Neuhof am See, Gundelfingen an der Donau (UPDATE)

„Der Edle kümmert sich nicht darum, wenn ihm die Anerkennung vorenthalten wird; denn er ist damit beschäftigt, Dinge zu tun, die Anerkennung verdienen.“ (Konfuzius)

UPDATE (Februar 2020)

Immerhin hat es dieser Geheimtipp nun auch erstmalig in den Gault&Millau mit der Einstiegsnote von 13 Punkten geschafft. Das gut versteckte und eher unwirtlich zwischen Kiesgruben gelegene Areal sollte gerade im Winter durch seine Lage gestraft sein, doch offenbar reicht die Reputation des Hauses dennoch aus, um an einem regnerischen Februarabend unter der Woche das Lokal ganz gut zu füllen. Das mit dem „Bib Gourmand“ des Guide Michelin und mit 6,5 Pfannen im GUSTO ausgezeichnete Lokal wagt eine gelungene Synthese aus äußerlich bescheiden anmutendem Landgasthof, aber innen erstaunlich mutig aufkochendem Lokal. Dabei sei zwar festgehalten, dass die Gerichte à la carte nicht dasselbe Format wie die siebengängige Menüfolge erreichen, aber letztere reicht bereits aus, um das Lokal zur ersten Adresse der weiß Gott nicht mit herausragenden Etablissements gesegneten Gegend zu machen. Chefkoch Hendrik Ketter feilt hier unablässig an seinem Kulinarium, auch wenn die ganz großen Auszeichnungen ihm bislang noch verwehrt geblieben sind. Schon bei meinem ersten Besuch im August 2018 blitzte allerdings das Potential des Chefs mehr als nur einmal auf. Insofern war ich gespannt, was sich hier seither getan hatte.

Auffällig geriet zunächst einmal die Tatsache, dass die Preise nicht signifkant angezogen hatten: das siebengängige Menü kostete mit € 106 sage und schreibe drei Euro mehr als vor anderthalb Jahren. Von solch geringen Preissteigerungen können Gäste in anderen Lokalen nur träumen! Die Serviceleitung unter der Mutter des Kochs ist absolut herzlich geblieben und verdient fast schon das Prädikat „familiär“, zumal man sich an mich hier noch gut erinnern konnte – offenbar habe ich (womit auch immer) bleibende Eindrücke hinterlassen. Etwas reduziert dagegen gerät das Rahmenprogramm, wie im Laufe des Abends deutlich wurde. Natürlich fiel meine Wahl trotz des üppigen Angebots à la carte auch diesmal auf das Menü, das ich allerdings wegen erhöhter Sättigung später auf sechs Gänge reduzierte.

Zum Einstieg mit PriSecco Nr. 21 von Jörg Geiger (Birne, Apfel und Heublume) tischt man ein aromatisches Karottensüppchen, ein Ziegenkäsemousse mit roter Bete und einen Cracker mit gebeiztem Saibling auf – nicht sehr kompliziert, aber dennoch charmant. Die Brotauswahl punktet weniger durch die gewöhnlichen Brotsorten, sondern vor allem durch die gereichten Crèmes aus Tandoori und Kartoffel, die eine tolle Ergänzung zu salziger Butter und Olivenöl darstellen.

Als Entrée tischt man isländischen Saibling auf, der in einem leichten Bratenfond schwimmt. Umspielt wird er dabei von krosser Hühnerhaut, Saiblingskaviar und Texturen von Kohlrabi – was zunächst wie eine ungestüme Mischung klingen mag, erweist sich als gewagtes, aber durchaus herzhaftes und inspiriertes Konstrukt. Lediglich die Haselnüsse, die auch als Crème auf den Teller gelangen, harmonieren nicht wirklich und sind meines Erachtens entbehrlich – ansonsten ein originelles Gericht, bei dem allenfalls die aromatische Balance noch etwas Luft nach oben aufweist.

Auch dem vegetarischen Einschub liegt eine mutige Idee zugrunde: im Mittelpunkt des Tellers steht frittierter und gehobelter Sellerie, der von einer leichten Parmesansauce begleitet wird. Für geschmackliche Vielfalt sorgen gebeiztes Eigelb und – weniger subtil – frittierte Kapern. Das Fazit fällt ähnlich wie beim ersten Teller aus: eine faszinierende Idee, die durch mehr geistige Durchdringung und vorsichtigere Balance noch erheblich an Profil und Geschmack gewinnen könnte.

Es folgt ein weiterer Fischgang, der zu den durchdachtesten Tellern des Abends gehört: isländischer, leicht geflämmter Skrei thront auf einem Bett aus Nussbutter und Speckwürfeln von Kalbszunge. Durch die gemüselastige Begleitung mit Topinambur und Seefenchel bekommt der Hauptdarsteller mehr Facettenreichtum, wenngleich der Teller auf keinen Fall hätte voller geraten dürfen. Ein anderer Ansatz wäre hier vielleicht mit mehr Fokussierung auf die Produktqualität verbunden gewesen, doch auch die dargebotene Variante erwies sich als launige und schmackhafte Inszenierung.

Besonders intensiv der Gang vor dem Hauptgericht: Gänsehals „nose to tail“ kommt hier mit wenig, aber dafür intensiven Begleitern auf den Teller. Unter einem frittierten Blatt von Schwarzkohl (eine kleine Hommage an ein fast vergessenes Produkt) findet sich sauer eingelegte Umeboshi: die winzigen Würfel der japanischen Salzpflaume sind umwickelt mit einem Blatt des Schwarzkohls und stellen einen grellen Kontrast zu den intensiven Röstaromen des Fleischs dar. Zusammengehalten wird das Ganze von einer herzhaften, asiatisch inspirierten Sauce, deren Namen mir nicht geläufig war und daher meinen Notizen entging. Das Risiko der Überfrachtung wurde hier gekonnt vermieden, wenngleich die eingesetzten Aromen recht disparitätisch wirkten.

Beim Hauptgericht erhöht sich die Zahl der Komponenten zwar wieder, aber diesmal sind die verwendeten Produkte ausgesprochen gut erkennbar und wohldosiert, so dass der Teller in puncto Gestaltung weitaus strukturierter geriet als die Beschreibung erahnen lässt. Flanke und Nacken vom Schwein wird in einem angenehm engen aromatischen Spektrum unkompliziert, aber wirkungsvoll mit Harissa, Linsen, Kartoffelbällchen und Saubohnen begleitet. Das einzige etwas schwerer zu identifizierende Element auf dem Teller dürfte ein Hanfchip gewesen sein. So oder so rundet eine präsente Bratensauce den eher schlichten, aber durchaus beglückenden Hauptgang ab, der allenfalls ein wenig rustikal gerät.

Als Nachtisch (wie eingangs erwähnt entfiel auf Wunsch das zweite Dessert) zaubert die Küche eine von der Anordnung auf dem Teller her fast wie zufällig anmutende Kreation: Apfel, Mandel und Vanille tummeln sich in großer textureller Vielfalt (Eis, Sorbet, Crème) scheinbar beliebig und ausgelassen auf dem Teller, während Filoteig und Schmand den Unterhaltungswert noch erhöhen, weil manche Textur kunstvoll eingebettet oder versteckt werden kann. Überraschenderweise – das kommt schließlich nicht so oft vor – geriet das Dessert zum Höhepunkt des Abends, weil die launige Darbietung voller Überraschungen steckte und dennoch keinen Gast auch nur annähernd verstört hätte. So wird diese Eingebung zumindest hinsichtlich des Designs zu einer entfernten Hommage an Massimo Botturas berühmtes Dessert in der dreifach besternten Osteria francescana in Modena mit dem programmatischen Namen „Oops! I dropped the lemon tart!“.

Die Ausklänge wurden gegenüber früheren Zeiten dagegen erheblich reduziert – vermutlich waren Personalmangel oder zu große Mengen an übrig gebliebenen Dingen der Grund dafür, dass man heuer mit einer Crème brûlée und einem Dominostein mit weißer Schokolade und Cassis Vorlieb nehmen musste.

Die mutige, teils überbordende Ästhetik wirkt auf Erstbesucher dieses Lokals einerseits sicherlich fordernd, andererseits aber auch wohltuend jenseits des Mainstreams. Was Chefkoch Hendrik Ketter hier auf die Teller bringt, ist stets von einer klaren Idee durchdrungen, während die Ausführung derselbigen noch nicht immer gleichermaßen überzeugend gelingt. Unterm Strich pflegt man hier einen recht experimentellen Stil an der Grenze zum Crossover, der manchmal bessere und andermal weniger gelungene Ergebnisse zeitigt. Unterm Strich geriet zwar mein Premierenbesuch vor allem wegen des unvergesslichen Wagyu-Hauptgangs (siehe untenstehenden Bericht) noch bemerkenswerter, doch auch die zweite Stippvisite hatte trotz durchaus unterschiedlicher Eindrücke eine Menge zu bieten. Die überraschend frische Herangehensweise, die so gar nichts mit bieder Landhausküche zu tun haben will, ist die große Trumpfkarte des Hauses, für die die Gäste ja eben eigens anreisen. Service, Preise und Rahmenbedingungen passen hier absolut zusammen, so dass diese entzückende Adresse durchaus noch mehr Aufmerksamkeit verdient.

Wie dies in Zukunft genau aussieht, ist derzeit allerdings schwer vorherzusagen, denn Ende Februar eröffnet Chefkoch Hendrik Ketter das Restaurant Nose&Belly in Augsburg. Verständlicherweise trägt der Chef und Pächter in Personalunion damit auch den veränderten Gegebenheiten Rechnung, da beispielsweise der Biergarten des Neuhof am See bereits 2019 wegen Personalmangels das ganze Jahr über geschlossen bleiben musste. Hendrik Ketter dürfte daher bald nicht mehr am Herd des Neuhof zu finden sein und wird sein Glück in einer attraktiveren Gegend mit noch mehr aufgeschlossenem Publikum suchen. Wie die genauen Pläne für den Neuhof aussehen (z.B. ob ein neuer Koch kommt), entzieht sich dabei meiner Kenntnis. Es wäre jedenfalls mehr als schade, wenn diese Adresse verloren ginge – ganz gleich, ob nun ein neuer Spitzenkoch gewonnen werden kann oder das Angebot auf Normalniveau reduziert werden muss.

Mein Gesamturteil: 14 von 20 Punkten

 

Neuhof am See
Äußere Günzburger Straße 1
89423 Gundelfingen an der Donau
Tel.: 09073/958690
www.neuhof.de

Guide Michelin 2019: —
Gault&Millau 2020: 13 Punkte
GUSTO 2020: 6,5 Pfannen
FEINSCHMECKER 2020: —

7-gängiges Menü: € 106

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August 2018

Am Horizont tauchen bereits die Kühltürme des Atomkraftwerks Gundremmingen auf: ungefähr auf halber Strecke zwischen Günzburg und Dillingen an der Donau gelegen befindet sich dieses Gasthaus, irgendwo versteckt im Nirgendwo zwischen Seen und Kiesgruben. Gut fünf Kilometer außerhalb von Gundelfingen gibt es hier im Sommer jede Menge Schwimmer, Radfahrer oder Wasserskifans, die in einer nahegelegenen Anlage hier ihrem Vergnügen nachgehen können. Ein guter Teil der Gäste dieses Lokals sucht bei der Einkehr hier folglich eher den Biergarten und eher selten das Gasthaus auf. Dabei hätte dies durchaus einiges zu bieten, denn etliche klassische Gerichte sind unkompliziert à la carte zu bestellen und kosten nicht signifikant mehr als anderswo. Reges Treiben herrscht hier außerdem im Sommer, weil an den meisten Wochenenden im Seehaus, das ebenfalls zur Anlage gehört, eine Hochzeit gefeiert wird. Können all diese Erwerbszweige allen Ernstes nebenher die Etablierung einer Hochküche gestatten? Genau das will ich herausfinden, denn ich gebe unumwunden zu, dass ich ohne den Geheimtipp eines Bekannten niemals hier aufgekreuzt wäre, da dieses Lokal derzeit nur im GUSTO erwähnt und dort mit 6,5 Pfannen bewertet wird. Der Guide Michelin listet es wenigstens als sogenanntes Bib-Gourmand-Restaurant (eine Auszeichnung für Lokale mit gehobener Küche und Hauptgerichten unter € 35), während der Gault&Millau und der FEINSCHMECKER es bislang völlig ignorieren.

Punkt 18.00 Uhr setzt ein Wolkenbruch ein, nachdem es praktisch zuvor den ganzen Tag sonnig gewesen war. Ich eile gerade noch trockenen Fußes in die Gaststube und werde sogleich zu Tisch geleitet. Die Einrichtung des Lokals ist recht modern für einen Landgasthof, aber keineswegs unangemessen oder übertrieben. Klare und kantige Formen bestimmen das Erscheinungsbild, und die blanken Holztische sind lediglich mit einer Lasur überzogen. Ansonsten findet sich außer dem Besteck, den Gläsern, der Serviette und dem Brotteller nichts weiter an Schmuck auf dem geräumigen Tisch.

Ich ignoriere die Gerichte à la carte und entscheide mich stattdessen für das volle siebengängige Menü, in dem die Meisterschaft des Chefkochs Hendrik Ketter angeblich am besten zum Tragen kommen soll. Der geforderte Preis von € 101 ist einerseits erfreulich, verringert aber andererseits natürlich nicht gerade meine Skepsis darüber, ob dieses Menü etwas taugen kann. Legen wir also los mit einem selbst kredenzten Cocktail aus Salatgurke, Limette, Mineralwasser und Basilikum-Gel (erfrischend, obgleich fast einen Tick zu süß), zu dem die Grüße aus der Küche gereicht werden: eine leicht süßliche Gazpacho von grüner Paprika, ein Buchweizencracker mit Ente, Gurke und einem Schuss Weißweinsauce, eine Schmorfleischpraline mit einem Tupfen Yuzu obenauf sowie ein Tartelette mit Johannisbeere und Kresse – allesamt recht ordentlich, aber noch nicht den Besuch rechtfertigend. Die Brotauswahl lässt mich bereits ein wenig aufhorchen: immerhin drei hausgemachte Brotsorten (selbst das ist heutzutage beileibe keine Selbstverständlichkeit mehr in vielen anderen Lokalen) und dazu dreierlei Aufstriche – gesalzene Butter, Kartoffelmayonnaise und Schnittlauchdip. Dazu genehmige ich mir noch einen Frucht-Secco (Apfel, rote Johannisbeere und Himbeere) aus dem Hause van Nahmen, denn bei den Nebenkosten kann man sich dieses Vergnügen durchaus leisten.

Gebratene Langostini und Pressack vom Kalb mit Passionsfrucht und Kokos klingt schon beim Lesen gewagt und stellt sich auf dem Teller als genau dies heraus. Diese Surf-’n‘-Turf-Kombination ist meines Erachtens allein schon wegen der sperrigen zwei Grundprodukte, die irgendwie nichts miteinander zu tun haben wollten, problematisch. Dem Problem wurde versucht hier entgegenzutreten, indem Kokosnuss in allen denkbaren Texturen (Schmand, Gel und Sud) zusammen mit einer Prise Show in Form von geeisten Passionsfruchtkugeln eine Verbindung zwischen den zwei Hauptdarstellern herstellen sollte. Leider gelang dies nicht wirklich, denn wegen der überdeutlichen Präsenz der Kokosaromen drängten sich diese in den Vordergrund und ließen dem ohnehin schon spärlich dosierten Pressack keine Chance zur Entfaltung. Völlig missraten war das Gericht nicht – und ich zolle dem Chef auch Respekt für seinen Mut, gleich zu Beginn eine für einen Landgasthof sehr moderne Komposition zu kreieren. Dennoch passierte hier auf dem wenig durchdacht wirkenden Teller einfach zu viel, ohne dass das grundsätzliche Problem gelöst worden wäre.

Schnell wurde es jedoch besser: confierter Topinambur mit Roggen, Sauerklee und Ampfer erwies sich als ein ganz starkes vegetarisches Gericht. Hier war der Hauptdarsteller mit drei Präsentationsformen (lauwarme Stücke, gepufft und als Sud) völlig im Mittelpunkt des Tellers, obwohl er keineswegs zurückhaltend begleitet wurde. Dieser Gang hatte angenehmen Biss und spielte virtuos mit Temperaturen und Konsistenzen, ohne dabei im Entferntesten den Geschmack zu vernachlässigen. Die erdigen Aromen blieben noch lange im Gedächtnis haften und erweckten in mir den Eindruck, dass auch der deutsche Gemüsetempel schlechthin, das Nürnberger Essigbrätlein, gerne diesen Teller für sich beanspruchen würde.

Wammerl vom Schwertfisch mit Shiitakepilzen, grünem Meerrettich und Stockfischbrandade wagt einen Ausflug in fernöstliche Aromenwelten. Bereits das aus meiner Sicht ultra-seltene Ausgangsprodukt ist bemerkenswert, aber dessen Inszenierung noch weit mehr: der als harmlos anmutende Tupfen verteilte Meerrettich bringt die Papillen ganz schnell auf Betriebstemperatur und bittet zu einem hinreißenden Spiel mit der eleganten säuerlichen Schärfe des Shiitake-Suds, der wirkungsvoll mit Finger Limes, auch bekannt als Limettenkaviar, versetzt ist. Die Grundprinzipien der asiatischen Aromenklaviatur beherrscht Ketter jedenfalls im Schlaf – ein weiterer absolut überzeugender Gang.

Es folgt eine originelle Darreichung des nächsten Gangs: Pluma vom Iberico-Schwein mit Gurke, Papaya und Achiote. Vier hauchdünne Tranchen des Schweinefleischs werden auf einem Brett nebeneinander drapiert und dazwischen mit Tupfen von Achiote (ein rötliches, scharfes mittelamerikanisches Gewürz) nicht nur optisch, sondern auch geschmacklich gewinnbringend verziert. Auf einem weiteren Brett befinden sich vier Schälchen, die es dem Gast nach Gusto ermöglichen das Fleisch wahlweise mit lauwarmen Salatgurkenkugeln, einer Erdnussmayonnaise, gepuffter Papaya oder krosser Haut des Schweins zu paaren. Das hat Stil und vermag ebenfalls kräftig zu punkten.

Zu meiner nicht geringen Überraschung kommt vor dem eigentlichen Hauptgericht ein Prolog, der allerdings zum Hauptgericht gehört. Shabu shabu ist ein japanisches Fondue und wird hier fast schon auf luxuriöse Weise zelebriert: in einem Schälchen befinden sich vier hauchdünne Tranchen Wagyu sowie Eigelb, Enoki-Pilze und Kapuzinerkresse. Dies wird anschließend mit einem Oxtail-Sud aufgegossen. Auf einem zweiten Schälchen gibt es noch ganz nebenbei einen Mini-Sandwich mit Kalbsherzbries und etwas Zwiebel obenauf. Welch ein Luxus! Ganz nebenbei frage ich mich angesichts des Produkteinsatzes allmählich: wie viel kostet dieses Menü nochmals?

Schließlich ist der große Moment, auf den ich mich den ganzen Abend bereits freute, gekommen: Neuhof Rossini (i.e. mit einer Geflügelleber, meist allerdings eher als Füllung): Hüfte vom Wagyu-Rind mit Kai-lan, Sellerie und Entenleber. Während Wagyu in vielen Sternerestaurants meist mit der Lupe auf dem Teller gesucht werden muss, gibt es hier zwei perfekt rosa gebratene und gut sichtbare Tranchen von Wagyufleisch. Auch wenn es sich dabei „nur“ um die Hüfte und nicht um das Filet handelt, so bleibt festzuhalten, dass die sensationelle Produktqualität und die vollendete Inszenierung dieses Gerichts mich schlicht überwältigt haben. Die Gänseleber wird quasi à part in einem Röllchen, das zudem mit etwas kleingeschnittener Sellerie gefüllt ist, gereicht, während Kai-lan (chinesischer Brokkoli) und vereinzelte Tupfen von Selleriecrème das Wagyufleisch optisch ansprechend umrahmen. Trotzdem bleibt die Optik sogar nach dem Aufgießen eines kräftigen Suds immer noch ungemein puristisch, was vom Geschmack erst recht behauptet werden kann. Nichts, aber auch wirklich gar nichts, lenkt hier vom puren, vollendeten Fleischgenuss ab – ein absolut göttliches Gericht! Ketter liefert hier nicht nur eine beeindruckende Visitenkarte seines Könnens ab, sondern entwirft auch gleichzeitig ein Plädoyer dafür, dass es nicht immer gleich das Filet sein muss. Ich frage mich, was Ketter wohl erst aus dem Filet gezaubert hätte! Spätestens jetzt ist mir klar, weshalb ich den Weg nach Bayrisch Schwaben auf mich genommen habe …

Der Abend ist schon jetzt gerettet – da stört es mich auch nicht im Geringsten, dass das erste Dessert wieder ein wenig abfällt: Aromen von griechischem Joghurt, Safran, Fenchel und Pistazie wirft die berechtigte Frage auf, welches Produkt eigentlich der Hauptdarsteller dieser Kreation ist. Der Joghurt jedenfalls findet sich in eingedickter Form als dünne Schicht ganz unten auf dem Teller und in fester Form als hauchdünne Scheiben. Das Zentrum des Tellers nimmt ein dunkelgelbes Safraneis ein, das auf ziemlich bunte Weise von weiteren Scheiben von Fenchel und Pistaziensponges umspielt wird. Keine der Komponenten schmeckt per se schlecht, aber dieses Dessert entbehrt ganz einfach einer klaren geschmacklichen Aussage. Das überaus dominante Eis will mit seinen Begleitern nur wenig zu tun haben, und so kommt es nicht von ungefähr, dass auch dieser zweite Ausflug in die Moderne nach dem Einstieg mich nur bedingt überzeugt.

Das Finale stellt wieder ein Eis in den Mittelpunkt, diesmal von Eisenkraut (!). Trotzdem gelingt dieses Dessert besser, weil die Begleiter Aprikose, Sesam und weiße Schokolade einfach besser harmonieren. Durch verschiedene Texturen gewinnt die Aprikose an Gewicht, während mit Sesam ummantelte Kugeln von weißer Schokolade einen interessanten geschmacklichen Kontrapunkt zum Eis setzen. Alles andere als ein harmloser Ausklang, aber trefflich gelungen.

Zum guten Schluss werden die Bon-bons der Patisserie als Bauchladen eines Mitarbeiters der Patisserie präsentiert. Es spricht übrigens für die Qualität und die Leichtigkeit des an diesem Tag dargebotenen Menüs, dass ich mir ohne jedes Völlegefühl immer noch sieben (gar nicht so kleine) Kleinigkeiten genehmige – darunter drei Macarons sowie eine superbe Crème brûlée, die mit bester Vanille hergestellt wurde und sogar mit dem Bunsenbrenner am Platz des Gastes erst karamellisiert wird!

Was war das für ein außergewöhnlicher Abend – und was für ein Tipp! Nur mit Mühe rufe ich mir immer wieder ins Gedächtnis zurück, dass dieses Haus noch keinen Michelin-Stern hat. Der Service, der im Grunde genommen nur aus der Chefin und einer weiteren recht jungen weiblichen Servicekraft besteht, hat jedoch alles bestens im Griff und lässt den Gast jederzeit spüren, dass er gerade in einem Landgasthof und nicht im altehrwürdigsten Ess-Tempel von Paris weilt. Das Verhalten besagter Kellnerin gegenüber den Gästen könnte man liebevoll fast schon als „schäkern“ bezeichnen – ich jedenfalls habe mich keine Sekunde lang unwohl gefühlt. Nimmt man noch die Nebenkosten hinzu, dann fällt es nicht schwer, hier einen ausgezeichneten Abend zu verbringen – zumindest dann, wenn man sich das Menü (das übrigens bis auf drei Gänge herunterreduziert werden kann) gönnt. Ich gehe davon aus, dass auch die Klassiker des Hauses das Niveau hoch halten, selbst wenn sich meine Einschätzung explizit nur auf das Menü bezieht: spätestens 2019 sollte meiner Meinung nach der erste Michelin-Stern überfällig sein, denn ansonsten gibt es keine Gerechtigkeit mehr. In der Sprache des Gault&Millau würde ich 16 Punkte vergeben. So oder so ist ein Besuch des Gasthauses, das abends von Mittwoch bis Sonntag sowie Sonntagnachmittag geöffnet hat, absolut lohnend. Dieses Lokal ist jedenfalls ein echter Gewinn für die in kulinarischer Hinsicht ansonsten nicht gerade überreich gesegnete Region.

Fazit: dies war summa summarum das beste Essen meines Lebens in einem Lokal ohne Michelin-Stern. Speziell an den Hauptgang mit dem Wagyu-Gericht werde ich mich noch, so Gott will, nach Jahren erinnern.