheln, Zwiebeln und Aal mag für Neulinge gewöhnungsbedürftig sein, doch unter Connoisseuren gilt dieser Gang schon lange als eines der bekanntesten Gerichte in diesem Lokal. Die dünn geschnittenen Kutteln werden gedämpft und unter Zugabe des Zwiebelsuds mit Streifen von gekochtem Aal stimmig gepaart. Mit etwas Morcheln und leicht gebratenem Rosmarin wird daraus fraglos ein recht herbes und keineswegs gefälliges Gericht, das aber andererseits zeitlos bleibt. Es ist wohl kaum vermessen zu behaupten, dass in Zukunft fast zwangsläufig mehr Innereien im Sinne der Nachhaltigkeit auf den Tisch werden kommen müssen, da der achtlose Umgang mit verwertbaren Teilen des Tieres schon viel zu lange geduldet wird. Hier hat man quasi schon vorgesorgt!
Zum Hauptgang genehmige ich mir einen schwäbischen Wirtshausklassiker: es stimmt, dass man aus einem so profanen Gang wie einem Kalbsrahmgulasch in einem Lokal mit Sterneanspruch wohl nicht viel Ansprechendes zaubern kann ohne das Gericht dabei zu entstellen, aber dann widmet die Küche ihre Aufmerksamkeit eben eher der Beilage, einer leicht gratinierten Bramata (auch als Polenta bekannt). Man scheut sich hier jedenfalls nicht, eher simple Gerichte gleichberechtigt neben Artistischem zu präsentieren – was zählt, ist letztlich die Qualität und ob es die Gäste honorieren. Das Ergebnis kann sich sehen lassen, denn ganz nebenbei gelingt es der Küche ohne jede Aufregung, auch aus einem so einem profanen Gericht noch das Maximum an geschmacklichem Potential herauszuholen.
Den angemessenen Abschluss des verkürzten Mahls bildet diesmal als nette Variante ein großartiges Stück Birnentorte von vorzüglicher Qualität.
Es geht voran in dieser so grundsympathischen und heimeligen Adresse, ohne die die Ostalb fraglos um ein gutes Stück ärmer wäre. Die gröbsten Widrigkeiten wie akuter Personalmangel konnten offenbar durch Anwerbung von ersten jungen Lehrlingen schon etwas abgefedert werden, und auch die zu Beginn noch fehlende Selbstverständlichkeit ist inzwischen längst einer Sicherheit verleihenden Routine gewichen. Inzwischen beschäftigt man sich hier eher mit Fragen nach einer passenden alkoholfreien Begleitung oder nach der richtigen Balance zwischen Klassikern und neuen Kreationen – ein sicheres Zeichen dafür, dass die Basics inzwischen sitzen.
Michael Vogel ist natürlich ein hochprofessioneller Koch (anders würde man wohl kaum bei Andreas Caminada im Dreisterner Schloss Schauenstein eine Chance bekommen, dort arbeiten zu dürfen) und lässt den Gast die Leidenschaft für seinen Beruf absolut spüren. Das Handwerk sitzt ohne erkennbare Fehler, die Aromenbilder sind meist recht direkt, aber auch kraftvoll und ausdrucksstark ohne jede falsche Scheu. Die Entwicklung einer eigene Handschrift ohne gleichzeitige Vernachlässigung des hauseigenen Credos mag die größte Herausforderung darstellen, doch auch dieser Aufgabe widmet sich Michael Vogel mit seinem Team schon mit sichtbarem Erfolg. Wobei: das Ende der Fahnenstange scheint mir noch lange nicht erreicht!
Auch küchentechnisch hat inzwischen eine neue Souveränität Einzug gehalten, die das schon bei der Premiere angedeutete Niveau im Februar inzwischen mühelos bestätigt. Wenn man hier erst einmal voll durchstarten kann, dann sind selbst die 18 Punkte, die Josef Bauer seinerzeit vom G&M in schöner Regelmäßigkeit verliehen bekam, fraglos machbar. Die Entwicklung geht absolut in die erstrebenswerte Richtung, so dass man den engagierten Betreibern unbedingt wünscht, dass ihr Engagement noch stärker honoriert werden möge. Sollten größere Rückschläge in naher Zukunft ausbleiben, darf sich die Ostalb wohl auf viele weitere Jahre mit gehobener Esskultur freuen! Höchste Zeit also, dass die Profiguides Farbe bekennen und ihrer nächsten Ausgabe ein Zeichen setzen – auf welches ich schon sehr gespannt bin …
Mein Gesamturteil: 17 von 20 Punkten
Landgasthof Adler
Ellwanger Str. 15
73494 Rosenberg
Tel.: 07967/513
www.landgasthofadler.de
Guide Michelin 2022: –
Gault&Millau 2022: –
GUSTO 2022: 7 Pfannen
FEINSCHMECKER 2022: –
4-gängiges Menü à la carte: ca. € 80
======================================================================
„Ein Leben ohne Freuden ist wie eine weite Reise ohne Gasthaus.“ (Demokrit)
UPDATE (April 2022)
Gleichsam Phönix aus der Asche ist ja erst vor wenigen Monaten der Landgasthof Adler in Rosenberg wieder auferstanden – und es dürfte unter Insidern kaum ein Landgasthaus gegeben haben, dessen Wiedereröffnung stärker herbeigesehnt wurde als in diesem Fall. Kein Wunder: wo gibt es noch scheinbar normale Hausmannskost wie Königsberger Klopse oder Wiener Schnitzel zu derart anständigen Preisen und auf einem Niveau, von dem die meisten noch nie etwas geahnt zu haben scheinen? Die Antwort lautet: im hintersten Winkel der Ostalb, irgendwo zwischen Stuttgart und Nürnberg. Dass dieser vom Weltgeschehen vergessene Ort überhaupt von Reisenden – und das auch noch mit Freuden, Herr Demokrit! – angesteuert wird, ist praktisch ausschließlich das Verdienst dieser legendären Institution. Hier, in einer denkmalgeschützten ehemaligen Poststation aus dem 14. Jahrhundert, zaubert neuerdings der aus Oberrot stammende Michael Vogel ganz im Sinne seines legendären Vorgängers Josef Bauer am Herd weiter. Während bei den Rahmenbedingungen die gute alte Zeit konserviert worden zu sein scheint (knarzende Dielen, niedrige Decken usw.), wird das Kulinarium selbst immer dezent der Gegenwart angepasst. Schon unser erster Besuch vor wenigen Wochen geriet ausgesprochen animierend und weckte sehnlichst in uns den Wunsch nach baldiger Wiederholung.
Gesagt, getan – und so stehen wir an einem sonnigen Samstagnachmittag erneut vor dem Eingang des wuchtig an der Hauptstraße gelegenen grünen Gebäudes und steigen die Treppe empor, wo uns die unverwechselbare und trotz giftgrüner Wände heimelige Gaststube empfängt. Dass das einstige Niveau angesichts gerade einmal derzeit zweier Mitarbeiter in der Küche noch nicht erreicht werden kann, sei an dieser Stelle natürlich ausdrücklich verziehen. Bekanntlich ist aller Anfang schwer, doch so mancher professionell aufkochende Zeitgenosse würde sich für sein eigenes Lokal sicherlich einen derart gelungenen Neustart wie im Adler herbeisehnen. Der Historie des Hauses habe ich übrigens schon bei meiner letzten Rezension eine ausführliche Würdigung gewidmet, die untenstehend zu finden ist.
Auch diesmal wird unser Besuch mit dem legendären Stück Zwiebelkuchen eröffnet, das selbst dann, wenn es einmal – wie diesmal – nicht ganz so überragend wie beim letzten Mal gerät, freilich immer noch eine wahre Wonne ist. Wegen Details zur Brotauswahl sei ebenfalls auf meinen letzten Bericht verwiesen.
Einen weiteren Gruß gibt es zwar nicht, doch angesichts der mehr als günstigen Preise auf der Speisekarte ist dieses winzige Menetekel mit der Bestellung einer kleinen Vorspeise als Kompensation leicht zu beheben. Wer hier beispielsweise vier Gänge (à la carte oder als Überraschungsmenü) zusammenstellt, kommt derzeit inklusive alkoholfreier Getränke auf einen Betrag von zirka € 100 und damit auf einen Wert, von dem deutsche Großstädter nur träumen können. Da meine Wahl beim letzten Ma(h)l auf das Menü fiel, entscheide ich mich diesmal für eine individuelle Zusammenstellung – nicht zuletzt deshalb, weil einer der großen Klassiker von Josef Bauer diesmal auf der Karte steht. Später mehr dazu …
Speziell die Vorspeise erweist sich einmal mehr als echte Offenbarung: sie kommt locker ohne Schauwerte aus, denn angesichts ihrer überragende Qualität muss keine Komponente vom Wesentlichen ablenken: die praktisch perfekte Lachsforelle ist unfassbar mürb und zugleich saftig. Da braucht es nur etwas Kohlrabicrème und ein paar Kohlrabitaschen mit einer Füllung von Kartoffelmousseline (fast vergleichbar mit dem überragenden Vertreter aus dem Hertog Jan in Belgien), die mit etwas Dill und Pfeffer vorzüglich gewürzt werden. Angesichts des herausragenden Handwerks und der perfekten aromatischen Balance kommen wir zu dem Ergebnis, dass uns auch ergreifende Schlichtheit ohne Luxusprodukte in schiere Entzückung zu versetzen vermag. Ohne jede Übertreibung ein grandioser Teller!
Weiter geht es mit dem Hauptgrund für meine Wahl à la carte: dieser Klassiker von Josef Bauer war seiner Zeit weit voraus und stellt für mich bis heute einen unumstößlichen Beleg dafür dar, dass der ehemalige Chef von nicht wenigen Kollegen als geistig frischer wie manch halb so alter Star am Herd eingeschätzt wurde. Unter der gelierten, lauwarmen roten Bete findet sich eine Art Pudding, in dem hauchdünne Späne von gehobeltem und kurz frittiertem Blumenkohl versteckt sind. Hinzu gesellt sich natürlich auch das gut versteckte, wachsweich pochierte Ei, das diesem vegetarischen Gang seinen unverwechselbaren Schmelz verleiht. Dennoch sollten auch die Salzkristalle obenauf in ihrer Wirkung nicht unterschätzt werden, runden sie diesen zeitlosen und dennoch modernen Klassiker doch bestens ab. Das darf auch gerne als zukunftsweisend bezeichnet werden: zugleich regional, vegetarisch, gesund, bekömmlich und immer wieder einfach ausgezeichnet.
Laut Aussage des Chefs gehen die größten Probleme derzeit mit Personalmangel und dem Bezug entsprechender Produkte einher. Dennoch gebe ich unumwunden zu, dass ich persönlich mit einem halb so guten Ergebnis beim Hauptgang zufrieden gewesen wäre, hätte ich am Herd gestanden. Ein Profi wie Michael Vogel zaubert freilich auch aus Roast Beef (habe ich das jemals in einem Sternerestaurant bekommen?!) ein extrem saftiges Stück Fleisch mit geschmälzten Zwiebeln, das mit etwas markiger Barbecue-Tapinade und Petersilienwurzelcrème begleitet wird. Hinzu kommen noch separat gereichte Quarkpizokel (eine Referenz an Michael Vogels ehemaligen Chef Andreas Caminada im Schweizer Drei-Sterne-Restaurant Schloss Schauenstein, denn diese Spezialität stammt aus Graubünden) und ein federleichter Flammkuchen mit Zwiebeln und Frischkäse. Über die Wahl der Begleiter durch die Küche und damit die Stiltreue ließe sich eventuell noch debattieren, aber über deren Qualität sicherlich nicht: trotz aller Widrigkeiten ist man hier wieder auf bestem Wege, der legendären Reputation vergangener Tage vollauf gerecht zu werden. All das, was diese Kultstätte schon immer ausgezeichnet hat, findet sich auf diesem Teller: Verzicht auf Chichi und teure Viktualien, dafür geschmackliche Tiefe und eine schlichte Präsentation, die keinen Gast überfordert. Einfach zauberhaft!
Bei den Desserts hält dann häufig der ultimative Purismus Einzug – so auch diesmal, wenn harmlos klingende Komponenten wie Schokoküchlein und Buttermilcheis miteinander liiert werden. Drücken wir es vorsichtig aus: das mag nicht der Höhepunkt des Tages gewesen sein, aber überdurchschnittlich schmeckt das allemal. Wer übrigens unbedingt meint, einmal bei Vincent Klink in der Stuttgarter Wielandshöhe einkehren zu müssen, wird höchstwahrscheinlich ähnlich einfach gehaltene Desserts erhalten, die aber schwächer abschneiden und dafür mehr kosten. Dass gerade einmal zwei Küchenangestellte in Rosenberg nicht in der Lage sind, zwanzig Gäste pausenlos am Anschlag bewirten zu können, leuchtet wohl jedem ein. So endet diese Menüfolge nicht gerade mit einem Knalleffekt, doch nach den vorangegangenen Eindrücken ist man fast schon froh, auch mal einen weniger intensiven Ausklang vorgesetzt zu bekommen. Wobei: komplett Feierabend ist noch nicht, denn ich müsste wahnsinnig sein, würde ich das kostenlos angebotene Stück Apfel-Mandel-Torte (ohne Foto) verschmähen, das so manchem Konditor die Grenzen aufzeigen dürfte.
Nach gut zwei Monaten sind die Anlaufschwierigkeiten im Service zwar noch spürbarer als diejenigen in der Küche, doch Fortschritte gibt es auch hier zu vermelden. Noch wirkt unter den jungen Damen nicht alles eingespielt und routiniert, doch in einer Location wie dieser sieht man darüber auch mal leichter hinweg als beispielsweise in einem mondänen Zwei-Sterne-Haus. Apropos Sterne: leider reichte den Inspektoren des Guide Michelin die Zeit für einen Besuch vor dem Redaktionsschluss der Ausgabe von 2022 wohl nicht mehr. Das hätte sich natürlich als eine weitere wertvolle Starthilfe erwiesen, doch schon jetzt haben die Stammgäste ihre Kultstätte längst wieder für sich entdeckt und sorgen so für ein reichlich frequentiertes Haus selbst unter der Woche.
Der Küche fehlt schon nicht mehr viel zu den 18 Punkten im Gault&Millau, welche die Arbeit von Josef Bauer über Jahre hinweg würdigten. Mit einer noch größeren Produktauswahl und vor allem mehr Personal würden sich sicherlich noch einige weitere Möglichkeiten auftun, doch mehr als beachtlich ist das derzeitige Ergebnis schon jetzt. Da diese Institution gefühlt praktisch vor meiner Haustür liegt, kann es keinen Zweifel geben, dass ich weiterhin der Stammgast bleiben werde, der ich seit 2012 gewesen bin. Gerne dürfen Sie mir nacheifern, denn damit kann man wahrlich nicht viel falsch machen – meine Begleitung konnte ihrerseits auch schon einige Nachahmer auf ihre Seite ziehen. Bei dieser grundsympathischen Adresse kann jeder nach seiner Façon glücklich werden – und das zu unfassbar günstigen Preisen!
Mein Gesamturteil: 17 von 20 Punkten
Landgasthof Adler
Ellwanger Str. 15
73494 Rosenberg
Tel.: 07967/513
www.landgasthofadler.de
Guide Michelin 2022: –
Gault&Millau 2021: –
GUSTO 2022: –
FEINSCHMECKER 2022: –
4-gängiges Menü à la carte: ca. € 80
=====================================================================
„Einfachheit ist das Resultat der Reife.“ (Friedrich Schiller)
Februar 2022
Als im Oktober 2016 die Schließung eines Landgasthofs in einem baden-württembergischen Örtchen namens Rosenberg mit gerade einmal 2.500 Einwohnern verkündet wurde, hätte dieser Umstand in einem gewöhnlichen Fall wohl kaum mehr als ein leises, mediales Blätterrauschen in der lokalen Presse verursacht. In diesem Fall hingegen wurde darüber sogar in der Neuen Zürcher Zeitung berichtet! Was mag nur dazu beigetragen haben, dass diese scheinbar so belanglose Nachricht aus einem verschlafenen Nest am äußersten Rand der Ostalb solche Wellen schlug, dass sie sogar in der Schweiz registriert wurden?
Nun, der stattliche Landgasthof Adler in Rosenberg galt unter Kennern bis zu seiner Schließung im Oktober 2016 fast einhellig als bester Landgasthof Deutschlands. Dass man in diesem Dorf, irgendwo zwischen Ellwangen an der Jagst und Schwäbisch Hall gelegen, reichlich Gäste aus Norddeutschland, Österreich und der Schweiz in geradezu selbstverständlicher Regelmäßigkeit antreffen konnte, war einzig und allein das Verdienst dieser legendären Institution. Als Chefkoch Josef Bauer in den 1970er-Jahren den elterlichen Betrieb übernahm, deutete noch nicht viel auf die bahnbrechende Entwicklung hin, die dann Mitte der 1980er-Jahre allmählich an Fahrt aufnehmen sollte. Nach und nach formte Josef Bauer seinen Gasthof zu einer Spitzenadresse um, in welcher Hochküche mit der gleichen Souveränität wie Kässpätzle, Zwiebelrostbraten oder Königsberger Klopse zelebriert wurde – in einer geradezu beispiellosen Qualität, von der die meisten Gäste bis dato noch nie etwas geahnt hatten. Selbst beim Großmeister der molekularen Küche, dem Starkoch Ferran Adrià, bildete sich der stets bescheiden auftretende Chef weiter, auch wenn davon letztlich keinerlei Einflüsse in seinem eigenen Werk zu finden waren. Mit unnachahmlicher Hingabe kreierte Josef Bauer bis zuletzt neue Gerichte – selbst bei meinem letzten Besuch, als der Chef bereits 73 Lenze zählte, gab es noch trotz etwa zwei Dutzend Besuchen zuvor mir unbekannte Gerichte. Das Maß an geistiger Durchdringung und Frische hätte manchen halb so alten Koch vor Neid erblassen lassen können!
Leider scheiterten vor sieben, acht Jahren sämtliche Versuche, einen Nachfolger für das Lokal aufzubauen, so dass Knall auf Fall im Oktober 2016 das unerwartete Aus kam. Zwar führten Josef Bauer und seine Frau Eva-Maria den Gasthof als Herberge mit Frühstück noch weiter, doch mit der Hochküche war es nun vorbei – umso schöner dann im letzten Winter die Ankündigung, dass der aus dem nur 40 Kilometer entfernten Oberrot stammende Koch Michael Vogel den Betrieb zusammen mit seiner Frau übernehmen würde. Ein gänzlich Unbekannter war der Chef nicht, hatte er doch schon 2015 ein Jahr lang unter Josef Bauer am Herd gestanden. Es folgte eine weitere höchst prominente Station in der Vita des neuen Chefs vor der Rückkehr in die Heimat: das Weltklasselokal Schloss Schauenstein im Schweizer Fürstenau bei Andreas Caminada.
Wie würde sich das Lokal nun präsentieren? Ein Vergleich soll die Antwort geben: als die Krimiserie Columbo im Jahre 1989 nach zwölfjähriger Unterbrechung wieder aufgenommen wurde, stellten sich die Fans natürlich ebenfalls die Frage, welchen Columbo sie nun zu sehen bekommen würden. Die Antwort lieferte Peter Falks erster Auftritt in der neuen Staffel: er sitzt hinter dem Steuer seines alten Peugeot, trägt seinen Regenmantel, raucht Zigarre und lauscht nostalgischer Musik. Nach wenigen Sekunden war jedermann klar, dass der Inspektor dem Publikum ganz genauso präsentiert werden sollte wie sie ihn zuvor im Gedächtnis behalten halten.
Beim Betreten des Adler musste ich umgehend an die oben geschilderte Begebenheit denken, denn die Zeit schien einfach angehalten und konserviert worden zu sein: man steigt die knarzende Treppe hoch und tritt dann in die nach wie vor grasgrün gestrichene Stube ein, in der noch immer das Kruzifix in der Ecke und die Standuhr ausharren. Dazu gesellt sich eine ikonische Inneneinrichtung im Bauhaus-Stil mit blau gestrichenen Stühlen und blanken weißen Tischen. Zusätzlich prangen weiterhin die bunten Gemälde von Obst- und Gemüsesorten im Pop-Art-Stil an den Wänden – es kann keinen Zweifel geben, dass alles ganz genau so wie früher weitergeführt werden soll. Das ist auch gut so, denn die DNA des Hauses, die Gäste von weit her anlockte, hatte schon immer maßgeblichen Anteil an der Unverwechselbarkeit. Lediglich das Personal, das seinerzeit vor allem aus der Riege von Marie-Luise Bauer und Hildegard Brenner bestand, war nicht mehr dasselbe, denn mehr als vier Jahrzehnte Dienst in dieser Institution gingen natürlich nicht spurlos an ihnen vorbei. Beide Damen genießen inzwischen den sowas von verdienten Ruhestand; Familie Bauer wohnt allerdings nach wie vor auf dem Anwesen und lässt sich selbstverständlich hin und wieder bei den Gästen blicken.
Auch an der Küchenphilosophie hatte sich scheinbar nichts geändert, denn los geht es wie immer mit dem hocharomatischen Stück Zwiebelkuchen, das optisch nicht harmloser geraten könnte, aber in seiner geschmacklichen Intensität bereits eine eigene Eloge rechtfertigen würde. Unversehens ist die alte, nostalgische Stimmung wieder zu spüren – nicht nur bei mir, sondern auch bei meiner Begleitung, die das Lokal ebenfalls vor der Schließung noch kennenlernen durfte. Wir tauschen kurz einen Blick aus und sind uns einig, ohne ein Wort dabei zu sagen: ganz groß, genau so wie damals!
Auch bei der Präsentation des Brots haben es die neuen Betreiber nicht gewagt, irgendetwas an der Ausrichtung zu ändern: speziell die zwei ikonischen Schälchen Salz und Pfeffer mit den winzigen Löffeln, die von einer der Töchter Josef Bauers entworfen wurden, gehören hier zur jahrzehntelangen Tradition. Die Qualität der Beigaben (insbesondere die Röstzwiebel-Butter) spricht zudem wieder einmal für sich. Auch der Aperitif (Pflaumensaft mit Selters) lässt einen überdurchschnittlich intensiven Geschmack erkennen.
Ebenfalls in bester Adler-Tradition steht das Überraschungsmenü, das derzeit aus maximal vier Gängen zu € 80 besteht. Früher waren bis zu sechs Gänge üblich – und es ist ohne Weiteres denkbar, dass nach Überbrückung der ersten Startschwierigkeiten das Angebot schon bald weiter ausgebaut werden kann. Wem der Sinn nach Gerichten à la carte steht, der wird jedoch ebenfalls fündig.
Schnell wird klar, dass diese Menüfolge große Klasse aufzuweisen hat: der „Salat“ zum ersten Gang besteht lediglich aus Karotte, Zucchini, Chioggia-Rübe, Fenchel und einer Vinaigrette, doch die Konsistenz der Produkte harmoniert prächtig miteinander. Mittlerer Biss, ganz kurz geflämmter Fenchel von wunderbar zurückhaltender Aromatik und eingelegte Karotten formen hier einen ungeahnten, ja schwebenden Wohlklang – selten habe ich ein bemerkenswerteres Gericht mit derart schlichten, aber herausragend veredelten Produkten gegessen. Das ist hochartistisch umgesetzt und wirkt doch so simpel – willkommen in der Welt des Adlers!
Schon immer wurde die Mehrzahl der Gerichte im Adler in ergreifend schlichter Optik präsentiert. Deren Reiz beruht nicht auf oberflächlichen Effekten, sondern auf einer unfassbaren Verfeinerung, die die wahre Kunst hinter dieser Küche darstellt. Viele der Gerichte wirken hier fast beiläufig und geradezu alltäglich, doch ihre bemerkenswerte geschmackliche Intensität und die äußerste Wertschätzung selbst geringfügigster Details hieven sie in eine eigene Liga. Höchste Kunst zelebriert man hier nicht mit Tellerakrobatik und Luxusprodukten wie Kaviar, sondern mit den denkbar einfachsten Zutaten und einer bisweilen unfassbaren Veredelung.
Auch wenn der erste Teller in optischer Hinsicht für die Verhältnisse dieses Hauses geradezu gewagt anmutete, so liefert spätestens der zweite Gang das beste Beispiel für die obige Theorie: ein Kräuterraviolo wird lediglich mit einer Kerbelcreme gefüllt und mit Schnittlauch weiter aufgewertet. Umspielt wird das Ganze von einer herrlich schlotzigen braunen Butter – und fertig ist ein Gericht, dessen hohe Handwerkskunst bei genauem Verzehr tief beeindruckt. Hausgemachte Teige allerbester Qualität und schiere Präzision bei der Zubereitung reichen aus, um ein Ergebnis zu erzielen, das vielen Gästen so nicht geläufig sein dürfte.
Kein Brimborium, sondern einfach nur mustergültig zubereitete Produkte bestaunt man auch beim Hauptgang: wunderbar mürbe Ochsenbäckchen in einer tiefen Rinderjus bekommen als Begleiter nur Kartoffelterrine und Sellerie in zweierlei Texturen (Crème und geschmort) ab, doch die gefühlt fettfreie Terrine und die geschmackliche Dichte des Tellers machen auch aus diesem Hauptgang einen bemerkenswert guten Beitrag. Schlicht gehalten, aber tadellos umgesetzt!
Augenzwinkernde Desserts machen ebenfalls stets einen Teil des Reizes aus, der von diesem Gasthaus ausgeht: so auch Vanilleeis in Verveine-Jus mit Quarkbällchen. Deren fluffige Konsistenz trägt maßgeblich zum Genuss bei, der zum guten Schluss fast dasselbe Niveau wie die Gänge zuvor halten kann. Die Jus ist vielleicht einen Tick zu sauer geraten, aber alles in allem hätte dieses „Menü 2.0“ kaum typischer ausfallen können. Selbst der Verzicht auf die anderswo üblichen Petits fours wurde beibehalten!
Dass nach wenigen Tagen noch nicht alles perfekt funktionieren kann, wurde speziell bei der Leistung des Service deutlich. Was an Koordination und Feinabstimmung bisweilen noch fehlte, wurde durch die Herzlichkeit und Unkompliziertheit der Bedienung reichlich kompensiert. Das Bemühen war jederzeit erkennbar und dürfte schon bald in eine Souveränität übergehen, bei der nichts mehr an den leicht holprigen Auftakt erinnert.
Die Küche hat unter der Leitung von Michael Vogel die DNA des Hauses jedenfalls vollkommen aufgesogen und verinnerlicht. An den Grundfesten dieser Institution wurde in keinster Weise gerüttelt – und das ist auch gut so, denn die Gäste dürften mehrheitlich genau dies erwartet haben. Stammgäste dürfte das wuchtige grüne Gasthaus immer noch in stattlicher Zahl haben, denn spontan einen Platz zu bekommen erfordert nach wie vor etwas Glück. Ein Vorlauf von bis zu zwei Wochen bei der Reservierung sollte zumindest für betriebsame Zeiten eingeplant werden.
Auch die Küche hat selbstredend noch nicht ihr volles Potential abrufen können. Dennoch dürften mit der Zeit noch mehr Gelassenheit und Sicherheit einkehren, so dass die Speisekarte wohl schon bald noch etwas ausgebaut werden kann. Klassiker wie die Kombination aus Rote Bete, Blumenkohl und Eigelb standen schon jetzt auf der Karte, doch es dürften sich nach und nach etliche weitere dazu gesellen. Meiner Begleitung sagte es genauso gut zu wie mir, so dass weitere Besuche in naher Zukunft fest eingeplant sind. Ein keineswegs schlechter Anfang ist bereits gemacht, doch da geht bald bestimmt noch mehr! Nächstes Jahr dürfte der Michelin-Stern jedenfalls im Bereich des Möglichen sein!
Mein Gesamturteil: 17 von 20 Punkten
Landgasthof Adler
Ellwanger Str. 15
73494 Rosenberg
Tel.: 07967/513
www.landgasthofadler.de
Guide Michelin 2021: –
Gault&Millau 2021: –
GUSTO 2022: –
FEINSCHMECKER 2022: –
4-gängiges Überraschungsmenü: € 80